Annemarie und Walter Kutter: "Der erste Kuss war herrlich"
Annemarie und Walter Kutter aus Zetel sind seit 73 Jahren verheiratet. Sie leben bis heute selbstständig in ihrem Haus. Auch ein großer Schicksalsschlag kann ihre Jahrhundertliebe nicht erschüttern.
Annemarie und Walter Kutter lernen sich vor 74 Jahren kennen - durch einen verrückten Zufall. Obwohl beide in Wilhelmshaven recht nah beieinander leben, lernen sie sich 1950 auf einem Bauernhof in der Nähe von Rheine in Nordrhein-Westfalen kennen. Das Arbeitsamt hatte beiden dort einen Job vermittelt. Sie verlieben sich ineinander. Ihr Arbeitgeber versucht, die Beziehung zu torpedieren. Aber: "Es gibt ja kein Hindernis, wenn man verliebt ist", erzählt Walter Kutter dem NDR in der Dokumentation "Jahrhundertliebe". Annemarie und Walter Kutter gehen zurück nach Wilhelmshaven, gründen eine Familie, bekommen sechs Kinder und bauen ein Haus. Die größte Tragödie erleben sie, als ihre 34 Jahre alte Tochter Astrid stirbt. Anfang der 1980er-Jahre zieht das Paar nach Zetel. Hier leben sie bis heute. Noch immer selbstständig und selbstbestimmt - und noch immer ineinander verliebt.
Annemarie Kutter: Wenn Berufsträume platzen
Annemarie Kutter wird am 17. Juni 1930 in Emden geboren. Dort wächst sie mit vier Geschwistern auf - und einem großen Traum: "Ich wollte Fliegerin werden. Immer unterwegs sein." Doch daraus wird nichts, denn ihr Vater hat andere Pläne für ihr Leben. Sie darf keinen Beruf erlernen. Schließlich soll sie mal heiraten und Kinder kriegen. Er sei noch so alt eingestellt gewesen, erzählt Annemarie Kutter. Bei ihren Brüdern sei das anders gewesen, die hätten einen Beruf erlernt.
Zweiter Weltkrieg: Bombenangriffe auf Wilhelmshaven
Walter Kutter kommt am 30. Dezember 1931 in Wilhelmshaven zur Welt. Auch er wächst in einer großen Familie mit sieben Geschwistern aus. Gleich hinterm Deich. In Wilhelmshaven erlebt er im Zweiten Weltkrieg die schweren Bombenangriffe auf die Stadt und den Marinehafen. Geregelten Schulunterricht gibt es selten. “Meine Zeugnisse waren katastrophal, drei vier Jahre hatte ich einen Stempel drin, wegen Schulausfall kein Zeugnis“, erinnert sich Walter Kutter. Auch nach Kriegsende wird es nicht besser - Walter muss mithelfen, die große Familie durchzubringen. "Unsere Mutter war vollkommen überlastet", so Walter Kutter. Deshalb muss er von 1945 bis 1948 hamstern gehen und zusehen, dass die Familie etwas zu essen hatte. Das sei die "dumme Zeit nach dem Krieg" gewesen.
"Was will die denn hier? Die kann doch gar nichts"
Ein Zufall führt Walter und Annemarie schließlich zusammen. Er bekommt vom Arbeitsamt eine Stelle als Knecht auf einem Bauernhof in Rheine vermittelt. Kurze Zeit später schickt das Amt auch Annemarie auf genau diesen Hof. "Und wie ich da ankam, im langen Rock und roten Fingernägeln, da sagt die Bäuerin: 'Was will die denn hier? Die kann doch gar nichts'", erinnert sich Annemarie Kutter. "Und dann kam Walter rein und ich habe gedacht, was für ein schöner junger Mann. Den mochte ich wohl leiden."
Wenn Liebe durch Mark und Bein geht
Als Walter seine Zukünftige zum ersten Mal sieht, findet er sie "hübsch". "Wollen wir mal sehen, wie das mit der Zusammenarbeit wird." Die beiden müssen hart arbeiten. Als Annemarie für ein paar Tage nochmal nach Hause muss, denkt Walter, sie kommt nicht wieder. Er fährt zum Bahnhof - und schaut, ob sie eventuell zurückkommt. Und tatsächlich, die Tür geht auf und Annemarie kommt heraus: "Und dann ging mir von Kopf bis Fuß ein Gefühl durch und durch. Und da habe ich gesagt, das muss die Liebe sein", erinnert sich Walter an das Wiedersehen. Er ist froh, dass sie wiedergekommen ist.
Walter Kutter: "Es gibt kein Hindernis, wenn man verliebt ist"
Auf dem Hof hat Walter sein Zimmer im Erdgeschoss, Annemarie wohnt im ersten Stock. "Wenn du einen Kuss haben möchtest, musst du aber nach oben kommen", neckt Annemarie Walter. Obwohl die Besitzer des Hofes streng katholisch sind, wagt sich Walter trotzdem nach oben - und küsst das "Fräulein". Das sei herrlich gewesen, beschreibt er den ersten Kuss. Auf dem Hof herrscht anschließend Alarmzustand, das Arbeitsamt kommt - und die Kirche. Walter Kutter kann sich gut an die Aufregung erinnern. Zur Strafe muss er in ein weiter entfernteres Zimmer auf dem Hof ziehen. Doch die beiden bleiben ein Paar. "Es gibt kein Hindernis, wenn man verliebt ist", erzählt Walter lachend.
"Sie war volljährig - ich bin verführt worden"
Als sie zusammen weggehen, fängt ihr Leben richtig an. Im Winter 1950 kehren sie nach Wilhelmshaven zurück, mit Neuigkeiten für ihre Familien. Annemarie ist in anderen Umständen. Walter freut sich. Als ihn seine Mutter, die kindererfahrene Frau, fragt: "Na, kann es ein, dass du heiraten musst?", antwortet er: "Mama, ich muss heiraten, bin aber überaus glücklich darüber." Das Problem: Walter ist erst 19. Er darf noch nicht heiraten, weil er nicht volljährig ist. Mit seinem Vater geht er zum Amtsgericht Wilhelmshaven, um sich volljährig erklären zu lassen. "Sie war volljährig - ich bin verführt worden", erzählt er schelmisch.
1950er-Jahre: Leben in einer Puppenstube
Als das Paar 1951 heiratet, ist aller Anfang schwer. Walter Kutter arbeitet viel. Bis zum dritten Kind lebt die Familie in einem Zimmer. "Da war nix drin": Annemarie kocht und wäscht auf einem kleinen Gasherd. Es ist ein Leben wie in einer Puppenstube. "Auch das eine Zimmer war wunderschön", sagt Walter Kutter rückblickend.
Ab Mitte der 1950er-Jahre geht es aufwärts: Die Familie bekommt eine größere Wohnung und Walter eine feste Anstellung als Metallarbeiter. Acht Jahre nach dem fünften Kind kommt noch ein sechstes auf die Welt. "Das hätte nicht mehr Not getan. Da bin ich ganz ehrlich", so Walter Kutter. Der Nachzügler wird zum Liebling der Familie.
Wirtschaftswunderjahre: Die Kutters kommen zu Wohlstand
Anfang der 1970er-Jahre fängt Annemarie wieder an zu arbeiten, erst als Verkäuferin, später führt sie Haushaltsartikel vor. Die Kutters bauen ein Haus und fahren regelmäßig in den Urlaub. Die schweren Jahre der Nachkriegszeit haben sie hinter sich gelassen. Obwohl beide keine Ausbildung haben, kommen die Kutters zu Wohlstand. Aber es ist ihnen auch wichtig, dass alle Kinder einen Beruf erlernen.
Im Dezember 1987 beginnt eine schwere Zeit für Annemarie und Walter, ihre Tochter Astrid stirbt mit 34 Jahren infolge einer schweren Erkrankung an Organversagen. Sie weinen viel zusammen. "Und wir sind viel spazieren gegangen und haben zusammen geredet", erinnert sich Annemarie Kutter an die Zeit danach. Bis heute pflegen die Kutters ein sehr enges Verhältnis zu all ihren Kindern. Sie kommen regelmäßig zu Besuch und unterstützen die Eltern. "Früher waren Mutti und Vati für uns da, sind sie ja immer noch. Und jetzt drehen wir das mal um", sagt Tochter Ingrid Glatzel.
"Nicht, dass einer dem anderen zuvorkommt"
Seit 1984 leben die Kutters in Zetel im Landkreis Friesland. Sie wollen damals raus aus der Stadt. Aber es dauert, bis sie sich in der ruhigen und beschaulichen Kleinstadt einleben. Bis heute haben sie gemeinsame Rituale, wie den täglichen Abwasch. Sie wurschteln den ganzen Tag zusammen herum, helfen sich gegenseitig. Dass die beiden noch immer selbstständig in ihrem Haus leben können - ein Geschenk. Sie sind glücklich hier, "wir haben hier ein Zuhause." 74 Jahre sind vergangen, seit sich Annemarie und Walter Kutter verliebt haben. Seitdem gehören sie zusammen und das soll auch so bleiben: "Dass es eines Tages einen Knall gibt und wir tot umfallen. Nicht, dass einer dem anderen zuvorkommt", wünscht sich Walter.