Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte bei der Abstimmung über seine Vertrauensfrage am 5. Februar 1982 im Bonner Bundestag die Stimmen aller 269 Abgeordneten der SPD/FDP-Regierungskoalition erhalten. © picture-alliance/ dpa Foto: Egon Steiner

Vertrauensfrage: Von Willy Brandt bis Olaf Scholz

Stand: 12.11.2024 15:00 Uhr

Von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder: Fünfmal haben Kanzler die Vertrauensfrage im Bundestag gestellt. In Kürze wird sich Olaf Scholz in diese Riege einreihen.

von Stefanie Grossmann

In der 75-jährigen Bundestagsgeschichte haben Regierungschefs bislang fünfmal die Vertrauensfrage gestellt, also einen "Antrag", ihnen "das Vertrauen auszusprechen", wie es Artikel 68 des Grundgesetzes beschreibt. Zweimal hat das Parlament versucht, den Kanzler über ein Misstrauensvotum zu stürzen. Eine Selbstauflösung des Bundestags ist ebenso wenig möglich wie eine Auflösung allein durch den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben mit diesen Vorgaben 1949 vorgesorgt - und die Konsequenz aus den instabilen Verhältnissen der Weimarer Republik gezogen.

1972: Brandt verliert Vertrauensfrage und gewinnt Neuwahlen

Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bei der Stimmabgabe (1972). © picture-alliance / dpa
Willy Brandt übersteht das Misstrauensvotum mit gerade mal zwei Stimmen.

Der erste Kanzler, der in der Geschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage stellt, um Neuwahlen einzuleiten, ist Willy Brandt im Jahr 1972. Erst Ende April hatte Brandt ganz knapp ein Misstrauensvotum überstanden. Grund: seine Ostpolitik - die Opposition hatte ihm den "Ausverkauf deutscher Interessen" vorgeworfen. Weil mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete in der Folge die Koalition verlassen hatten, befindet sich der Bundestag im Sommer immer noch in einer Pattsituation. Der Kanzler nutzt am 20. September 1972 gezielt den Schachzug der Vertrauensfrage. Brandt erhofft sich durch Neuwahlen, seine sozialliberale Koalition zu stabilisieren.

Brandts Rechnung geht auf: Er verliert die Vertrauensfrage, der Weg zu Neuwahlen ist frei. Im November erreicht die SPD bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von über 90 Prozent 45,8 Prozent. Am 14. Dezember 1972 wird Brandt zum zweiten Mal zum Kanzler gewählt.

1982: Helmut Schmidt profitiert nur kurz von Vertrauensfrage

Zehn Jahre später, am 3. Februar 1982, stellt Helmut Schmidt die Vertrauensfrage im Bundestag. Schmidts Regierungszeit ist geprägt von einer weltweiten Rezession, die auch Deutschland trifft. Allerdings führt der SPD-Politiker die Bundesrepublik besser durch die Ölkrise als die meisten anderen Industriestaaten. Das Ausland zollt dem Kanzler dafür Respekt, von der CDU/CSU-Opposition muss er sich vorwerfen lassen, die Wirtschaftskrise sei hausgemacht. Auch der Nato-Doppelbeschluss, für den Schmidt steht, sorgt in den eigenen Reihen und auch in der Bevölkerung für Unmut. Als nach acht Jahren die sozial-liberale Koalition zunehmend zerrüttet ist, ist die Vertrauensfrage Schmidts Versuch, sich seiner Regierungsmehrheit zu versichern.

Konstruktives Misstrauensvotum: Helmut Kohl wird Kanzler

Schmidt gewinnt die Vertrauensfrage und kann sich vorerst an der Macht halten. Doch der Erfolg hält nicht lang an - ein halbes Jahr später scheitert die sozialliberale Koalition, vor allem an Differenzen in der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff fordert damals eine konsequente Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, eine Haushaltskonsolidierung und die Kürzung einschlägiger Sozialleistungen. Als SPD-Mann kann Schmidt sozialen Einschnitten nicht zustimmen. Am 17. September 1982 treten sämtliche FDP-Bundesminister zurück. Schmidt führt die Regierungsgeschäfte für kurze Zeit ohne Mehrheit im Bundestag weiter. Am 1. Oktober 1982 wird er mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl wird sein Nachfolger im Kanzleramt - ohne Neuwahlen. Weil ihm die Legitimation im Bundestag fehlt, stellt er seinerseits noch im selben Jahr die Vertrauensfrage, die er verliert. Allerdings kann Kohl die anschließenden Neuwahlen am 6. März 1983 gewinnen. Er bildet eine -Koalition aus CDU/CSU und FDP.

2001: Gerhard Schröder knüpft Vertrauensfrage an Abstimmung

Lachend verfolgen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) am 16.11.2001 im Berliner Reichstag die Rede des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz. Der Bundestag stimmt über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und die damit verbundene Vertrauensfrage ab. © picture-alliance / ZB Foto: Bernd Settnik
2001 verknüpft Gerhard Schröder (rechts) die Vertrauensfrage mit der Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan.

Gerhard Schröder stellt während seiner Amtszeit als Kanzler zweimal die Vertrauensfrage. 2001 verknüpft der SPD-Politiker nach den Terroranschlägen vom 11. September die Abstimmung über einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit bis zu 3.900 Soldaten mit der Vertrauensfrage. Die erstmalige Bereitstellung von deutschen Soldaten außerhalb des Nato-Gebietes nennt er eine "Zäsur". Viele Abgeordnete in der rot-grünen Koalitionen fühlen sich von Schröder erpresst. Doch dieser will die Koalition hinter sich wissen und das "Heft des Handelns“, wie er selbst es beschreibt, in der Hand behalten. Schröder übersteht den politischen Machttest mit dem Druckmittel Vertrauensfrage.

2005: Schröder verliert das Vertrauens und die Wahl

2005 ist die Situation eine andere: Schröder sorgt mit seiner "Agenda 2010" für viel Unmut bei den Menschen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im neuen Arbeitslosengeld II bringt Schröder Lob zwar von der Wirtschaft. Doch die Stammwähler laufen der SPD wegen der Hartz-IV-Gesetze weg. Nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stellt Schröder am 1. Juli 2005 schließlich die Vertrauensfrage im Bundestag. Der Kanzler sieht eine mangelnde Unterstützung seiner rot-grünen Regierungskoalition - und will eine Auflösung des Bundestags erreichen. Doch anders als bei Brandt oder Schmidt geht Schröders Rechnung nicht auf: Das Parlament entzieht ihm zwar das Vertrauen, aber bei den vorgezogenen Neuwahlen am 18. September wird die CDU stärkste Partei.

2024: Scholz kündigt Vertrauensfrage an

Fast 20 Jahre nach Schröder stehen die Abgeordneten im Bundestag erneut davor, eine Vertrauensfrage mit Ja oder Nein zu beantworten. Nach dem Bruch der Ampel-Koalition und dem Ausscheiden der FDP-Minister verfügt Olaf Scholz (SPD) zusammen mit den Grünen nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament. Die Vertrauensfrage hatte der Kanzler zunächst für den 15. Januar 2025 angekündigt, Neuwahlen hätten somit im März stattfinden können. Allerdings forderte die Opposition einen früheren Termin für die Vertrauensfrage und auch für die Neuwahlen - angesichts der kriselnden Wirtschaft und der geopolitischen Herausforderungen nach der Wiederwahl von Donald Trump in den USA.

Nun wird sich Scholz tatsächlich früher, nämlich am 16. Dezember, der Vertrauensabstimmung im Bundestag stellen. Verliert Scholz wie erwartet die Abstimmung, wäre der Weg frei für Neuwahlen am 23. Februar 2025.

Es zeigt sich, dass die Vertrauensfrage eng mit wirtschaftspolitischen Erfolgen einer Regierung und der "Sozialen Frage" verknüpft ist. Sowohl Schmidt als auch Schröder sind schlussendlich daran gescheitert und haben das Vertrauen von Parlament und Bevölkerung verloren. Jetzt steht auch Scholz vor dieser Bewährungsprobe und einem möglichen Machtverlust.

FAQ: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Vertrauensfrage

Nach dem Aus der Ampel-Koalition will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Vertrauensfrage im Bundestag stellen. Welche gesetzlichen Fristen und Begrenzungen sieht das Grundgesetz für dieses Verfahren vor? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was ist die Vertrauensfrage?

Nach Artikel 68 des Grundgesetzes kann der Bundeskanzler im Bundestag die sogenannte Vertrauensfrage stellen. Dies kann mit einem konkreten Gesetzesvorhaben verknüpft sein, muss es aber nicht. Frühestens 48 Stunden nach dem Antrag für die Vertrauensfrage darf der Bundestag über diese abstimmen. Wenn der Kanzler bei der Vertrauensfrage keine Mehrheit erhält, kann er den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen.

 

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NDR Info | Aktuell | 07.11.2024 | 17:20 Uhr

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