Heide Simonis: Deutschlands erste Ministerpräsidentin

Stand: 12.07.2024 00:00 Uhr

Sie war die erste Frau an der Spitze eines Bundeslandes: Heide Simonis übernahm am 19. Mai 1993 in Schleswig-Holstein das Ruder. 2005 endete ihre politische Karriere mit einem spektakulären Wahl-Krimi. Am 12. Juli 2023 starb sie im Alter von 80 Jahren.

von Levke Heed

Am 19. Mai 1993 rückt der Kieler Landtag in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses - und zwar weit über die Landesgrenzen Schleswig-Holsteins hinaus: Mit 46 von 88 Stimmen wird die SPD-Politikerin Heide Simonis zur Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein gewählt - und ist damit die erste Frau an der Spitze eines Bundeslandes. Als Landtagspräsidentin Ute Erdsieck-Rave um 15.31 Uhr das Ergebnis verkündet, gehen ihre Worte im Jubel der SPD-Fraktion fast unter. "Mut, Glück und weibliche Stärke", wünscht Erdsieck-Rave der Frischgekürten. Neben den Sozialdemokraten hatte auch Karl Otto Meyer vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW), Vertreter der dänischen Minderheit, für Simonis gestimmt. Erster Gratulant ist ihr Vorgänger Björn Engholm. Er war zuvor wegen einer Falschaussage im Untersuchungsausschuss über die Barschel-Affäre zurückgetreten.

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Schweigeminute im Plenarsaal, alle stehen. © Georg Wendt/dpa +++ dpa-Bildfunk Foto: Georg Wendt

Nach Tod von Heide Simonis: Landtag "verneigt sich vor Lebenswerk"

Die ehemalige Regierungschefin sei ein Vorbild für eine ganze Generation von Politikerinnen gewesen, sagte Landtagspräsidentin Kristina Herbst. mehr

"Der helle Wahnsinn"

Die neue Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, aufgenommen mit einem großen Blumenstrauß nach ihrer Vereidigung im Kieler Landtag am 19. Mai 1993. © picture-alliance/ dpa Foto: Stefan Hesse
1993 erreicht Heide Simonis, was vor ihr noch keine Frau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschafft hatte: Sie wird Ministerpräsidentin.

"Schleswig-Holstein wird es nicht leicht haben. Aber wir werden es zusammen schaffen", erklärt Simonis nach ihrer Wahl. Glückwunsch-Telegramme von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose und Henning Voscherau (SPD), dem Ersten Bürgermeister Hamburgs, erreichen die frischgebackene Ministerpräsidentin. "Was ich die letzten 14 Tage erlebt habe, war der helle Wahnsinn. Ich bin mir vorgekommen wie ein zweiköpfiges Monster. An einem Tag habe ich fünf Stunden lang nonstop Interviews gegeben", erinnert sich Simonis später in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" an ihren Amtsantritt.

Kabinettsliste sorgt für viel Kritik

Das schleswig-holsteinische Landeskabinett von 1993 um Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD, 1. Reihe, 2. v.l) © picture alliance Foto: Wolf-Dieter Pfeiffer
Die Kabinettsliste von Heide Simonis wird von Opposition und Presse heftig kritisiert.

Bei der Vergabe der Kabinettsposten gibt es reichlich Gegenwind für Simonis. "Fehlstart", "Reise nach Jerusalem" oder "Chance verpasst" sind die Reaktionen von Opposition und Presse. Vor allem für ihre Entscheidung, Wirtschaftsminister Uwe Thomas nicht in ihr neues Kabinett zu übernehmen, muss Simonis viel Kritik einstecken. "Persönliche Differenzen" gibt sie als Grund an. Nachfolger wird Peer Steinbrück.

Das Kabinett Simonis I

Auch die Entscheidung für den parteilosen Umweltminister Berndt Heydemann stößt auf Unverständnis. FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki spricht von einer "völlig desaströsen Kabinettsliste". Dies sei der Grund, warum die Liberalen bei der Wahl zur Ministerpräsidentin gegen Simonis gestimmt hätten. Die heftige Kritik ist vermutlich der Grund, warum Simonis eine bereits angekündigte Regierungserklärung kurzfristig absagt.

Wie streitet man mit einer Präsidentin?

Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) setzt sich im Januar 2000 in ihrer Wohnung in Bordesheolm einen ihrer zahreichesn Hüte auf. © picture-alliance / dpa Foto: Kay Nietfeld
Heide Simonis gilt als leidenschaftliche Hutträgerin. Die Presse hat damit schnell ihr Thema gefunden.

Nicht nur Simonis selbst muss sich erst in ihrer neuen Rolle zurechtfinden. Auch die Medien und die Parteien fragen sich, wie man mit einer Frau in dieser Position umgeht und wie man über sie berichtet. Während die Presse sich zunächst einmal auf Äußerlichkeiten wie Hüte und Ringe der Frau Ministerpräsidentin stürzt, muss die Opposition noch das Streiten üben: "Sie ist eine Dame. Das setzt möglichen Attacken gewisse Grenzen", sagt etwa CDU-Politiker Ottfried Henning in einem Interview. "Heide Simonis kann eben das, was Männer können - und was Frauen können, kann sie auch", erklärt die damalige Bildungs- und Frauennministerin Gisela Böhrk einmal in einem Interview über ihre Chefin.

Eine steile politische Karriere

Heide Simonis wird am 4. Juli 1943 als Heide Steinhardt in Bonn geboren. 1967 beendet sie ihr Studium erfolgreich mit dem Abschluss Diplom-Volkswirtin. Im selben Jahr heiratet sie ihren Kommilitonen Udo Ernst Simonis. 1969 tritt Heide Simonis der SPD bei. Es folgen Abstecher nach Sambia und Japan, bevor sie ab 1972 als Berufsberaterin beim Arbeitsamt in Kiel angestellt wird. Von 1971 bis 1976 ist Simonis in der Kieler Ratsversammlung.

1976 gewinnt sie den Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde. Dabei setzt sie sich gegen den populären Bauernverbandspräsidenten Karl Eigen durch und ist das jüngste Mitglied im Deutschen Bundestag. Sie wird von ihrer Partei in den Haushaltsausschuss entsandt - als erste Frau der SPD-Fraktion. Über elf Jahre gehört sie dem Ausschuss an. 1988 wird sie von Björn Engholm als Finanzministerin nach Kiel berufen. Sie übernimmt ein schweres Amt, denn die Schulden des Landes sind auf Rekordniveau. Schnell macht sie sich einen Namen als knallharte Haushaltspolitikerin - auch als Verhandlungsführerin der öffentlichen Arbeitgeber für die Tarifverträge im öffentlichen Dienst. "Ich sitze wie eine Glucke auf fremdem Geld", ist einer ihrer Wahlsprüche.

Der "Heide-Mörder" bringt 2005 das politische Ende

Und nun also, 1993, ist die Finanzpolitikerin Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein. Es ist der Höhepunkt ihrer politischen Karriere - und mit Sachkompetenz, ihrer lockeren Art und dem Herz auf der Zunge verhilft Simonis dem Anblick einer Frau in einem hohen politischen Amt im Lauf der Jahre zu Normalität.

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Die bisherige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) sitzt am 27. April 2005 kurz vor der Wahl des neuen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten zum letzten Mal auf ihrem Platz im Landtag in Kiel. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Wulf Pfeiffer

Der "Heide-Mörder" stürzt Simonis

Ein anonymer Abgeordneter verhindert am 17. März 2005 die Wiederwahl von Heide Simonis. mehr

1996 verliert die SPD die absolute Mehrheit, bildet mit den Grünen aber eine Koalition, an deren Spitze Simonis steht. Im Jahr 2000 wird die Regierung bestätigt. Bis 2005 bleibt sie im Amt, dann kommt das spektakuläre politische Ende: Vier Wochen nach der Landtagswahl, bei der Simonis eine hauchdünne Mehrheit für ihre SPD erringen konnte, verweigert ihr ein Abgeordneter die Gefolgschaft. Es kommt zum siebeneinhalbstündigen Wahlkrimi. In vier nervenaufreibenden Wahlgängen erreicht Simonis keine Mehrheit für ihre Bestätigung als Ministerpräsidentin.

Ihr Kontrahent Peter Harry Carstensen (CDU) beerbt sie schließlich. Wer der "Heide-Mörder" ist, bleibt ein Rätsel. Zwar geraten schnell mehrere SPD-Abgeordnete ins Fadenkreuz der Verdächtigungen - als mögliche Motive werden persönliche Gründe, Rache oder Stimmenkauf genannt -, doch als "Verräter" enttarnt wird niemand.

"Das war schon ziemlich hinterhältig"

Nach dem Ende der Ära Simonis in Schleswig-Holstein gibt sie auf und beendet ihre politische Karriere. Dass ihre Wiederwahl schiefgehen könnte, hat sie nicht einmal geahnt - und braucht eine ganze Weile, um dieses Debakel persönlich zu verkraften. "Die ersten drei Monate waren schrecklich. Da wäre mir, wenn ich darüber nachgedacht hätte, nur Schlimmstes eingefallen", bekennt sie in einem Interview mit dem NDR 2013. "Wenn ich mir im Fernsehen Bilder davon angucke und sehe mein fassungsloses Gesicht, dann bleibe ich bei der Aussage: Das war schon ziemlich hinterhältig."

UNICEF-Engagement und "Bild"-Kampagne gegen "Let's Dance"-Teilnahme

Heide Simonis 2007 vor einem Schild mit dem UNICEF-Logo. © picture-alliance/ dpa Foto: Rainer Jensen
2005 übernimmt Heide Simonis den ehrenamtlichen Vorsitz für UNICEF Deutschland. Nach einer Spendenaffäre gibt sie das Amt 2008 wieder ab.

So belastend die Umstände ihres politischen Karriere-Endes auch sind, blickt sie nicht ohne Stolz auf einige Erfolge in ihren Amtszeiten und insbesondere auf ihre Rolle als erste weibliche Landes-Chefin in Deutschland zurück: "Generell gesehen hatte ich das große Glück, eine Vorreiterin der zukünftigen Rolle der Frau in der Politik zu sein", sagt Simonis 2018 in einem Interview mit den "Kieler Nachrichten". Zu den gelungenen Vorhaben zählt sie zum Beispiel die Modernisierung Schleswig-Holsteins, Innovationen in Wissenschaft und Medizin und die aktive Ostsee-Kooperation. Und fügt mit dem ihr typischen Humor hinzu: "Es gibt auch Leute, die sagen, ich hätte die deutsche Hutindustrie aus der Depression gerettet."

Gut ein halbes Jahr nach ihrem Aus im Landtag übernimmt die kinderlos gebliebene Simonis, die sich schon lange für die Belange von Kindern engagiert, den Vorsitz von UNICEF Deutschland. Im Rahmen dieses Engagements nimmt sie 2006 auch an der RTL-Fernseh-Show "Let's Dance" teil, um eigenen Aussagen zufolge Aufmerksamkeit für das Hilfsprojekt zu schaffen. Die "Bild"-Zeitung allerdings hat damit ihr Fressen gefunden, startet geradezu eine Hetzkampagne gegen die SPD-Politikerin und diffamiert sie auf der Titelseite mehrfach als "Hoppel-Heide". Nach einigen Folgen steigt Simonis aus der Show-Staffel aus und gibt gesundheitliche Gründe dafür an. Die Gage, die sie dennoch vom Sender erhält, spendet sie demnach an UNICEF.

Nach einer Spendenaffäre um das Kinderhilfswerk und damit zusammenhängenden Differenzen mit dem damaligen Geschäftsführer tritt Simonis Anfang 2008 auch vom Vorsitz der deutschen Vertretung zurück.

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Ehrenbürgerwürde und Willy-Brandt-Medaille für Simonis

Ex-Ministerpräsidentin Heide Simonis wischt sich am 30. Juni 2014 in Kiel (Schleswig-Holstein) nach ihrer Kürung zur ersten Ehrenbürgerin des Landes Schleswig-Holstein eine Träne aus dem Auge, rechts steht Ministerpräsident Torsten Albig (SPD). © picture alliance / dpa Foto: Carsten Rehder
Eine Ehrung, die sie zu Tränen rührt: Für die Verdienste um das Land wird Heide Simonis als erster Frau die Ehrenbürgerwürde Schleswig-Holtseins verliehen.

Eine besondere Ehre wird ihr im Jahr 2014 zuteil: Der damalige Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) verleiht ihr die Ehrenbürgerwürde des Landes. Auch in dieser Runde ist sie die erste Frau. Bis dahin wurde diese Ehre mit Helmut Schmidt (1998), Uwe Ronneburger (2000), Gerhard Stoltenberg (2002), Siegfried Lenz (2004), Armin Mueller-Stahl (2010) und Günther Fielmann (2016) nur Männern zuteil. Simonis habe das Erscheinungsbild des Landes entscheidend geprägt, das mit ihr einen großen Sprung in die Moderne gemacht habe, so Albig damals. Er würdigt Simonis als herausragende Persönlichkeit und Vorreiterin für andere Frauen.

Im selben Jahr gibt die einstige Politikerin ihre Parkinson-Erkrankung bekannt. Anlässlich ihres 75. Geburtstags und 25 Jahre nach ihrer Wahl zur ersten Ministerpräsidentin Deutschlands bedankt sich die SPD im Juli 2018 bei Heide Simonis mit der Willy-Brandt-Medaille für ihre besonderen Verdienste um die Sozialdemokratie - es ist die höchste Auszeichnung der Partei.

"Ein großes politisches Lebenswerk"

Zum 80. Geburtstag gratuliert ihr Ministerpräsident Daniel Günther (CDU): "Ich hoffe, dass Sie diesen besonderen Ehrentag im Kreise Ihrer Lieben, die Ihnen Geborgenheit und Kraft spenden, genießen können", heißt es laut Staatskanzlei in einem Glückwunschschreiben. "Für das neue Lebensjahr wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute." Simonis, die wegen ihrer Erkrankung zu Hause in Kiel gepflegt wird, habe das Land "wie keine andere Politikerin geprägt", schreibt die SPD-Landesvorsitzende Serpil Midyatli in einer Mitteilung. "Was wäre Schleswig-Holstein nur heute ohne Dich und Deinen unendlichen Einsatz für das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Menschen in unserem Bundesland?", fragt sie. In ihrer zwölfjährigen Amtszeit sei das Bundesland ein sozialeres, offeneres und klügeres geworden. Midyatli attestiert Simonis "ein großes politisches Lebenswerk".

Nach langer Krankheit mit 80 Jahren gestorben

Die guten Wünsche des politischen Umfelds und ihrer Parteigenossen werden von der Realität schnell eingeholt: Wenige Tage nach ihrem 80. Geburtstag stirbt Simonis nach langer Krankheit am 12. Juli 2023 in Kiel. Die Trauer in Schleswig-Holstein und darüber hinaus ist groß. Der Landtag in Kiel gedenkt der ehemaligen Regierungschefin, Flaggen der Dienstgebäude aller Behörden und Dienststellen des Landes hängen für zwei Tage auf halbmast. Die Sozialdemokratie habe mit Simonis "eine bedeutende Persönlichkeit, die Geschichte geschrieben hat", verloren, so die SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) twittert: "Heide Simonis war und bleibt ein Vorbild für viele in der Politik."

Serpil Midyatli, SPD. © NDR
AUDIO: Midyatli: Heide Simonis hat viele Dinge auf den Punkt gebracht (6 Min)

An einer Trauerfeier in der Kieler Petruskirche nehmen am 28. Juli 2023 etwa 500 Gäste und Besucher teil - darunter Regierungschef Günther (CDU), die SPD-Landesvorsitzende Midyatli, Simonis-Vorgänger Engholm, ihr Nachfolger Peter Harry Carstensen (CDU), Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und SPD-Chefin Esken.

"Was Heide Simonis bei den Menschen vor allem so beliebt gemacht hat, war ihre unverwechselbare Art. Sie war immer nahbar, ansprechbar, hat sich in die Sorgen und Nöte der Menschen hineinversetzen können. [...] Sie liebte das Land und die Menschen. Und die Menschen liebten sie." Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) in seiner Trauerrede

 

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 28.07.2023 | 19:30 Uhr

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