Irmgard Eiben: "Mal ist man oben und dann wieder ganz unten"
Das Leben von Irmgard Eiben, geboren 1925, ist voller Tiefen und Höhen. Weimarer Zeit und Zweiter Weltkrieg heißen Zwang und Entbehrung - während des "Wirtschaftswunders" erlebt sie den Aufstieg. Ein Jahrhundertleben in Wilhelmshaven.
Mit 94 Jahren - in einem Alter, in dem andere mit ihrem Leben bereits abgeschlossen haben - hat Irmgard Eiben ihres noch einmal in die Hand genommen: Nach zwei Jahren annähernder Taubheit wollte sie ihre Schwerhörigkeit nicht länger hinnehmen und hat sich ein Cochlear-Implantat einsetzen lassen. Mit 96 Jahren kann sie sich wieder angeregt unterhalten - das empfindet sie als großes Glück. Äußerst lebendig und klar erzählt sie dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben" aus ihrem von Höhen und Tiefen geprägten Leben.
Wilhelmshaven-Siebethsburg prägt Irmgard Eibens Leben
Als Irmgard Bodenstab kommt sie am 18. Mai 1925 im damaligen Rüstringen, heute Wilhelmshaven zur Welt. Im Stadtteil Siebethsburg wächst sie auf - und er prägt ihr Leben. Als Kind schiebt sie mit ihren Freundinnen Puppenwagen durch die Gärten der Nachbarn, im Winter fährt sie auf einer Warft Schlitten. Sie habe eine schöne Kindheit gehabt, resümiert Irmgard Eiben.
Ihr Vater schuftet als ungelernter Arbeiter auf einer Werft. Ihre Mutter ist zu Hause und für die Erziehung zuständig - es herrscht eine "strenge Ordnung", da gibt es auch schon mal eine Backpfeife, Umarmungen weniger. Irmgard stört das nicht, im Gegenteil: "Immer diese Küsserei, ich will das nicht."
Unfreiwilliges Mitmarschieren im Bund Deutscher Mädel
Der Stadtteil Siebethsburg im Zentrum von Wilhelmshaven ist in der Weimarer Zeit Hochburg der Sozialdemokraten. "Und dann kam Adolf, ja". Doch Irmgards Eltern hängen nach der NS-Machtergreifung keine Nazi-Fahne vor dem Fenster auf. "Sie hatten absolut nichts übrig für die Nazis." Deshalb kaufen sie ihrer Tochter keine Uniform für den Bund Deutscher Mädel (BDM). Aber wer damals nicht im BDM ist und nicht mitmarschiert, "so in Reih und Glied", komme nicht in die Oberschule, erzählt Irmgard Eiben rückblickend: "Unser Leben ist bestimmt worden. Fertig." Schließlich bekommt Irmgard doch die Bundestracht - einen dunkelblauen Rock, weiße Bluse und gelbe Jacke. Sie trägt die Uniform erstmals zur Indienststellung der "Scharnhorst" im Oktober 1936.
Als Sozialdemokrat verliert der Vater die Arbeit auf der Werft
Doch die Repressionen unter dem NS-Regime gehen für die Familie weiter: Ihr Vater, ein Sozialdemokrat, verliert seinen Job, die Familie muss von fünf Reichsmark Arbeitslosenhilfe pro Woche leben. Die Mutter versucht, mit Näharbeiten etwas dazuzuverdienen. Doch 21,50 Reichsmark Schulgeld für die Oberschule zu bezahlen, ist schier unmöglich. Irmgards Lehrer setzt sich schließlich für seine Schülerin ein. Daraufhin bekommt sie ein Stipendium für die Fräulein-Marien-Schule.
Zweiter Weltkrieg: Keine Zeit für Träume
Irmgard Eiben erlebt das Leben lange Zeit als Zwang. "Wir hatten noch keine Träume - und später haben sie unsere Träume gekappt." Nichts scheint erreichbar: Sie kann nicht das lernen, was sie möchte. Zum einen fehlt das Geld, zum anderen herrscht Krieg. Sie schwärmt für Biologie und Chemie, doch sie landet bei der Marine, arbeitet als zivile Angestellte im Sperrwaffenarsenal auf der Schleuseninsel im Nassauhafen. Wilhelmshaven hat als Marinewerft und Kriegshafen große Bedeutung im Deutschen Reich. Auch ihr Vater hat inzwischen wieder Arbeit im Hafen gefunden. Irmgard Eiben verbringt Nächte im Bunker und erlebt Bombenangriffe auf die strategisch wichtigen Hafenanlagen und Kriegsschiffe. "Wir wussten ja schon am Klang der Flugzeuge, welche das waren. Und nachher wusste man, wenn die großen kamen, die wollten nicht zu uns." Die großen Flieger passieren Wilhelmshaven und bombardieren Städte wie Dresden. Allerdings bleibt auch die Hafenstadt nicht vom Bombenhagel verschont. 60 Prozent der Gebäude werden zerstört - auch die Wohnung der Eibens.
Angst vor dem "Kuppel-Paragrafen"
Überhaupt bestimmt der Zweite Weltkrieg das Leben der jungen Frau, es bleibt kaum ein Gedanke an Freizeit und Vergnügen: Es herrscht Tanzverbot. Zwar gibt es erste Versuche, mit Jungoffizieren anzubandeln. Allerdings: "Wir gingen höchstens mal in den Strandpark zum Küssen." Denn zu Hause haben ihre Eltern Angst vor dem sogenannten Kuppelei-Paragrafen: Noch bis Ende der 60er-Jahre stellt der § 180 des StGB die "Förderung und Tolerierung außerehelichen Geschlechtsverkehrs" unter Strafe - darunter fällt auch, wenn Eltern ihren Kindern sexuelle Kontakte in der elterlichen Wohnung erlauben.
Nachkriegsjahre: Neuanfang und erste Liebe
"Dass der Krieg zu Ende war, das war das Wichtigste." Irmgard Eiben ist damals 20 Jahre alt. Im Rückblick erzählt sie: "Wir blieben am Leben. Also sterben brauchten wir nicht. Aber das Leben war auch verdammt schwer. Weil wir ja nichts kriegten." Und das, obwohl "wir ja alle ein dickes Konto hatten, aber damit nichts anfangen konnten." Es gibt schlicht nichts zu kaufen. Irmgard Eiben leidet Hunger - und sie ist arbeitslos. Schließlich geht es langsam aufwärts, sowohl Irmgard als auch ihr Vater bekommen Arbeit bei der Firma Kuhlmann Zeichengeräte. Und sie erhalten ein neues Dach überm Kopf - in einer Neubausiedlung in Fedderwardergroden am nördlichen Stadtrand. Sie erinnert sich: "Kein Baum, kein Strauch, keine Vögel. Nix."
Die junge Frau beginnt, Tischtennis in einem Verein zu spielen - und lernt dort ihren zukünftigen Mann kennen: Egon Eiben ist 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. "Wenn man jung verliebt ist, ist es immer schön." Den Ausdruck "Schmetterlinge im Bauch" kennt sie damals noch nicht. "Bei uns sagte man Herzrasen."
Anfang der 50er-Jahre: Hochzeit für die neue Wohnung
Da Egon im Zentrum Wilhelmshavens lebt, drängt Irmgard ihre Eltern zum Umzug. Schließlich bekommt die Familie eine Wohnung in der Bismarckstraße. Von Hochzeit will das Paar zunächst noch nichts wissen, erst einmal wird gespart und geschafft. Doch als Irmgard und Egon Aussicht auf eine Wohnung in Siebethsburg haben, müssen sie heiraten, um sie zu bekommen. Das ist 1950. "Ich war wieder da, wo ich hergekommen war, mit meinem Mann." Im Jahr darauf wird Sohn Thomas geboren.
Wirtschaftswunder: Eigene Firma bringt Wohlstand
Egon Eiben arbeitet als Heizungsbauer, als sich das Paar entschließt, sich selbständig zu machen. Sie kratzen ihr Geld zusammen, organisieren einen Kleinlaster. Irmgard Eiben macht 1960 den Führerschein und besorgt Materialien. Später übernimmt sie die Büroorganisation der Heizungsfirma Eiben. "Wir haben das zusammen gemacht. Es ging gar nicht für ihn alleine. Leute einstellen konnten wir zu dem Zeitpunkt ja noch nicht." 1963 bauen sich die Eibens in Siebethsburg ein eigenes Haus, das auch zum Büro der Firma wird. 1964 ziehen sie ein. Sie haben gut zu tun, keine Geldsorgen, können sogar einen Meister einstellen. Es sei ein wahrer Aufstieg gewesen: Sie kaufen Möbel, eine Küche und eine moderne Heizungsanlage.
Irmgard Eiben beginnt zu reisen - eigenständig. Während ihr Mann mit seiner Skat-Runde ferne Länder bereist, fliegt sie mit Freundinnen gerne auf die Insel Wangerooge. Sie engagieren einen jungen Piloten und starten vom Marine-Flughafen Wilhelmshaven. Ihre Ehemänner lassen sie zu Hause: "Da waren wir Frauen besser alleine."
Irmgard Eiben wird Mutter einer Ziehtochter aus Thailand
In den 60-Jahren nimmt Irmgard Eiben eine 15-Jährige aus Thailand für mehrere Jahre bei sich auf. Mae macht eine Ausbildung bei der Sparkasse, doch ihre Eltern wollen sie vor Ende der Lehre nach Thailand zurückholen: Sie möchten nicht, dass ihre Tochter aus finanziellen Gründen mit fünf jungen Männern in einer Wohnung leben muss. Die 15-Jährige bekommt ein Zimmer bei den Eibens und übernimmt wie eine Tochter Pflichten im Haushalt. "Eine Tochter, ja. Das war schön." Die Beziehung zu Thailand bleibt eng - Irmgard Eiben reist später zu Hochzeiten von Maes Kindern in das asiatische Land. "Alle verheirateten Frauen redet man mit Mutter an. Also haben Sie Mutti zu mir gesagt, alle - die Jungs und Mae nachher genauso." Bis heute hält sie Kontakt zu Mae, sie tauschen Fotos aus. Sie könne sie auch jederzeit besuchen, sagt Irmgard Eiben über die besondere Beziehung.
Nach 54 Jahren Ehe plötzlich Witwe
Egon Eiben erkrankt an Diabetes. Oft muss er ins Krankenhaus, die Anschläge vom 11. September 2001 sieht Irmgard Eiben bei einem seiner Aufenthalte in der Klinik im Fernsehen. In den folgenden Jahren kümmert sie sich intensiv um ihren Mann, gemeinsam besuchen sie Ernährungskurse: "Ja, und wer hat aufgepasst? Und wer wusste daher mehr? Ich war das." Schließlich stirbt Egon Eiben in der Neujahrsnacht 2006. 54 Jahre waren die beiden verheiratet. Irmgard Eibens Ehe-Erfolgsrezept: "Man muss Zugeständnisse machen - bei allem und immer wieder." Sie bleibt im Familienhaus wohnen, Sohn Thomas lebt in Süddeutschland - in Wilhelmshaven wohnt heute nur Enkel Yannik. "Man ist plötzlich allein und muss sehen, dass man damit fertig wird und ob man damit klarkommt." Ihre "Kränzchen-Schwestern" sind mittlerweile auch alle verstorben. Geblieben ist ihr ihre gute Freundin Inge. Sie wohnt nur wenige Kilometer entfernt und hilft im Haushalt.
Ein Jahrhundertleben in Wellen
Mit 96 Jahren führt Irmgard Eiben ein sehr eigenständiges Leben: "Ob ich alleine bin oder nicht - wenn ich mir etwas vornehme, dann mache ich das auch." Nach einem Beckenbruch zu Beginn der Corona-Pandemie ist sie wieder beweglich. Mit ihrem Rollator kommt sie schon sie wieder bis zum Theater am Bontekai. "Da habe ich mich über die jungen Väter mit Kinderwagen und den Babys amüsiert, wie die damit umgehen können." Das habe es früher nicht gegeben. Mehr Teilhabe am Leben ermöglicht auch das Cochlear-Implantat - sie genießt es, nun wieder fernsehen und Radio hören zu können.
Irmgard Eiben bleibt neugierig: "Ich will immer weiter. Ich will noch Neues lernen." Rückblickend sagt sie: "Wir hatten einen dollen Aufstieg, dass wir uns selbstständig gemacht haben." Alles im Leben bewege sich in Wellen. Einmal sei man oben und dann wieder ganz unten.