Bundeswehrsoldaten in Baumholder (Rheinland-Pflalz) inspizieren am 13. März 1957 eine US-amerikanische Waffe, die in der Lage ist, Atomgranaten abzufeuern. © picture alliance / AP Foto: Horst Faas

Eine Welt in Waffen: Der Westen mit Bundeswehr und NATO

Stand: 21.07.2021 05:00 Uhr

"Nie wieder Krieg!" schwören die meisten Deutschen in den 50er-Jahren. Pläne zur Wiederbewaffnung sorgen für heftige Kontroversen. Doch der Kalte Krieg stimmt viele in ihrer Haltung zu Bundeswehr und Bündnispartnern um.

von Ulrike Bosse, NDR Info

Die 50er-Jahre sind eine Zeit des Aufbruchs und Neuanfangs. Aber der Zweite Weltkrieg steckt den Menschen in den Knochen - auch wenn sie versuchen, ihn hinter sich zu lassen oder zu verdrängen. Er ist nicht nur in den Erinnerungen präsent, sondern es gibt immer wieder Ereignisse, die Angst vor einem neuen Krieg auslösen: die Berlin-Blockade 1948/49 etwa, der Korea-Krieg 1950, die Berlin-Krise 1958. Der Kalte Krieg hat begonnen: Die USA auf der einen Seite, die Sowjetunion auf der anderen - und ihre Verbündeten rüsten sich für eine mögliche neue militärische Auseinandersetzung.

Gegen deutsche Wiederbewaffnung - dann in die Bundeswehr

Hermann Hagena als junger Bundeswehr-Soldat 1957 © privat
Zwei Jahre nach Gründung der Bundeswehr wird Hagena Soldat.

Hermann Hagena, Jahrgang 1931, erlebt die neue Konfrontation der Machtblöcke West und Ost damals als Offizier der Bundeswehr. Die Erinnerung an seinen Vater, der im Zweiten Weltkrieg bei der Luftwaffe gedient hatte und 1943 ums Leben kam, ist ein Grund für diese Laufbahn - auch wenn es anfangs gar nicht danach aussieht. "Nie wieder Krieg!" ist der Wunsch der Deutschen. Und wie die Mehrheit ist auch Hermann Hagena als Jugendlicher zunächst gegen eine Wiederbewaffnung Deutschlands und sympathisiert mit der "Ohne mich"-Bewegung: "Ich habe gesagt, diesen Scheißdreck machen wir nie wieder mit."

Hermann Hagena als junger Bundeswehr-Soldat 1957 © privat
AUDIO: Die 50er: Eine Welt in Waffen - Der Westen (9/12) (29 Min)

NATO-Gründungsstaaten blicken skeptisch auf Deutschland

Am 4. April 1949 besiegeln die USA, Kanada und zehn europäische Staaten mit der Unterzeichnung des Nordatlantikpakts in Washington die Gründung der NATO. Die Unterzeichnerstaaten bekennen sich zu den friedlichen Grundsätze der Vereinten Nationen, zu freundlichen Beziehungen und wirtschaftlicher Kooperation untereinander - und zu gemeinsamen Beratungen, sollte das Staatsgebiet oder die Unabhängigkeit eines Mitgliedsstaates bedroht werden, sowie zu Beistand, wenn einer von ihnen angegriffen wird. Als möglichen Gegner haben die NATO-Staaten damals nicht nur die Sowjetunion, sondern zunächst auch ein womöglich wieder erstarkendes Deutschland im Auge.

USA wollen Deutschland als wichtigen Verteidigungspartner

Mit einem Plakat "No Arms for Nazis!" protestieren englische Frauen am 27. Februar 1951 in London gegen Pläne der deutschen Wiederbewaffnung. © picture-alliance / AKG
Wenige Jahre nach Ende des Nazi-Regimes halten viele europäische Nachbarn die Vorstellung eines deutschen Militärs für unerträglich. Hier protestieren Frauen in London 1951.

Doch schon bald nach Gründung der Bundesrepublik ändert sich die Lage. Die Amerikaner halten einen Beitrag der Deutschen für notwendig, um West-Europa erfolgreich verteidigen zu können. Die europäischen Nachbarstaaten sind nicht begeistert von der Idee, dass Deutsche wieder Waffen tragen sollen. Zur Beruhigung verweisen die Amerikaner darauf, dass die deutschen Truppenkontingente in die existierenden Kommando-Strukturen der NATO integriert würden.

Wiederbewaffnung löst heftige Kontroversen aus

Gegner der deutschen Wiederbewaffnung ziehen am 16. Juni 1956 mit einem Demonstrationszug durch Köln. © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images
Auch Teile der deutschen Bevölkerung wehren sich gegen die Wiederbewaffnung. In Köln etwa zieht 1956 ein Protestzug der Wehrdienstverweigerer durch die Straßen.

In der Bundesrepublik ist der Streit um die Wiederbewaffnung eine der beherrschenden innenpolitischen Auseinandersetzungen in den 50er-Jahren. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) spricht sich zunächst dagegen aus. Dann aber sieht er die Möglichkeit, mit einem "Wehrbeitrag" Souveränität für die Bundesrepublik zurück zu gewinnen.

Auch Hermann Hagena ändert seine Haltung zum Thema Wiederbewaffnung. Anfang der 50er-Jahre hatte er mit einem Studienstipendium die USA kennengelernt. Nach seiner Rückkehr studiert er in Heidelberg und kommt dort häufig in Kontakt mit amerikanischen Soldaten. "Das Umdenken begann ganz eindeutig mit dem Kennenlernen von Amerikanern, die in den Streitkräften dienten und die natürlich, als es los ging mit der deutschen Wiederbewaffnung, dafür geworben haben." So erinnert er sich an ein Gespräch mit einem amerikanischen Pfarrer: "Der sagte, gerade wir Deutschen mit unserer Vergangenheit sollten doch jetzt einen klaren Schnitt machen und sollten sagen: Was passiert ist, haben wir als Deutsche zwar mit zu verantworten, aber wir haben als Deutsche jetzt auch die Möglichkeit, einen individuellen Beitrag in die andere Richtung zu leisten."

Deutschland verzichtet bei NATO-Beitritt auf ABC-Waffen

Zunächst sollen deutsche Streitkräfte im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft entstehen - doch das scheitert im August 1954 am Votum des französischen Parlaments. So werden dann doch zunächst rein nationale Streitkräfte aufgebaut. Am 5. Mai 1955 tritt die Bundesrepublik der NATO bei - "unter den gleichen Bedingungen" wie alle anderen Mitgliedsstaaten, wie Bundeskanzler Adenauer unterstreicht. Zehn Jahre nach Kriegsende ist die Bundesrepublik wieder ein souveräner Staat. Allerdings verzichtet sie ausdrücklich auf atomare, biologische und chemische Waffen. Das klare Signal: Von Deutschland soll nie wieder Krieg ausgehen.

Geschichte der Bundeswehr beginnt mit 101 Freiwilligen

Bundesverteidigungsminister Theodor Blank (r, CDU) überreicht am 12. November 1955 in einer Kraftfahrzeughalle der Ermekeilkaserne in Bonn den ersten 101 Freiwilligen der neuen deutschen Streitkräfte ihre Ernennungsurkunde. Zwölf waren in Uniform erschienen, der Rest nahm die Urkunde in Zivil entgegen. © picture alliance / dpa Foto: Richard Koll
Zwölf der ersten 101 Freiwilligen der neuen deutschen Streitkräfte nehmen ihre Ernennungsurkunde von Verteidigungsminister Blank 1955 in Uniform entgegen, der Rest in Zivil.

Bereits seit Anfang des Jahrzehnts arbeiten ehemalige Wehrmachtsoffiziere unter der Leitung des des CDU-Bundestagsabgeordneten Theodor Blank am Aufbau von Streitkräften. Blank wird der erste Verteidigungsminister der Bundesrepublik, und am 12. November 1955 erhalten die ersten 101 Freiwilligen ihre Ernennungsurkunden als Soldaten der zunächst noch namenlosen neuen Streitkräfte - die ab dem 1. April 1956 offiziell Bundeswehr heißen.

Die Bundeswehr als Arbeitgeber: Verlockung durch Sicherheit

Hermann Hagena 1969 bei der Luftwaffe. © privat
Auch finanzielle Gründe geben für Hagena - hier 1969 bei der Luftwaffe - den Ausschlag, sich vereidigen zu lassen.

Hermann Hagenas Karriere bei der Luftwaffe beginnt 1957. Neben seiner veränderten politischen Einschätzung spielen allerdings auch ganz praktische Gründe eine Rolle: die Perspektive auf eine fliegerische Ausbildung in den USA und das geregelte Einkommen. "Dass ich in der Lage war, meinen jüngeren Geschwistern zu helfen, das war für mich durchaus eine verlockende Überlegung", begründet er den Schritt.

Major Holz führt "noch nach Wehrmachtsgrundsätzen"

Am Anfang steht auch für den künftigen Luftwaffenoffizier die infanteristische Grundausbildung: "Kriechen, Robben, Gleiten, alles was man so als Infanterist können muss." Dann folgt eine Zeit in einem Ausbildungsregiment der Luftwaffe in Cuxhaven. "Das wurde damals geleitet von einem Major Holz. Schon nach dem dritten Satz sagte er: 'Ich führe hier noch nach Wehrmachtsgrundsätzen.' Und wenn man sich unterstand, den Konjunktiv zu gebrauchen, dann schrie er: 'Was heißt hier, ich würde, was wollen Sie?'"

Die Bundeswehr wird von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren aufgebaut - anders ist es kaum möglich. Doch bei ihrer Gründung wird strenger als in anderen gesellschaftlichen Bereichen darauf geachtet, dass keine alten Nazis in führende Positionen kommen - alle Bewerber auf Offiziersposten werden auf ihre politische Vergangenheit geprüft.

"Staatsbürger in Uniform" statt "Kadavergehorsam"

Hermann Hagena 1985 © privat
Auch Hermann Hagena wird als Offizier - hier 1985 - zum "Staatsbürger in Uniform".

Und die Bundeswehr will bewusst brechen mit dem, was man "Kadavergehorsam" nennt: dem Soldaten, der sich sozusagen wie "totes" Material einsetzen lässt - was nach Ansicht der Verantwortlichen mitverantwortlich war für die Kriegsverbrechen, zu denen es in der Wehrmacht gekommen war. Stattdessen wird das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" geschaffen. Verantwortlich dafür ist Wolf Graf von Baudissin - als deutscher Offizier, Militärhistoriker und Friedensforscher überzeugt davon, dass weder Disziplin und Freiheit noch Disziplin und Persönlichkeit Gegensätze sein müssen.

Gleichzeitig bemüht sich die Bundeswehr auch in ihrem öffentlichen Auftreten, keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass womöglich der alte deutsche Militarismus wiederbelebt wird. Vereidigungen finden in der Kaserne statt, öffentliche Truppenaufmärsche gibt es nicht. Nur durch die Uniformen, die die Soldaten auch tragen müssen, wenn sie im Urlaub nach Hause fahren, wird die Bundeswehr in der Öffentlichkeit sichtbar. Und in dieser Form auch akzeptiert, wie sich Hermann Hagena sagt: "Ich bin nie scheel angeguckt worden."

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Ein Überblick von der Oktoberrevolution 1917 über den Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR bis zum Tibetaufstand 1959. 24 Min

"Die Sowjetunion wurde als Bedrohung angesehen"

Die Proteste in der deutschen Bevölkerung gehen nach Gründung der Bundeswehr zurück. Die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 durch die Truppen des Warschauer Paktes zeigt erneut, dass die Sowjetunion ihre Interessen auch mit Waffengewalt durchsetzt. Die Zahl der Befürworter einer Wiederbewaffung steigt.

"Die Sowjetunion, heute Russland, wurde als Bedrohung angesehen", erinnert sich Hagena. "Die waren uns zahlenmäßig und mit ihrer Ausrüstung überlegen." Die Gefahr lauert im Osten, das ist das Credo. Angst, dass er als Bundeswehrsoldat in den Krieg gegen die Sowjetunion ziehen muss, hat Hagena damals allerdings nicht: "Im Grunde genommen hat jeder damit gerechnet, dass es gut geht."

Gesetz zur Wehrpflicht bezieht Kriegsdienstverweigerung ein

Die Anzahl derer, sie sich freiwillig zur Bundeswehr meldeten, reicht nicht, um auf die Truppenstärke von 500.000 Soldaten zu kommen, die im NATO-Konzept für die deutschen Streitkräfte vorgesehen sind. Der Bundestag beschließt daher noch 1956, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen: Ab dem 1. April 1957 muss jeder männliche Bundesbürger zur Bundeswehr - wenn er nicht Möglichkeit wahrnimmt, die ihm Artikel 12 des Grundgesetzes garantiert: aus Gewissensgründen den Kriegsdienst zu verweigern und stattdessen Ersatzdienst zu leisten.

VIDEO: Wiederaufrüstung in Ost- und Westdeutschland (9 Min)

Atomare Aufrüstung bringt Bürger auf die Barrikaden

Die Deutschen sind nicht begeistert über die Einführung der Wehrpflicht. Widerstand regt sich allerdings erst, als die Bundesregierung die atomare Bewaffnung der deutschen Streitkräfte ins Visier nimmt. 1956 wird die Debatte geführt, ob die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen ausgestattet werden sollte. Die Befürchtungen bezüglich einer deutschen atomaren Aufrüstung werden verstärkt, als der bisherige "Atomminister" Franz Josef Strauß zum neuen Verteidigungsminister ernannt wird. Es kommt zu einer riesigen Protestwelle.

Weitere Informationen
Demonstranten mit Transparenten gegen die Atomrüstung auf einer Maikundgebung 1958. © picture-alliance / dpa Foto: Gerhard Rauchwetter

"Kampf dem Atomtod!"

Mit dem "Göttinger Appell" protestieren Wissenschaftler 1957 gegen Pläne zur atomaren Bewaffnung. Er wird Grundlage der Kampagne "Kampf dem Atomtod". mehr

Am 12. April 1957 verabschiedet eine Gruppe von Kernphysikern die "Göttinger Erklärung", in der sie fordern, die Bevölkerung umfassend über die Gefahren von Atomwaffen aufzuklären und auf eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu verzichten. Außerdem erklären sie, dass keiner von ihnen bereit wäre, Bomben zu bauen, zu erproben oder anzuwenden, sollte man sie je darum bitten.

Maßgeblich formuliert wird die Erklärung von Carl Friedrich von Weizsäcker. Sie hat Signalwirkung. Es kommt zu einer riesigen Protestbewegung.

Die Bundeswehr bleibt atomwaffenfrei - die NATO nicht

Hermann Hagena © NDR Foto: Katharina Kaufmann
Den Dienst im Jagdbomber schloss Hermann Hegena wegen möglicher Nuklearwaffen-Transporte für sich aus.

Die Kampagne "Kampf dem Atomtod" wird von der SPD, Kirchen und Gewerkschaften unterstützt. 1958 sprechen sich einer repräsentativen Meinungsumfrage zufolge 83 Prozent der Bundesbürger gegen die Aufstellung atomarer Abschussrampen in der Bundesrepublik aus. Als sich für Hagena die Frage stellt, ob er innerhalb der Bundeswehr "von den Jägern zu den Jagdbombern" will, schließt er das wegen des damit verbundenen möglichen Transports von Nuklearwaffen ab. Ende 1958 beschließt der NATO-Rat, dass das "Schlüsselrecht" zum Einsatz von Atomwaffen in Westeuropa und Westdeutschland allein bei den USA liegt. Damit ist klar, dass es - wenn auch über Umwege - bei dem Versprechen aus der Gründungsphase der Bundeswehr bleibt: keine Atomwaffen für die deutschen Streitkräfte.

Die USA, Großbritannien und Frankreich bleiben die Nuklearmächten der NATO.

Bundeswehr und Wehrdienst bei NDR Retro

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Deine Geschichte – unsere Geschichte | 25.07.2021 | 14:33 Uhr

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