KSZE Gipfel in Helsinki 1975: (v.l.n.r.) Helmut Schmidt (Bundesrepublik Deutschland), Erich Honecker (DDR), Gerald Ford (USA) und Bruno Kreisky (Oesterreich). © picture-alliance/akg-images
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AUDIO: Die 70er: Der KSZE-Prozess und die DDR-Opposition (10/12) (35 Min)

Der KSZE-Prozess und die Folgen für die DDR-Opposition

Stand: 08.02.2023 05:00 Uhr

Durch das Bekenntnis zu den Menschenrechten in der KSZE-Schlussakte von 1975 - zunächst eine reine Absichtserklärung - wurde die DDR nicht automatisch zum Rechtsstaat. Dann aber stärkte es Dissidenten und Oppositionelle in Osteuropa.

von Ulrike Bosse, NDR Info

"Ich glaube diese Haltung, dass man nichts verändern kann an der starren Aufteilung der Welt in zwei sich antagonistisch gegenüberstehenden Blöcke, das war das Bewusstsein in der übergroßen Mehrheit." So beschreibt die DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe den Gemütszustand der Menschen Anfang der 70er-Jahre. Doch der KSZE-Prozess brachte die Verhältnisse in Bewegung.

Der Kalte Krieg und der Geist von Helsinki

Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, die KSZE, tritt 1973 in Helsinki zusammen, um diplomatische Lösungen für die schwelenden Konflikte des Kalten Krieges zu finden. Die Sowjetunion und die Staaten des Ostblocks wollen die Machtverhältnisse, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa herausgebildet haben, absichern. Dem Westen geht es darum, die Grundsätze der UN-Charta in all ihren Teilen in ganz Europa durchzusetzen. Ostberlin feiert, dass die DDR im Rahmen der KSZE international gleichberechtigt neben der Bundesrepublik auftreten kann.

KSZE Gipfel in Helsinki 1975: (v.l.n.r.) Helmut Schmidt (Bundesrepublik Deutschland), Erich Honecker (DDR), Gerald Ford (USA) und Bruno Kreisky (Oesterreich). © picture-alliance/akg-images
AUDIO: KSZE-Schlussakte: Annäherung zwischen Ost und West (15 Min)

DDR-Bürger gehen auf Distanz zum Staat

Ulrike Poppe © NDR Foto: Franziska Amler
Die gebürtige Rostockerin Ulrike Poppe war bereits ab Mitte der 70er-Jahre in oppositionellen Kreisen der DDR aktiv.

Im Inneren begnügt sich die SED-Führung mittlerweile meist mit der Erfüllung formaler Pflichten als Ausweis ideologischer Linientreue. Unter der ruhigen Oberfläche aber wächst bei vielen DDR-Bürgern die Distanz zu dem sozialistischen Staat. An Feiertagen seien Millionen jubelnd an der SED-Parteiführung vorbeimarschiert, hinterher in der Kneipe aber hätten sie politische Witze gerissen oder die Faust unterm Tisch geballt, erzählt Ulrike Poppe.

"Der Staat schrieb uns vor, was wir lesen dürfen. Auf welchem Weg wir uns informieren dürfen. Welche Länder wir bereisen dürfen, wenn überhaupt. Er schrieb uns unsere Meinungen vor und eigentlich auch unseren Lebensstil", beschreibt Ulrike Poppe, was sie und ihre Freunde störte. Dass sie als normale Bürgerinnen und Bürger des Staates DDR keine Möglichkeiten hatten, die Politik mitzugestalten, wollten sie nicht mehr hinnehmen. "Und das mündete dann darin, dass wir so kleine Diskussionsgruppen hatten, die zum Teil sehr konspirativ auch an Veränderungsmodellen gearbeitet haben." Wenn die Stasi davon erfuhr, drohten Verhaftungen.

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An der Fassade des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Berlin-Mitte ist im Januar 1990 das Partei-Emblem mit dem Händedruck vor der roten Fahne zu sehen. © picture alliance / ZB Foto: Karlheinz Schindler

Wie die SED den DDR-Alltag steuerte

Im April 1946 wurde die SED gegründet. Als spätere Staatspartei der DDR wirkte sie in alle Lebensbereiche hinein. mehr

Souveränität und Menschenrechte: 35 Staaten unterzeichnen

Bundeskanzler Helmut Schmidt (r) und der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker (l) schütteln sich am 1. August 1975 vor Beginn der Arbeitssitzung am letzten Tag der KSZE-Konferenz in Helsinki in Finnland die Hände. © picture alliance / Heinrich Sanden Foto: Heinrich Sanden
Handschlag zwischen Ost und West in Helsinki 1975: Dass die DDR neben der Bundesrepublik gleichberechtigt auftreten konnte, hatte für den sozialistischen Staat einen immensen Image-Wert.

Am 1. August 1975 unterzeichnen 35 Staats- und Regierungschefs das Abschluss-Dokument der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - die KSZE-Schlussakte. Für die Garantie der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Achtung der Souveränität ihres Herrschaftsbereichs ist die Sowjetunion bereit, die vom Westen geforderte "Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" zuzugestehen. Vereinbart werden außerdem Kooperationen in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Bildung und Verbesserungen der menschlichen Kontakte mit Reisemöglichkeiten aus beruflichen und persönlichen Gründen. Letzteres sind zunächst einmal nur Absichtserklärungen, deren Umsetzung ins Ermessen der jeweiligen Regierungen gestellt ist.

Ulrike Poppe erzählt, dass sie und ihre Freunde anfangs nicht glaubten, dass sich durch die KSZE-Schlussakte für ihr Leben etwas ändern würde. "Auch in der DDR-Verfassung stand einiges, was das Papier nicht wert war - also, woran sich der Staat nie gehalten hat." Aber: "Es war auch ein Stück weit eine Hoffnung, weil man sich ja darauf berufen konnte. Wobei diejenigen, die sich darauf beriefen, natürlich auch immer damit rechnen mussten, dass das nicht anerkannt wird."

SED lässt Grundrechte weiterhin einschränken

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatte die SED-Führung vor Zugeständnissen bei den Menschen- und Grundrechten im KSZE-Prozess gewarnt. Die Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs, das heute Teil des Bundesarchivs ist, haben die Dokumente von damals gesichtet und zum Teil veröffentlicht. Sie zeigen, dass das MfS vor allem die Vereinbarungen über menschliche Kontakte und Informationsfreiheit fürchtete. Auf der Website des Bundesarchivs wird darauf hingewiesen, dass die SED ihre Geheimpolizei anwies, unerwünschte Nebenwirkungen zu bekämpfen - den Bürgern der DDR also weiterhin die Grundfreiheiten vorzuenthalten.

Ulrike Poppe erzählt, wie das in der Praxis aussah: "Also ich erinnere mich an eine Szene, dass jemand mit einem Schild vor der neuen Wache in Berlin Mitte stand, auf dem nur stand 'Helsinki Korb drei', nichts weiter. Und er stand vielleicht - ich habe das beobachtet - er stand vielleicht drei Minuten dort, da rannten aus verschiedenen Richtungen Männer auf ihn zu, sicherlich Staatssicherheitsleute, die ihm sofort die Arme nach hinten drehten und ihn dann wegschleppten."

Selbstverpflichtung statt völkerrechtlich bindender Vertrag

Leonid Breschnew (l), Generalsekretär des ZK der KPdSU, und Erich Honecker, Erster Sekretär des ZK der SED, in einem Gespräch am Rande der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki 1975. © picture alliance / Vladimir Musaelyan, Valentin Sob
Leonid Breschnew (l), Generalsekretär der KPdSU und Erich Honecker am Rande der KSZE 1975: Zu Rechtsstaaten wurden die sozialistischen Nationen durch ihre Unterschriften nicht.

Die sozialistischen Staaten wurden durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte nicht zu Rechtsstaaten. Und das Dokument war auch kein völkerrechtlich bindender Vertrag, sondern folgte dem Prinzip einer Selbstverpflichtung. Aber die Staats- und Regierungschefs hatten etwas unterzeichnet, worauf sich die Bevölkerung berufen konnte. Durch Folge-Konferenzen zu Helsinki standen die Unterzeichnerstaaten unter internationaler Beobachtung.

Daraus ergab sich für Opposition in der DDR eine Handlungsoption, sagt Ulrike Poppe: "Also die Sucht nach internationaler Anerkennung, sich zu repräsentieren als ein Staat, der die Menschenrechte achtet, die hat diesen Staat auch verletzbar gemacht, und zwar wenn wir tatsächliche Menschenrechtsverletzungen öffentlich gemacht haben. Und das musste um jeden Preis verhindert werden."

DDR-Repressionen setzen in der Folge schon früher an

Das DDR-Regime fing an, mit weniger offensichtlichen Formen der Repression zu arbeiten. Erst viel später sei ihnen klar geworden, dass dies im Zusammenhang zu Helsinki stand, sagt Ulrike Poppe. So wurde entschieden, "nicht mehr so viel Kritiker des Systems einfach einzusperren, sondern die Opposition im Vorfeld zu ersticken". Gegen alle, die als "Staatsfeinde" betrachtet wurden, wurde die sogenannte Zersetzungs-Strategie entwickelt.

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Die Methoden, mit denen die Stasi jetzt bevorzugt arbeitete, beschreibt Ulrike Poppe so: "Zu organisieren, dass die Freunde sich von ihnen abwenden, indem man Gerüchte streut. Misstrauen zu erzeugen. Oder Menschen psychisch, seelisch mit sehr perfiden Maßnahmen zu zerstören." Diese Maßnahmen seien "bis Ende der 80er-Jahre so durchgezogen" worden - unter Einsatz sehr vieler Inoffizielle Mitarbeiter (IM).

Die Stasi hört mit - alles

Ulrike Poppe selbst erlebte im Zusammenhang mit der Verhaftung von Freunden zweimal Hausdurchsuchungen. Sie wurde zu Vernehmungen einbestellt. Es gab einen vergeblichen Anwerbeversuch der Stasi. Zur Jahreswende 1983/84 wurde sie sechs Wochen lang im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen eingesperrt. Ihre Wohnung wurde abgehört: "Mein Mann hatte ein Mikrofon ausgebaut, das praktisch in der Decke steckte. Direkt über unserem Tisch, am wir bei unseren Diskussionsrunden saßen. Wir hatten die Wohnung ganz oben, über uns war der Trockenboden, und von dort aus haben die Stasi-Leute einen Keramikstab, an dessen Spitze sich ein Mikrofon sich befand, hineingesteckt", berichtet sie. Das Mikrophon sei so empfindlich gewesen, dass selbst Flüstern aufgezeichnet wurde. Sie führte ein Leben unter ständiger Beobachtung. "Es war schon gruselig, weil die natürlich auch jede private Lebensäußerung, jeden Streit um den Abwasch und jedes Kindergeschrei mithören und auswerten konnten."

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Dass Oppositionelle und Bürgerrechtler sich aber immer weniger einschüchtern ließen, wurde zu einem Problem in den sozialistischen Staaten. Im Januar 1977 wurde die "Charta 77" veröffentlicht, in der Oppositionelle in der Tschechoslowakei unter Berufung auf die KSZE-Schlussakte die Einhaltung der Menschenrechte anmahnten. Auch Dissidenten in Polen und der Sowjetunion beriefen sich auf den KSZE-Prozess.

In der DDR kam etwas anderes dazu: Auch Ausreisewillige verwiesen auf die KSZE-Schlussakte. Denn während die Bürger der anderen sozialistischen Staaten sich nur mit ihren Regimen auseinandersetzen konnten, wenn sie unzufrieden waren, gab es für DDR-Bürger auch die Perspektive auf ein Leben in der Bundesrepublik. Wären die Vereinbarungen von Helsinki vollständig umgesetzt worden, hätten die Bürger ein Recht auf Freizügigkeit gehabt - das aber war für die SED-Führung undenkbar. Die Anträge auf "ständige Ausreise" bedrohten die Stabilität der DDR am Ende ebenso wie die explizite Opposition.

KSZE-Akte als Werkzeug für Oppositionelle

Ulrike Poppe sagt, Erich Honecker habe die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, weil er sich dadurch mehr internationale Anerkennung erhoffte. Er habe sich damit aber auch angreifbar gemacht. Das Regime musste verhindern, dass seine Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit kommen. Damit habe die Opposition ein Mittel in die Hand bekommen, mit dem sie arbeiten konnte - auch wenn es nach Helsinki noch mehr als zehn Jahre gedauert hat, ehe die DDR zusammenbrach.

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NDR Info | Deine Geschichte – unsere Geschichte | 12.02.2023 | 14:30 Uhr

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