1946: Hamburg führt Zuzugssperre ein
Frühling 1946: Seit einem Jahr herrscht Frieden in Deutschland. Aber die Städte sind zerstört. Millionen heimatloser Menschen suchen nach einer neuen Bleibe. So auch in Hamburg, wo ganze Stadtteile ausradiert, zwei Drittel der Wohnungen vernichtet worden sind. Im Durchschnitt hat hier jeder Einwohner nur noch vier Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. Häufig teilen sich sogar mehrere Menschen ein Bett. Deshalb tritt am 1. April ein Gesetz in Kraft, das den gewaltigen Zustrom begrenzen soll: Hamburg nimmt jetzt nur noch Menschen auf, die für den Wiederaufbau gebraucht werden.
Denn seit dem Vorjahr kommen täglich Tausende. Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern, ehemalige Zwangsarbeiter, befreite Häftlinge der Konzentrationslager, entlassene Kriegsgefangene und "Butenhamborger", die wegen der Bombenangriffe aufs Land geflohen waren.
Hunderte Flüchtlinge übernachten am Bahnhof
Viele Menschen sind nur auf der Durchreise. In der Sozialbehörde im Bieberhaus am Hauptbahnhof übernachten sie zu Hunderten auf den Korridoren, notdürftig versorgt. Aber die meisten wollen bleiben, erhoffen sich in der Großstadt Arbeit und Brot. Sie sind in Schulen, Kasernen, ehemaligen Zwangsarbeiterlagern und auf Wohnschiffen untergebracht. Oder einfach in Wohnungen einquartiert, vor allem in den weniger zerstörten Teilen Altonas und Eppendorfs, wo die Menschen zusammenrücken müssen.
Die drückende Enge hat Folgen, wie das Wohnungsamt meldet: "Es ist schon heute oft nicht mehr möglich, ansteckungsfähige Kranke (insbesondere offene TBC-Kranke) oder solche mit ekelerregenden Krankheiten getrennt schlafen zu lassen, Erwachsenen und Kindern im fortgeschrittenen Alter oder größeren Geschwistern eigene Schlafräume zu geben." Richtlinien werden herausgegeben, die das Zusammenleben auf engstem Raum regeln sollen, etwa die Aufenthaltsdauer der Untermieter in der Küche, die nächtliche Trocknung von Wäsche und die Benutzung des Bades einmal in der Woche.
Bunker dienen als Unterkunft
Auch in mehr als 100 Hamburger Bunkern leben Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene. Lange verzweigte Gänge zwischen dünnen Zwischenwänden führen zu den kleinen sechs bis acht Quadratmeter großen Kammern. Weil Glühbirnen fehlen, ist es hier immer dunkel. An den Außenmauern rinnt innen das Wasser herunter: "Gegen Morgen wird die Luft in den Bunkerräumen so sauerstoffarm, dass es nicht mehr möglich ist, ein Feuerzeug zum Brennen zu bringen", hält ein zeitgenössischer Bericht fest, und: "Morgens, 5.30 Uhr, wird mit einer Trillerpfeife geweckt. Diese Art des Weckens ist von vielen Bewohnern, die der Arbeit nachgehen, gefordert worden, um eine bestimmte Uhrzeit damit erkennen zu können."
Nissenhütten als Notlösung
Im November 1945 stellen die Briten Nissenhütten auf, jene halbierten Wellblechtonnen, die nach ihrem Erfinder, einem kanadischen Offizier, benannt sind, und die hier wie anderswo nun für Jahre zum Stadtbild gehören. Mitten in den Ruinen oder am Stadtrand. In Hamburg gibt es neben dem Durchgangslager im Stadtpark, das in 300 Wellblechbaracken 6.000 Menschen Unterkunft bietet, bald mehr als 40 Wohnlager mit bis zu 130 dicht an dicht stehenden Hütten. "Familienzank und Rundfunkdarbietungen", so stellt damals eine sozialhygienische Studie fest, können von allen "mitgenossen werden". Die Behausungen sind nicht isoliert und deshalb im Sommer unerträglich heiß. Im Winter fällt das Thermometer oft auf null Grad. Im Winter 1946/47 erfrieren in Hamburg fast 100 Menschen.
In den Lagern brechen Krankheiten aus
Weil die Lager überbelegt sind, brechen bald Seuchen aus, Typhus etwa. Es fehlt an Waschmöglichkeiten, Ungeziefer plagt die Menschen, sie leiden an Haut- und Geschlechtskrankheiten, besonders die auf der Flucht aus den Ostgebieten vergewaltigen Frauen. Weil den Kindern Kleidung fehlt, können viele das Bett nicht verlassen. Ehemalige Zwangsarbeiter erhalten von den Briten immerhin Kleiderspenden, den Flüchtlingen helfen sie mit Wolldecken und Holzschuhen aus Luftschutzbeständen.
Rückführung scheitert
Um den Zustrom zu begrenzen, versuchen die Besatzer, Menschen in ihre Herkunftsgebiete zurückzuschicken, vor allem in die Sowjetische Besatzungszone und nach Schleswig-Holstein, oft vergebens. Butenhamborger hingegen dürfen nur zurückkehren, wenn sie sich Wohnraum und Arbeit besorgt haben, eine Bedingung, an der viele scheitern. Denn jeden Tag melden sich 2.000 Wohnungssuchende auf dem Amt, die allerdings ohne Arbeitsnachweis keine Chance haben.
Das Arbeitsamt entscheidet über den Aufenthalt
So ist das Arbeitsamt die letzte Instanz, die auch nach der Zuzugssperre vom 1. April 1946 über den Aufenthalt in der Hansestadt entscheidet. Sie wählt aus den Zehntausenden vor allem nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus. Nur Angehörige von Mangelberufen dürfen bleiben, egal ob Flüchtling oder Butenhamborger. Vor allem jene, die beim Wiederaufbau der Stadt dringend gebraucht werden: Bauarbeiter und andere Handwerker sowie Kaufleute und Ärzte, aber auch vom NS-Regime Verfolgte und Emigranten.
Etwa der Politiker Herbert Wehner, der im Oktober 1946 aus Schweden zurückkehrt und den ersten Winter mit seiner Frau in einem ungeheizten Zimmer in Altona verbringt. Der spätere Schriftsteller Walter Kempowski hingegen, der 1948 aus der Sowjetischen Besatzungszone flieht, wird von den Behörden abgewiesen, obwohl er eine Lehrstelle in einer Druckerei nachweisen kann. Auch Rentner und Fürsorgeempfänger haben keine Chance.
Bevölkerung wächst trotz Aufnahmestopp
Trotz Zuzugsperre, die bis 1950 gilt, wächst die Hamburger Bevölkerung in der Nachkriegszeit um mehr als 320.000 Menschen, weitaus mehr als andere deutsche Großstädte. Die Einheimischen nehmen allerdings Flüchtlinge und Vertriebene nicht mit offenen Armen auf, solange Zehntausende Butenhamborger nicht zurückkehren dürfen. Und auch wenn bis 1952 über 90.000 Wohnungen gebaut werden, so hausen doch mehr als 100.000 Menschen noch jahrelang in Bunkern, Kellern und Nissenhütten.