Hildegard und Egon Ullrich: "Kleine Gesten machen die Liebe aus"
Hildegard und Egon Ullrich aus Holm haben in 75 Ehejahren viele Hürden gemeistert. Kurz nach den Dreharbeiten ist Hildegard Ullrich gestorben. Zuvor hat das Paar dem NDR von ihrer "Jahrhundertliebe" erzählt.
Als Egon Ullrich im Oktober 2024 102 Jahre alt wird, knallen die Champagnerkorken. Zusammen mit seiner 98-jährigen Frau Hildegard stößt er auf 200 Lebensjahre an - ihre letzte gemeinsame Geburtsfeier. Dabei ist rückblickend aller Anfang schwer: Egon Ullrich bricht wegen des Zweiten Weltkrieges die Schule ab. Hildegard Ullrich muss nach den verheerenden Luftangriffen 1943 auf Hamburg, der "Operation Gomorrha", die Stadt verlassen. Doch als sich das Paar kennenlernt, fängt das Leben an. Ein Kuss in der Speisekammer begründet ihre Liebe, die bis um Tod von Hildegard anhält. "Es sind die kleinen Gesten, die die Liebe ausmachen", sagt Egon Ullrich gegenüber dem NDR in der Dokumentation "Jahrhundertliebe".
Zweiter Weltkrieg: Flucht und Kriegsgefangenschaft
Hildegard Ullrich wird am 9. Mai 1926 in Hamburg-Wandsbek, Hinschenfelde, als jüngstes von drei Kindern geboren. Hildegard beschrieb ihre Kindheit als schön, bis ihre Mutter im Alter von 41 Jahren stirbt. Da ist Hildegard gerade mal zwölf. Aber ihr Vater sei lieb gewesen, erinnert sich die 98-Jährige. Der Krieg verändert dann alles für die Familie. Bei Luftangriffen auf die Hansestadt, verliert sie wie so viele andere ihr Zuhause. Mit 17 landet Hildegard deswegen in Brandenburg.
Auch Egons Biografie ist von Krieg bestimmt: Am 25. Oktober 1922 kommt er in Sande (heute Lohbrügge) im Kreis Stormarn zur Welt und wächst dort mit seinen Eltern und seiner Schwester auf. Als Egon Ullrich zwei ist, zieht die Familie nach Brandenburg. Er ist ein guter Schüler, geht auf ein Gymnasium, das allerdings später von den Nazis geschlossen wird. Nach acht Schuljahren beginnt er eine Lehre als Koch - und schuftet jeden Tag zwölf bis 14 Stunden. Als der Krieg beginnt, endet die Ausbildung abrupt. Egon Ullrich wird eingezogen und kämpft an vorderster Front. Dabei erlebt er Schreckliches. Nach Kriegsende kommt er in russische Gefangenschaft.
Ein Kuss in der Speisekammer besiegelt die Liebe
Der Krieg hinterlässt Spuren, besonders bei Egon Ullrich. Als "50 Kilo-Mann" kehrt er im April 1947 nach Brandenburg zurück, aber geistig sei er noch gar nicht wieder da gewesen. "Man musste erst einmal wieder normal werden", schildert er seine Gefühle im Rückblick. Zu Anfang habe er gar nichts vom Krieg erzählt. Da kommt Hildegard in sein Leben: "hübsches Mädchen, blond, lustig, immer gut gelaunt. Das steckt an." So erinnert er sich an seine Frau, als er sie im Sommer des gleichen Jahres auf einem Hof in Brandenburg kennenlernt. "Das ging ruckizucki", so Egon Ullrich weiter. Ein Kuss in der Speisekammer besiegelt die Liebe der beiden.
1957: Die Ullrichs flüchten aus der DDR in den Westen
Für die Hochzeit im Oktober 1949 lässt sich Hildegard Ullrich das Kleid ihrer Schwägerin enger machen. Egon leiht sich in einem Geschäft in Potsdam Frack und Zylinder. Das Paar bekommt zwei Kinder: 1950 wird Sohn Jens geboren, 1952 Tochter Gesine. Egon führt zusammen mit seinem Vater ein Fuhrunternehmen. Sie leben als Selbstversorger in Brandenburg, es geht ihnen gut. Doch der DDR-Führung sind Selbstständige ein Dorn im Auge. Wie Tausende andere fliehen Egons Eltern 1953 wegen des "planmäßigen Aufbaues des Sozialismus" in den Westen. Egon und Hildegard Ullrich bleiben zunächst, doch dem Geschäft geht es schlecht, Aufträge bleiben aus. Egon will außerdem nicht in die SED eintreten. Kurz vor Weihnachten 1957 lässt die Familie alles stehen und liegen und flieht in den Westen nach Hamburg. Noch rechtzeitig: Ende des Jahres wird das ungenehmigte Verlassen der DDR, die "Republikflucht", strafbar.
"Man musste als junger Mensch viel zurückstecken"
Die Familie zieht zu Egons Eltern in den Stadtteil Blankenese. Egon und Hildegard Ullrich beteiligen sich an deren Feinkostladen. Doch alles ist viel enger als auf dem Land: Gewohnt wird hinter dem Laden - zu sechst in zwei Zimmern. "Man musste als junger Mensch viel zurückstecken", erzählt Hildegard Ullrich rückblickend. Ihre Schwiegermutter behandelt sie oft hart - und sie muss als Schwiegertochter vieles herunterschlucken. Aber Hildegard und Egon sind die ganze Zeit zusammen, stehen zueinander. Das sei sehr schön gewesen, sagt Hildegard. Sie hätte das nie bereut. "Wir haben Hand in Hand gearbeitet", ergänzt Egon. Er beteuert: "Wenn man eine Hand nimmt, sagt das viel aus, das sei so eine Innigkeit, so eine Sicherheit. Oder der eine legt den Kopf auf die Schulter des anderen. Da sei Liebe! Das sagt viel mehr als Worte aus."
Wirtschaftswunder: Hamburger Prominenz belebt das Geschäft
Die Ullrichs arbeiten hart, haben wenig Zeit für die Kinder. Und trotz aller familiären Streitigkeiten läuft der Laden in den Wirtschaftswunderjahren blendend. Auch die Hamburger Prominenz kauft bei den Ullrichs - von Horst Janssen, "dem verrückten Zeichner, der immer seinen Schnaps haben musste", über Marion Gräfin Dönhoff bis zu Otto Waalkes. Das Paar genießt kleine Momente und das Zusammensein.
Als beide Anfang 60 sind, bekommt ihr Feinkostgeschäft zunehmend Konkurrenz von Discountern. Außerdem wird die Ladenmiete drastisch erhöht. Sie beschließen, den Laden aufzugeben und in den Ruhestand zu gehen.
1980er-Jahre: Ruhestand und Reiselust
In den 1980er-Jahren beginnt die wunderbarste Zeit im Leben der Ullrichs. "Wir konnten machen, was wir wollten." Sie reisen viel. Und sie verbringen viel Zeit mit ihren Kindern Gesine und Jens, ihren Enkeln und Urenkeln. Schwer wiegt der Verlust von Tochter Sine. 2021 stirbt die Tochter an Krebs. Regelmäßig besuchten sie ihr Grab auf dem Friedhof. Besonders Hildegard Ullrich übermannt immer wieder die Trauer: "Man schläft keinen Tag ein, wo man nicht an das Kind denkt." Egon Ullrich sagt, er sei auch traurig, aber zeige es nicht so. Vielleicht sei er härter. Aber Sine fehle.
75 Jahre Leben in tiefer Verbundenheit füreinander
Bis zuletzt haben Hildegard und Egon Ullrich im eigenen Haus gelebt. 75 Jahre sind sie gemeinsam durchs Leben gegangen, in einer tiefen Verbundenheit. Der Umgang war immer respektvoll, es gab nie ein verletzendes Wort - darauf haben sie Wert gelegt. Bei Hildegard und Egon Ullrich war der eine beim anderen präsent. Immer.
"Mein Leben war schwer", resümiert Egon Ullrich, aber es sei reichhaltig gewesen, was man alles erlebt, gemacht und gesehen habe. Auch wenn er irgendwann gehen müsse, wünsche er sich, seine Frau nicht allein zurückzulassen. Als er das sagt, legt er dabei seinen Kopf an ihre Schulter. "Du bist schon 'ne Marke, Vaddi", schmunzelt Hildegard, angesichts dieser Liebeserklärung - kurz vor ihrem Tod.
Hinweis der Redaktion: Hildegard Ullrich ist nach den Dreharbeiten 2024 gestorben. Ihre Familie hat sich die Ausstrahlung des Films trotzdem gewünscht.