Adolph Kummernuss (links), Erster Vorsitzender des Ortsausschusses des Deutschen Gewerkschaftsbundes Groß-Hamburg, spricht am 9. Mai 1947 zu Demonstranten vor dem Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof in Hamburg. © picture alliance / Heinz Bogler Foto: Heinz Bogler

Als Hunger die Massen auf die Straße trieb

Stand: 09.05.2022 05:00 Uhr

Im Frühjahr 1947 ist die Lebensmittelversorgung der Hamburger Bevölkerung an einem Tiefpunkt angelangt. Nach einem harten Winter in der Nachkriegszeit gibt es kaum noch Vorräte. 150.000 Menschen protestieren am 9. Mai gegen den Mangel.

von Janine Kühl

Über die Wintermonate sind die Lebensmittelrationen im Nachkriegs-Hamburg immer weiter geschrumpft: Nur noch 800 Kalorien pro Tag stehen dem "Normalverbraucher" Anfang Mai 1947 zu. Der Gewerkschaftsbund der Hansestadt mobilisiert angesichts dieser prekären Versorgungslage zu einem Proteststreik. 150.000 Hamburgerinnen und Hamburger folgen diesem Aufruf am 9. Mai 1947 - manche Quellen sprechen gar von 200.000 Menschen. Es ist die größte Demonstration in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch Angestellte, Hausfrauen und Studierende schließen sich den Protestzügen und der anschließenden Kundgebung auf dem Platz vor dem Besenbinderhof an.

Ausgelaugt nach Krieg und besonders kaltem Winter

Vor Ruinen ausgebombter Wohnhäuser in Hamburg stehen Behelfsheime, sogenannte Nissenhütten. © picture-alliance/ dpa Foto: Ulrich Mohr
Den knappen Wohnraum in der zerbombten Stadt müssen sich die Hamburger mit zigtausend Flüchtlingen teilen.

Die Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt haben einen langen und entbehrungsreichen Winter hinter sich. Es ist einer der kältesten Winter des 20. Jahrhunderts - und er trifft auf eine von den Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs völlig entkräftete Bevölkerung. Die Militärregierung geht von 1,37 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern aus, die im zerstörten Hamburg versorgt werden müssen. Darunter sind mehr als 70.000 Flüchtlinge vor allem aus den Ostgebieten. Die Wohnungsnot ist groß: Viele leben in Behelfsheimen wie den Nissenhütten, finden in Ruinen, Bunkern oder Kellern Unterschlupf.

Das Wirtschaftsgebiet Bizone entsteht

Schon im Dezember 1946 ist die Versorgungslage in Hamburg katastrophal. Henry Vaughan Berry, von 1946 bis 1949 britischer Zivilgouverneur in Hamburg, spricht von Zuständen wie "in napoleonischen Zeiten". Am Jahresende liegt die tägliche Kalorienzuteilung durch die alliierten Besatzer bei 1.550 Kalorien pro "Normalverbraucher", sie sinkt in den kommenden Wochen auf unter 1.000 Kalorien. Am 1. Januar entsteht aus der britischen und der US-amerikanischen Besatzungszone die "Bizone". Die Zusammenfassung zum "Vereinigten Wirtschaftsgebiet" weckt Hoffnungen auf eine positive Wirtschaftsentwicklung und eine damit einhergehende Verbesserung der Lebensbedingungen.

Briten und US-Amerikaner geben stückweise Verantwortung an die neuen Bizonen-Verwaltungsbehörden der Bereiche Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Finanzen sowie Post- und Fernmeldewesen ab. Diese Behörden bestehen aus deutschen Abgeordneten, von denen sich die Alliierten Fachwissen und Kenntnis der regionalen Gegebenheiten und damit eine effektive Verbesserung der Lage beispielsweise bei der Verteilung von Lebensmitteln erhoffen.

Weitere Informationen
Ein alter Mann nimmt 1946 an einer Mülltonne eine Mahlzeit ein. © picture alliance / akg-images Foto: Ursula Litzmann

Der "weiße Tod" im Hungerwinter 1946/47

Der Zweite Weltkrieg ist beendet, Deutschlands Städte sind zerbombt. Dann bricht der kälteste Winter des Jahrhunderts ein. Hunderttausende sterben. mehr

Massiver Kälteeinbruch führt Mangel 1947 ins Extrem

Doch Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Anfang Januar 1947 erschwert ein massiver Kälteeinbruch die Situation. Bei Temperaturen um minus 20 Grad Celsius verschlechtert sich die Energie- und Lebensmittelversorgung noch weiter. Die Vorratslager für Nahrungsmittel und Brennmaterial sind so gut wie leer. Hinzu kommt die anfällige Verkehrsinfrastruktur: Wegen der Energielücke und blockierter Verkehrswege verkehren Züge, Busse und Bahnen nur unregelmäßig.

Stilllegung von Betrieben wegen Kohlemangels

Der Mangel an Rohstoffen hat weitreichende Folgen: In einigen Stadtteilen wird der Strom zwischen 9 und 21 Uhr immer wieder unangekündigt abgeschaltet, da die Kohlekraftwerke der "Hamburgischen Electricitätswerke" nicht mit voller Kraft laufen können. Seit dem 21. Dezember 1946 sind mangels Kohle zum Heizen 640 Betriebe stillgelegt worden. Vielerorts öffnen Geschäfte nur noch vier bis fünf Stunden täglich. Mitte Februar steigt die Zahl der aufgrund der Energiekrise nicht mehr arbeitenden Betriebe auf 900. Rund 31.000 Beschäftigte arbeiten nicht mehr - und beziehen damit auch keine Lebensmittelkarten. Wer noch welche bekommt, muss oft stundenlang in eisiger Kälte anstehen.

"Schwedenspeisung" und Wärmehallen sollen die Not lindern

Menschen stehen im März 1946 in Hamburg für Lebensmittel Schlange. © picture alliance/Photo12
Im zerbombten Hamburg stehen Menschen im März 1946 Schlange, um Lebensmittel zu bekommen.

Wohlfahrtsverbände bieten warme Mahlzeiten für hungernde Hamburgerinnen und Hamburger - die sogenannte "Schwedenspeisung", finanziert aus schwedischen Spenden. Wegen fehlender Heizmöglichkeiten werden die Weihnachtsferien bis zum 15. Januar verlängert. Doch auch danach findet oft kein Unterricht an den Schulen statt. Theater und Kinos bleiben ebenfalls geschlossen. Mitte Januar richtet die Sozialverwaltung Wärmehallen ein, in denen sich die frierenden Bürgerinnen und Bürger etwas aufwärmen können. Die Universität verlängert die Semesterferien bis zum 15. April.

Kohlenklau: Zahl der Diebe vervielfacht sich

Die einzige Möglichkeit, an Kohlen zu kommen, ist meistens die Plünderung von Kohlezügen. Die Zahl der inhaftierten Kohlendiebe steigt rasant: von 1.000 im Dezember 1946 über 6.000 im Januar 1947 bis auf 17.000 im Februar. Am 15. Februar richtet Hamburgs Erster Bürgermeister Max Brauer (SPD) einen Appell an den verantwortlichen britischen General Brian H. Robertson, eine Hilfsaktion für Hamburg zu erlassen. Doch die Briten haben selbst Probleme mit der Kälte und mit Versorgungsengpässen zu kämpfen. Schneeverwehungen blockieren teilweise die Züge. Erst Ende Februar verbessert sich die Kohleversorgung in der Hansestadt. Bis dahin sind seit Anfang des Jahres etwa 73 Menschen in der Hansestadt erfroren, viele mussten mit schweren Erfrierungen ins Krankenhaus.

Schieber halten Lebensmittel zurück

Erst Anfang März steigen die Temperaturen in der Hansestadt langsam wieder über zehn Grad. Obwohl nun mehr Kohle und Gas vorhanden sind, gehen die Kohlendiebstähle weiter. Der Senat will gegen den florierenden Schwarzmarkt und organisierte Banden vorgehen, die auch eine gerechte Verteilung von Lebensmitteln verhindern. Spezielle Trupps der Polizei ermitteln gegen Lebensmittelschieber, die die ohnehin knappen Waren zurückhalten und die Preise in die Höhe treiben. Es kommt zu zahlreichen Verhaftungen und hohe Strafen.

Gewerkschaften für Sozialisierung von Schlüsselindustrien

Die Lage bleibt angespannt, insbesondere bei der Lebensmittelversorgung, denn die Vorräte aus der Vorjahresernte gehen zur Neige. In einem Forderungskatalog der Hamburger Gewerkschaften vom 28. März wird die Erhöhung der täglichen Lebensmittelration auf 3.000 Kalorien genannt, eine Sozialisierung der Grundstoffindustrien und die Mitbestimmung der Gewerkschaften in Fragen der Wirtschaft.

Weitere Informationen
Max Brauer, der Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, auf dem Balkon seines Hauses in der Palmaille in Hamburg. Aufnahme Ende der 1950er-Jahre. © picture alliance / Wilhelm Zander Foto: Wilhelm Zander

Vor 100 Jahren: Max Brauer wird Oberbürgermeister von Altona

1946 wird Brauer Hamburgs Erster Bürgermeister und treibt den Wiederaufbau energisch voran. mehr

800 Kalorien täglich: "Grenze des Erträglichen erreicht"

Bürgermeister Brauer warnt bereits in einer Senatssitzung im Frühjahr, dass die Grenze des Erträglichen in der Bevölkerung erreicht sei. Anfang Mai 1947 sind die Vorräte weitgehend aufgebraucht und die Lebensmittel so knapp geworden, dass die Rationen auf 800 Kalorien täglich gesunken sind. Es sei nur "dem besonnenen Verhalten der Gewerkschaften" zu verdanken, dass es noch nicht zu Unruhen gekommen sei, so Brauer. Im Mai treten die Beschäftigten von Blohm & Voss in einen Sitzstreik. Wenig später wird der Druck aus den Betrieben zu stark: Der Hamburger Gewerkschaftsbund ruft für den 9. Mai 1947 zu einem Proteststreik auf.

Sternmärsche zum Besenbinderhof

Arbeiter der Hamburger Werft Blohm und Voss marschieren am 9. Mai 1947 durch Hamburg. © picture-alliance / dpa Foto: dpa
Arbeiter der Hamburger Werft Blohm und Voss marschieren am 9. Mai 1947 zum Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof, um gegen die katastrophale Versorgungslage zu demonstrieren.

In Sternmärschen geht es an diesem Freitag zum Besenbinderhof, mit dabei viele Werftarbeiter von Blohm & Voss. Auf einem ihrer Transparente steht: "Wenn Junker regieren, herrscht die Not. Wenn Gewerkschaften führen, gibt es Brot." Auch Beschäftigte der Bavaria-Brauerei und des Asta der Universität erklären sich solidarisch. Denn die Probleme sind für alle gleich: Es fehlt an Wohnungen, Kleidung, Heizmaterial - und vor allem an Essen.

Gewerkschaften fordern Kontrolle

Die zentrale Forderung lautet: Hamburg soll zum Notstandsgebiet erklärt werden. Damit verbunden wäre der Anspruch, aus anderen Regionen bevorzugt mit Nahrungsmitteln beliefert zu werden. Außerdem fordern die Gewerkschaften, dass gehortete Lebensmittel der Bevölkerung zugeführt werden, die Gewerkschaften als Kontrollorgan bei der Verteilung eingesetzt werden und dass Schieber und Schwarzhändler vor ein Schnellgericht kommen.

Adolph Kummernuss: "Letzte Mahnung an die Welt"

"Diese Kundgebung ist die letzte Mahnung an die Welt, die Hilfe für Deutschland zu verstärken", so der verzweifelte Aufruf von Adolph Kummernuss, Vorsitzender der Hamburger Gewerkschaften, in seiner Rede vor dem Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. "Mit 800 Kalorien kann niemand arbeiten!", heißt es auf einem der vielen Plakate, die der katastrophalen Lage auf der bis dahin größten Nachkriegs-Demonstration Ausdruck verleihen.

Hamburg wird Notstandsgebiet

Sämtliche Fraktionen der Bürgerschaft unterstützen die Forderungen der Gewerkschaft, doch sie werden in kommenden Wochen nur teilweise umgesetzt. Zwar dürfen die Gewerkschaften Vertreter in die Prüfstellen für Lebensmittelversorgung entsenden, eigenständige Kontrollen sind ihnen aber nicht erlaubt. Am 24. Mai werden Hamburg und das Ruhrgebiet schließlich zu Notstandsgebieten erklärt, was eine bevorzugte Belieferung mit Lebensmitteln bedeutet. Doch auch danach erhalten Erwachsene in der Hansestadt lediglich 1.100 Kalorien pro Tag zugewiesen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln verbessert sich nur schleppend. Ein wenig Abhilfe verschaffen zusätzliche Getreidelieferungen aus den USA und CARE-Pakete.

Verwaltungsreform der Bizone

Die beiden Militärgouverneure Lucius D. Clay und Sir Brian Robertson einigen sich Ende Mai auf eine Reform der Bizone, die eine neue Verwaltungsstruktur und mit Frankfurt am Main eine neue "Hauptstadt" bekommt. Eine Koordinierungsbehörde soll fortan die Zusammenarbeit und Wirksamkeit der verschiedenen Verwaltungen verbessern, denen zudem mehr Kompetenzen zugestanden werden. So darf der Wirtschaftsrat nun einen eigenen Haushalt verabschieden - unter dem Genehmigungsvorbehalt der Militärbehörden. Auch US-Außenminister George C. Marshall drängt darauf, dass die Bizone so organisiert wird, dass sie sich möglichst bald selbst versorgen kann. Einen Dämpfer erhalten die Hoffnungen in die neue Bizonen-Verwaltung im Sommer. Dürre und Hitze führen zu massiven Ernteausfällen im Herbst - erneut ist die Lage angespannt.

Marshallplan und Währungsreform kurbeln Wirtschaft an

Mit den Marshallplan-Hilfen ab 1948 verbessert sich die Lage langsam - und der soziale Reformdruck nimmt damit ab. Die Gewerkschaften stimmen im Frühsommer 1948 dem European Recovery Program - so die offizielle Bezeichnung des Marshallplans - zu. Forderungen nach einer Sozialisierung der Wirtschaft treten zugunsten einer Verbesserung der Notlage wieder in den Hintergrund. Auch die Währungsreform im Juni 1948 trägt dazu bei, dass in den folgenden Jahren neue Kaufkraft entsteht und es ab den 50er-Jahren auch in Hamburg wieder aufwärts geht.

Illustration auf einem Plakat: Ein Schiff mit einem Segel, das aus vielen europäischen Länderflaggen besteht. © picture-alliance Foto: Leemage
AUDIO: Was war der Marshallplan? (2 Min)
Weitere Informationen
Sogenannte Trümmerfrauen entsorgen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Schutt mit Loren. © picture alliance / akg-images

Nachkriegszeit: Trauer, Trümmer, Teilung - und Aufbruch

Nach dem Krieg sind die deutschen Städte eine Trümmerlandschaft. Das Land wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt. mehr

Die konstituierende Sitzung der ersten frei gewählten Bürgerschaft in Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg. © picture alliance / dpa

Als die Hamburger endlich wieder wählen durften

Es ist der Beginn einer neuen Ära: Erstmals nach Kriegsende stimmt Hamburg am 13. Oktober 1946 wieder über die Bürgerschaft ab. mehr

Vor Ruinen ausgebombter Wohnhäuser in Hamburg stehen Behelfsheime, sogenannte Nissenhütten. © picture-alliance/ dpa Foto: Ulrich Mohr

1946: Hamburg führt Zuzugssperre ein

1946 leben die Menschen im zerstörten Hamburg auf engstem Raum. Weil täglich neue Flüchtlinge kommen, begrenzt die Stadt den Zustrom per Gesetz. Nur wer gebraucht wird, darf bleiben. mehr

Blick vom Kirchturm auf die zerstörte Innenstadt in Richtung Hafen nach den Luftangriffen auf Hamburg 1943 © Uwe Petersen Foto: Andreas Werner

"Operation Gomorrha": Feuersturm vernichtet Hamburg im Juli 1943

Die Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg erreichen in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 ihren Höhepunkt. Zehntausende sterben. mehr

Dieses Thema im Programm:

Unsere Geschichte | 04.01.2022 | 00:40 Uhr

Mehr Geschichte

Bertha Keyser, der "Engel von St. Pauli" © Hauptkirche St.Michaelis

60. Todestag von Bertha Keyser: Der echte "Engel von St. Pauli"

Bertha Keyser hat sich ein halbes Jahrhundert lang um Arme und Obdachlose in St. Pauli gekümmert. Am 21. Dezember 1964 starb sie. mehr

Norddeutsche Geschichte