NATO-Doppelbeschluss: Massenprotest gegen nukleare Aufrüstung
Auf die sowjetische Stationierung von Atomraketen vom Typ SS-20 folgt 1979 der NATO-Doppelbeschluss. Er kündigt eigene Raketen an, falls Abrüstungsgespräche nicht erfolgreich sein sollten. Hunderttausende protestieren gegen die Nachrüstung.
"Da muss nur irgendwer mal einen technischen Fehler machen. Oder irgendein untergeordneter Kommandeur, der verrückt spielt, kann hier die absolute Katastrophe auslösen." So fasst der Friedensaktivist Bernhard Pfitzner aus Hannover die Angst der Menschen vor einem Atomwaffeneinsatz in den 70er-Jahren zusammen - und vergleicht sie mit den aktuellen Sorgen, der Krieg in der Ukraine könne eskalieren. Damals ging es um eine mögliche Konfrontation zwischen den Supermächten UdSSR und USA auf europäischem und speziell auf deutschem Boden. In vielen europäischen Ländern wurde gegen den Doppelbeschluss der Nato zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen protestiert. Am stärksten war die Friedensbewegung aber in der Bundesrepublik, wo sie zur größten Bürgerbewegung in der Geschichte des Landes wurde.
KSZE-Schlussakte lässt Rüstungsfragen offen
Nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 hatten viele an eine dauerhafte Entspannung zwischen Ost und West geglaubt. Sie übersahen, dass über Fragen des Militärs und der Rüstung in Helsinki nicht verhandelt worden war, weil die Unterzeichnerstaaten sonst schwer zu einer gemeinsamen Abschlusserklärung gekommen wären. Die Hoffnung auf eine dauerhafte Entspannung wurde auch durch Abrüstungsverhandlungen genährt.
Rüstungsbeschränkung nur im Interesse der Großmächte?
1972 war mit SALT 1 - dem ersten Vertrag als Ergebnis der Strategic Arms Limitation Talks - ein erstes Abkommen zur Rüstungsbegrenzung zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossen worden. Anschließend wurde über SALT 2 verhandelt. Während die meisten Deutschen wahrnahmen, dass die Großmächte über Rüstungskontrolle sprachen, beobachtete Bundeskanzler Helmut Schmidt - wie auch Militärexperten in Europa - mit Sorge, dass es dabei primär um die Sicherheitsinteressen der Großmächte selbst ging.
In Europa war die UdSSR dem Westen bei der konventionellen Rüstung überlegen. Außerdem hatte Moskau begonnen, im Bereich der atomaren Mittelstreckenwaffen alte SS4- und SS5-Systeme durch moderne, zielgenauere und mit mehreren Sprengköpfen ausgestattete SS-20 auszutauschen. Dazu kamen militärpolitische Entscheidungen in Washington, die die Europäer beunruhigten. Schmidt fürchtete, dass die Großmächte sich bei der Rüstungsbeschränkung einigen könnten, ohne dass die Sicherheitsinteressen der Europäer - und der Deutschen zumal - beachtet würden. Das thematisierte er bei einer Rede in London im Hebst 1977. Die Rede wurde als Aufforderung zu einer Aufrüstung bei den taktischen Atomwaffen in Europa aufgenommen. In der politischen Diskussion in Westdeutschland war von "Nachrüstung" die Rede.
Atomwaffen als "Perversion des Denkens"
Bei den Bundesbürgern, die sich an eine erfolgreiche Entspannungspolitik gewöhnt hatten, kam Schmidts Rede mehrheitlich nicht gut an. Auch Bernhard Pfitzner, damals noch Student, gehörte zu dieser Mehrheit: "Das wurde schon als eine ausgesprochen bedrohliche Situation empfunden." Ein Vorschlag der USA, Neutronenbomben nach Europa zu liefern, verschlimmerte die Lage, statt sie zu beruhigen. "Ich meine, Egon Bahr war es, der sie als Perversion des Denkens bezeichnet hat, weil die Neutronenbombe ja eine Waffe sein sollte, die "nur" - in Anführungsstrichen! - Menschen tötet, die Sachwerte aber unbeschädigt lässt."
NATO-Doppelbeschluss: Sicherheit oder Wettrüsten?
Zwischen 1977 und 1979 verschlechterte sich das Klima zwischen der UdSSR und den USA, wo mittlerweile der Demokrat Jimmy Carter zum Präsidenten gewählt worden war. Innerhalb der NATO wurde über das militärische Sicherheitskonzept in Europa diskutiert. Am 12. Dezember 1979 schließlich wird der sogenannte NATO-Doppelbeschluss gefasst. Er kündigt eine Stationierung von Pershing-Raketen und Marschflugkörpern an, falls die Sowjetunion nicht bei ihren auf Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen abrüstet. Es gehe darum, die "Entspannungspolitik abzusichern", begründet Bundesverteidigungsminister Hans Apel damals.
Bernhard Pfitzner sagt, er habe da eher ein Signal zu einem neuen Wettrüsten gesehen. In der Friedensbewegung seien die Meinungen darüber auseinander gegangen, ob die Sowjetunion oder der Westen dafür verantwortlich sei.
"Krefelder Appell" und Groß-Demo gegen nukleare Aufrüstung
Eines bewirkt der NATO-Doppelbeschluss auf jeden Fall: Er weckt die Aufmerksamkeit auch derer, die sich bisher nicht mit dem Thema Rüstung und Abrüstung auseinandergesetzt haben. Der "Krefelder Appell" vom 16. November 1980, der die Bundesregierung aufruft, ihre Zustimmung zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen in Europa zurückzuziehen, wird in den folgenden drei Jahren von vier Millionen Menschen unterzeichnet.
Wie groß die Sorge um den Frieden in Deutschland ist, wird am 10. Oktober 1981 bei der großen Friedensdemonstration in Bonn sichtbar. 250.000 bis 300.000 Menschen folgen dem Aufruf der "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" (ASF), der von mehr als 1.000 politischen und kirchlichen Organisationen unterstützt wird. Es wird die bis dahin größte Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik.
Mit dem Sonderzug zum Protest nach Bonn
Für Bernhard Pfitzner war die Demonstration in Bonn rückblickend einer der Höhepunkte der Friedensbewegung. Nicht nur weil so viele Menschen daran teilgenommen haben, sondern weil es für den heute 73-Jährigen auch persönlich eine besondere Erfahrung war. Er hat damals die Sonderzüge aus Hannover in die Bundeshauptstadt organisiert. "Viele, auch in meinem Umkreis, waren eher skeptisch, ob wir einen Sonderzug mit 700 Menschen voll kriegen." Am Ende waren Sonderzüge für 3.000 Personen ausgebucht. "Also das war schon eine Euphorie, das kann ich nicht anders sagen."
In fünf Demonstrationszügen bewegen sich die Demonstranten auf den Platz der zentralen Kundgebung, den Bonner Hofgarten zu. Überall am Weg gibt es ein Kulturprogramm mit Musik und Reden. Die Polizei hält sich betont im Hintergrund und trägt so zu einem friedlichen Verlauf bei.
Bundesrepublik "wächst" um "atomwaffenfreie Zonen"
Auch nach der Bonner Demonstration bleiben viele Menschen in der Friedensbewegung aktiv. Bernhard Pfitzner berichtet über Stadtteil-Initiativen oder Gewerkschafts-Friedensgruppen, über "Künstler für den Frieden" und "Sportler für den Frieden". Schulen, Nachbarschaften, Gemeinden erklären sich zu "atomwaffenfreien Zonen". Der Beschluss hat keine rechtliche Kraft - aber die Signalwirkung sei wichtig gewesen, sagt Pfitzner. Er selbst arbeitet ab 1982 hauptberuflich bei der Deutschen Friedens-Union.
Schmidt stürzt - Grüne wachsen an Friedensbewegung
Die Verhandlungen mit der Sowjetunion über die atomaren Mittelstreckenraketen verlaufen ergebnislos - und die innenpolitische Diskussion über den anstehenden Nachrüstungsbeschluss wird äußerst kontrovers geführt. Die im Januar 1980 gegründeten Grünen werden zur parlamentarischen Plattform für die Friedensbewegung ebenso wie für die Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung. In der SPD hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss mit initiiert, die Mehrheit der Parteibasis aber lehnt ihn schließlich ab. Die Unionsparteien sind im Gegenzug für die Nachrüstung, die FDP ebenfalls. Auch in anderen politischen Fragen nähern sich Union und FDP an - am 1. Oktober 1982 wird Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt und Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.
Nachrüstungsbeschluss trotz Millionen-Protest
Am 22. Oktober 1983, einen Monat vor der Abstimmung über die Nachrüstung im Bundestag, demonstrieren mehr als eine Million Menschen überall in der Republik gegen die Raketen-Stationierung: mit Kundgebungen, Friedensmärschen und einer Menschenkette aus rund 200.000 Teilnehmern zwischen Neu-Ulm und Stuttgart. Einen Monat später wird die Stationierung der Mittelstreckenraketen im Bundestag mit der Mehrheit der mittlerweile regierenden Koalition von Union und FDP verabschiedet.
Bernhard Pfitzner zieht rückblickend trotzdem eine positive Bilanz. Die Friedensbewegung konnte den Nachrüstungsbeschluss zwar nicht verhindern, habe aber habe bei sehr vielen Menschen zu einem Umdenken geführt: "Also da haben wir tatsächlich etwas erreicht, was bis heute nachwirkt."