Schwarzweißbild von Demonstration 1989 © NDR

Friedliche Revolution in Greifswald: Mit Kerzen für mehr Freiheit

Stand: 22.10.2024 18:30 Uhr

Warum ist die Friedliche Revolution in Greifswald gewaltfrei verlaufen? Und was hat die Deutsche Volkspolizei im Herbst 1989 bewegt? Der ehemalige Greifswalder Volkspolizei-Chef Bernd Haase schildert seine Sicht auf die Geschichte.

von Inga Bork

"Warum sollte ich in Greifswald eine Demonstration untersagen? Den Mut hatte ich nicht, schlicht und einfach!" Bernd Haase redet Klartext. Obwohl er über die Friedliche Revolution in Greifswald offensichtlich nicht gerne redet. "Ist doch alles längst Geschichte", wiegelt er immer wieder ab. Dabei hat der vitale Rentner im Gespräch mit dem NDR 2014 viel zu erzählen: 1989 leitet er das Greifswalder Kreisamt der Deutschen Volkspolizei, zirka 400 Mann sind ihm unterstellt: Polizisten, Feuerwehrleute, der Betriebsschutz für das Kernkraftwerk Lubmin, die Mitarbeiter des Pass- und Meldewesens, die jeden Reiseantrag ins "nichtkapitalistische Ausland" sofort an die Staatssicherheit weiterleiten. Viel Macht für den damals 39-Jährigen. "Einfluss" - nennt es Bernd Haase Jahre später lieber.

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Volkspolizei-Chef aus Überzeugung

ein Original-Dokument zur Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei von Hinrich Kuessner, 1989 Vorsitzender des Stasiuntersuchungsausschusses. © Hinrich Kuessner, Greifswald Foto: Hinrich Kuessner, Greifswald
Die Sicherheitspartnerschaft mit der Deutschen Volkspolizei bei der Besetzung des Stasi-Kreisamtes in Greifswald am 4. Dezember 1989 lobte Hinrich Kuessner vom Untersuchungsausschuss der Stadt Greifswald als "hoffnungsvolles Erlebnis".

Dann fängt Bernd Haase doch an zu erzählen: von seiner Karriere im Sozialismus - vom Matrosen zum Leiter der Greifswalder Volkspolizei. Von seinem Parteibuch, das er nach dem Mauerfall abgeben wollte - "aus Enttäuschung über das heimliche Luxusleben der obersten Genossen. Und unsere Polizeiautos durften nachts höchstens 50 Kilometer weit fahren wegen des allgemeinen Benzinmangels". Er erzählt auch von seiner heimlichen Hoffnung, dass alles wieder in Ordnung käme nach der Grenzöffnung am 9. November, nachdem diejenigen gehen durften, die nicht mehr in der DDR bleiben wollten. Und von seinem ersten Westbesuch berichtet er: "Jetzt kann ich es ja zugeben: in Lübeck - eine Woche nach dem Mauerfall." Für Geheimnisträger wie Haase damals offiziell verboten. 

Honecker geht, die Demonstranten kommen

Noch 2014 hat der ehemalige Oberstleutnant um vieles ein Geheimnis gemacht: keine Namen ehemaliger Parteifreunde und Vorgesetzter bitte. Keine persönlichen Fotos. Wie ihm der Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Neues Forum zugespielt worden ist, kann, beziehungsweise will Bernd Haase auch nicht sagen. Ebenso wenig, wie er von den ersten Massenprotesten in Greifswald erfahren hat am Tag, als der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker von all seinen Ämtern zurückgetreten war. Nur so viel: "Schon gegen Mittag des 18. Oktober 1989 wussten die staatlichen Stellen, dass am Abend ein Protestzug durch die Innenstadt ziehen will - nach dem ersten Friedensgebet im Greifswalder Dom, bei dem das Neue Forum seine Ideen unters Volks bringen wollte."

Bewaffnet gegen Kerzenträger

Schwarz-weiß-Foto von Volkspolizei-Einsatz in Rostock © BStU-Außenstelle Rostock
Freie Bahn für Demonstranten: So wie hier in Rostock riegelt ab Ende Oktober 1989 auch die Greifswalder Volkspolizei Straßenkreuzungen während der friedlichen Massenproteste ab.

Als sich an jenem 18. Oktober gut 1.000 Greifswalder im Dom drängen, geht die Deutsche Volkspolizei draußen in Stellung. Auf dem Hof des Polizeigeländes warten "zirka 100 Mann in Demonstrationsausrüstung, bewaffnet mit Helm, Schild, Schlagstock und Dienstpistole", so Haase. Auch Maschinenpistolen hätten zur Ausrüstung jedes Volkspolizisten gehört, "Kampfsatz" inklusive. Also: mit vollem Magazin. "Die Maschinenpistolen wären gegen die Demonstranten aber nicht zum Einsatz gekommen", betont Haase. Darauf habe er sich mit der SED-Kreisleitung geeinigt. Auch der Einsatz bewaffneter Kampfgruppen sei nicht geplant gewesen: "Befehl von ganz oben, wohl aus dem Ministerium des Inneren in Berlin."

Haases Marschrichtung für die erste Massendemonstration: "Nicht einschreiten, solange weder Menschen noch staatliche Gebäude wie SED-Kreisleitung oder Rathaus angegriffen werden. In Leipzig oder Berlin hatten viel mehr Menschen protestiert. Mit welcher Begründung sollte ich in Greifswald diese Demonstration untersagen?" Dabei habe es den Befehl aus der Kreisleitung gegeben, den Demonstranten den Rückweg in die Innenstadt abzuschneiden. Doch der damalige Volkspolizei-Chef hält nach Rücksprache mit den Genossen still. "Niemand konnte schließlich abschätzen: Kommt es zu Tumulten? Werden Einsatzkräfte angegriffen? Und wie viele Polizisten sind überhaupt noch bereit, gegen friedliche Demonstranten vorzugehen?" Und so ziehen etwa 800 Greifswalder ungehindert am Greifswalder Polizeisitz vorbei - bewaffnet mit Kerzen und forschen Sprüchen für mehr Freiheit.

Sicherheitspartnerschaft und Mensa-Dialoge

Die Volkspolizisten verschaffen den Greifswalder Mittwochsdemonstranten sogar freie Bahn: riegeln Straßenkreuzungen ab, leiten den Verkehr um. Und probieren den Dialog mit den Bürgern - bei den "Mensa-Gesprächen" in der Universität. Ohne Polizeiuniform, in Zivil - "um nicht die Stärke der Staatsmacht zu demonstrieren", wie Haase erklärt. Auch am 9. November 1989: "Als in Berlin die Mauer fiel, sollte ich eigentlich die neuen Reisegesetze der DDR erläutern. Das hatte sich dann erledigt. Die Massen stürmten jubelnd aus der Mensa", erzählt er lachend. - Alarmstimmung bei der Greifswalder Volkspolizei am 4. Dezember 1989, nach einem Anruf der Staatssicherheit: Vor dem Eingangstor der Geheimpolizei in der Domstraße aufgebrachte Bürger, die wegen den qualmenden Schornsteine Einlass fordern. Sie befürchten, dass die Geheimpolizei belastende Akten vernichtet. Als Volkspolizei-Chef Haase mit seinen Kollegen anrückt, bietet sich ihm hinter dem Stasi-Tor ein chaotisches Bild: "Auf den Fluren lagen ausgerollte Wasserschläuche für eine mögliche Verteidigung bereit und im Keller der benachbarten Untersuchungshaftanstalt brannten Stasi-Akten im Heizungskessel", erinnert sich Bernd Haase.

Etwa eine Stunde wird im Beisein der Polizei verhandelt, dann dürfen die Greifswalder Bürger tatsächlich die Stasi-Zentrale inspizieren, Akten sichern und sichten. Tage später sammeln die Volkspolizisten auch die Waffen der Geheimpolizei ein. Wo sich die täglichen Polizei-Lageberichte an die Staatssicherheit inzwischen befinden, weiß Bernd Haase nach eigenen Worten nicht. Sicher ist nur: Nach einer Untersuchung der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern haben gut 20 Prozent aller Polizisten im Nordosten für die DDR-Geheimpolizei offiziell und inoffiziell gearbeitet.

Bernd Haase war bis zu seiner Pensionierung 2010 im Polizeidienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern, zuletzt als Chef der Polizeidirektion Anklam.

Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 08.12.2014 | 19:30 Uhr

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