1973: Ölkrise beschert Deutschland autofreie Sonntage
Gähnende Leere auf deutschen Autobahnen: Am 25. November 1973 tritt erstmals das Sonntagsfahrverbot in Kraft. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren gelassen, nutzen Straßen und Autobahnen als Spazierrouten.
Zu Fuß, auf Rollschuhen, mit dem Fahrrad oder sogar mit der Pferdekutsche: So machen sich Tausende Menschen an den vier autofreien Sonntagen im November und Dezember 1973 auf den Weg und spazieren über Autobahnen und Straßen. Noch heute sind die Bilder gut gelaunter Fußgänger auf leeren Autobahnen bei vielen Älteren im Kopf, wenn sie an die frühen 1970er-Jahre denken.
Ölkrise: OPEC dreht den Hahn zu
Hintergrund des Fahrverbots, das die Menschen dazu zwingt, ihre Autos sonntags stehen zu lassen, ist eine plötzlich akute Ölknappheit. Ausgelöst wird sie durch den Nahostkonflikt: Die OPEC, die Organisation der Erdöl exportierenden Länder, ist damals von arabischen Staaten dominiert. Sie verhängt ein Ölembargo gegen die USA und ihre Verbündeten, um diese zu zwingen, ihre israelfreundliche Haltung im Jom-Kippur-Krieg aufzugeben, in dem sich Israel gegen Angriffe aus Ägypten und Syrien wehrt. Als Folge des Embargos wird Öl knapp, sein Preis explodiert - und den westlichen Industrieländern wird schlagartig ihre Abhängigkeit vom Öl aus Nahost bewusst.
Ölkrise: Autofreie Sonntage und Tempolimit auf Autobahnen
Die Ölkrise erreicht auch Deutschland. Die Bundesrepublik erlässt das Energiesicherungsgesetz. Es verordnet dem Land vier autofreien Sonntage am 25. November sowie am 2., 9. und 16. Dezember, außerdem ein sechsmonatiges Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen sowie 80 auf Landstraßen. Rund 13 Millionen Autobesitzer sind betroffen. Es gelten nur wenige Ausnahmen vom Sonntagsfahrverbot, etwa für Ärzte, Feuerwehr, Taxifahrer und die Polizei.
ADAC fordert "freie Fahrt"
Im Vorfeld kommt es zu einzelnen Protesten: "Freie Bürger fordern freie Fahrt!", steht auf Plaketten, die der ADAC verteilt und mit denen aufgebrachte Autofahrer und -fahrerinnen ihren Unmut kundtun. Andere sind unsicher, ob sie als Schwerbeschädigte Anrecht auf eine Ausnahmegenehmigung haben oder sorgen sich, wie sie im Falle eines Unfalls zum Krankenhaus kommen sollen. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger reagiert jedoch gelassen.
Volle Busse und Bahnen In Hamburg
Trotz aller Befürchtungen bleibt das große Chaos am autofreien Sonntag aus. In Hamburg registriert der Verkehrsverbund (HVV) registriert allerdings einen "unerwartet starken Andrang auf Schnellbahnen und Busse," berichtet das "Hamburger Abendblatt".
Über eine Million Fahrgäste und damit doppelt so viele wie für einen Sonntag üblich nutzen am 25. November die öffentlichen Verkehrsmittel, zeitweise bilden sich an den Bushaltestellen lange Schlangen. Die Autobahnen bleiben dagegen leer, die meisten Autofahrer halten sich an das Verbot.
Autobahnen und Straßen im Norden leergefegt
In Niedersachsen zählt die Polizei auf der A7 zwischen Hannover und Göttingen "in beiden Richtungen stündlich zwei bis drei Fahrzeuge", schreibt das "Hamburger Abendblatt". Auch in Schleswig-Holstein sind die Straßen leergefegt. In Kiel registriert die Polizei bei insgesamt 580 Kontrollen nur einen einzigen Verstoß gegen das Fahrverbot: Ein 26-Jähriger war mit seinem Mofa "nur mal schnell um die Ecke gefahren", um Kuchen zu holen, so die "Kieler Nachrichten".
Mit Pferd und Schlitten durch die Kieler Innenstadt
In der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt schneit es am Vormittag. Und so erobern Kinder die Straßen von Kiel mit ihren Rodelschlitten. Andere sind auf dem Pferd in der Innenstadt unterwegs, "die Stadt verwandelte sich in eine einzige Fußgängerzone" berichten die "Kieler Nachrichten und resümieren": "Dieser 'autolose Sonntag' hatte viele schöne Seiten. Himmlische Ruhe ab 3 Uhr nachts für die Innenstadtbewohner. (...) Überall breitete sich ein frischer Duft aus. Die Benzindünste waren vom Sonnabendsturm verweht, jetzt roch es nach frischer Land- und Meeresluft."
Restaurants und Blumenhändler mit Umsatzausfällen
Doch nicht für alle ist der autofreie Sonntag ein Grund zur Freude. So beklagen die Blumenhändler einen Umsatzausfall von 70 Prozent, weil die Kunden die Fahrt zum Friedhof am 25. November, dem Totensonntag, ausfallen ließen. Und auch in zahlreichen Ausflugslokalen bleiben die Tische leer.
Rund 60 Millionen Liter Kraftstoff werden am ersten autofreien Sonntag eingespart, schätzt der Automobilclub von Deutschland (AvD) wenige Tage später. Drei weitere Sonntage gilt das Fahrverbot. Doch immer mehr Ausnahmegenehmigungen sorgen dafür, dass es auf den Straßen schließlich immer voller wird, sodass sich am letzten der vier Sonntage sogar wieder Staus bilden. Später stellte sich heraus, dass die Einsparwirkung insgesamt gering war.
Energiesparen erstmals größeres gesellschaftliches Thema
Hauptziel des Fahrverbots sei es ohnehin nicht gewesen, Öl zu sparen, erklärt Helmut Schmidt, damals Finanzminister der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt, Jahre später. "Das war ein Nebeneffekt. Der eigentliche Zweck war, den Menschen klar zu machen: Dies ist eine ernste Situation." Tatsächlich dringen Themen wie Energiesparen, Nachhaltigkeit und eine mögliche Abkehr vom Öl bei weiten Teilen der Gesellschaft durch die Ölkrise von 1973 erstmals ins Bewusstsein. Dass Energie ein kostbares Gut ist, sei eine Erkenntnis der 70er-Jahre, so der Historiker Rüdiger Graf vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Gesetzlich verordnete autofreie Sonntage gibt es nach 1973 in der Bundesrepublik nicht mehr. Dafür folgen andere Maßnahmen, die darauf abzielen, Energie zu sparen und unabhängiger vom Öl zu werden. Dazu zählen etwa der Bau von 40 Atomkraftwerken sowie die Einführung der Sommerzeit im Jahr 1980.
Hamburg: Freiwillige autofreie Aktionstage ab 2008
Vorstöße, autofreie Sonntage zu etablieren, gibt es später immer wieder. So finden etwa in Hamburg zwischen 2008 und 2011 mehrere autofreie Aktionstage statt - allerdings auf freiwilliger Basis. Sie sollen mehr Menschen zum Umstieg vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen. Doch obwohl die Nutzung von Bus und Bahn an den Aktionstagen kostenlos ist, werden die Versuche wieder eingestellt - sie seien kein probates Mittel, die Menschen zum Umstieg zu bewegen.
Energiekrise 2022: Rückkehr der autofreien Sonntage?
Angesichts der Energiekrise durch den Ukrainekrieg flammt die Diskussion um autofreie Sonntage 2022 erneut wieder auf. Experten errechnen, dass 1,2 Millionen Tonnen Kraftstoff gespart werden könnten, wenn jeder zweite Sonntag autofrei wäre. Andere halten dagegen, dass ein Tempolimit auf den Autobahnen eine sehr viel effizientere Maßnahme wäre. Schon bald ist die Debatte wieder vom Tisch. Autofreie Sonntag wären auch im Jahr 2022 ohnehin nur das gewesen, was sie bereits 1973 gewesen seien, erklärte Historiker Graf gegenüber dem "Spiegel": reine Symbolpolitik.