Als sich das Fenster zur Welt öffnete
Nach zwei Jahren Versuchsbetrieb beginnt der NWDR am 25. Dezember 1952, ein regelmäßiges deutsches Fernsehprogramm zu senden. Im Studio in einem Hamburger Hochbunker ist es heiß wie in der Sauna - und kaum einer schaut zu.
"Wir beginnen!" Das sind die ersten Worte, die im deutschen Fernsehen offiziell gesprochen werden. Es ist der Abend des 25. Dezember 1952 und der Fernseh-Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), Werner Pleister, möchte den Deutschen im Sendegebiet ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk machen. Mit einer Ansprache wendet er sich in der ersten regulären Fernseh-Ausstrahlung ans Publikum: "Wir, meine verehrten Zuschauer, das ist die Fernseh-Abteilung des Nordwestdeutschen Rundfunks mit all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, haben uns seit Monaten darauf vorbereitet, Sie ab heute mit einem täglichen Fernsehprogramm zu erfreuen."
Eine Stunde und 58 Minuten ist die Auftaktsendung lang. Die noch junge Bundesrepublik tritt damit im Bereich des heutigen NDR- und WDR-Gebiets ins Fernsehzeitalter ein. In seiner Eröffnungsrede weist Pleister auf die Möglichkeiten des neuen Mediums hin:
"Im Strahlungsbereich unserer Sender wohnen über zehn Millionen Menschen. Wir denken, dass die gerätebauende Industrie auf diese Möglichkeit gut vorbereitet ist und durch die Lieferung guter und preiswerter Geräte möglichst viele von Ihnen in die Lage versetzt, uns zuzuschauen, mit Augen und Ohr dabei zu sein, wenn wir Ihnen das große Geschehen der Welt, die kleinen Dinge des Alltags, die Feste der Kunst und das heitere Lächeln der frohen Laune in Ihre Wohnung bringen." Werner Pleister, NWDR-Intendant
Fernsehspiel und Grüße aus aller Welt zum Auftakt
"Die Feste der Kunst" kommen noch am selben Abend erstmals direkt in die Wohnzimmer der Zuschauenden. Denn auf Pleisters Rede folgt das weihnachtliche Fernsehspiel "Stille Nacht, heilige Nacht". Das "große Geschehen der Welt" flimmert zunächst im etwas kleineren Rahmen über die schwarz-weißen Mattscheiben, indem Fernsehsender aus aller Welt ihre Grüße an den neuen Sender übermitteln. Zum Schluss der knapp zweistündigen Übertragung wird versucht, mit dem Tanzspiel "Max und Moritz" vom NWDR-Rundfunkorchester "das heitere Lächeln der frohen Laune" zu zeigen.
Fernseh-Studios im Hochbunker
Das Programm wird in den ersten Jahren aus zwei Hochbunkern auf dem Hamburger Heiligengeistfeld gesendet. Inmitten eines brachliegenden Areals, auf dem bis heute auch der Hamburger Dom stattfindet, unternehmen die bewegten Bilder in den zwei klobigen Betonklötzen ihre ersten Gehversuche. Ab November 1949 laufen bereits Fernseh-Tests im ehemaligen "Hochbunker 2", der 1974 abgerissen wird. Am 21. Dezember 1951 kommt der größere "Hochbunker 1" hinzu. Dieser steht heute noch und erhält derzeit einen mehrstöckigen Aufbau mit Hotel und Gärten. Wo bald Touristen aus aller Welt in die Ferne sehen können, nimmt das Fernsehen im Jahr 1952 seinen regelmäßigen Testbetrieb auf. Dazu wird dort ein 700 Quadratmeter großes Versuchsstudio eingerichtet.
Schweißtreibende Sendebedingungen
Die Arbeit in den Bunker-Studios ist nicht ohne. Den Mitarbeitern der ersten Stunde wird einiges abverlangt.
"Der große Senderaum ist etwa elf Meter lang und 6,5 Meter breit (ohne den Regieraum). Alles liegt hoch oben im Bunker, rund 100 Stufen hoch, eine schöne Arbeit, wenn der Lastenfahrstuhl (einen anderen gibt es nicht) nicht funktioniert. Unter dem Dach das kleine Studio, eine Treppe tiefer der 'Sendesaal'. Dazu einige Büros, technische Räume, eine Schminkecke, Ansätze für eine Kantine. Alles hoch, hart mit stickiger Luft." "Fernsehtagebücher" von Journalist Kurt Wagenführ
Carsten Diercks, ein Kameramann der ersten Stunde, erinnert sich in der NDR Chronik an schweißtreibende Bedingungen, da sich das Studio bedingt durch die starken Scheinwerfer schnell aufheizt:
"Das Studio wurde mit Ventilatoren gelüftet. Fenster gab es keine. Wir hatten, wenn ich das recht erinnere, manchmal 70 Grad. Die Beleuchter hatten es besonders schwer, denn die standen oben auf der Beleuchterbrücke und die heiße Luft steigt ja bekanntlich nach oben. Ein Fernsehstudio mit eingebautem Saunabetrieb, so kann man es sehen." Kameramann Carsten Diercks
Täglich zwei Stunden Fernsehprogramm
Nach dem Sendestart an Weihnachten 1952 strahlt der NWDR zunächst täglich ab 20 Uhr ein rund zweistündiges Abendprogramm und ein halbstündiges Nachmittagsprogramm aus. Mehr soll es zunächst auch gar nicht sein. NWDR-Fernseh-Intendant Pleister hatte noch 1951 vor den negativen Folgen von zu viel Fernsehen gewarnt:
"Unter keinen Umständen darf man das amerikanische Beispiel nachahmen: nämlich von morgens bis abends pausenlos zu senden. Das englische Beispiel muss auch für uns maßgebend sein: Ein Zwei-Stunden-Programm abends muss gestaltet werden und anderthalb Stunden nachmittags." Werner Pleister, NWDR-Intendant
Aus heutiger Sicht kann man sagen: Es ist ganz anders gekommen. Was aber geblieben ist: die Grundkonstante des abendlichen Programms - die Tagesschau. Schon einen Tag nach Sendestart wird am 26. Dezember 1952 die erste Ausgabe der Nachrichtensendung ausgestrahlt. Auch sie feiert also ihr 70. Jubiläum.
Tagesschau startet mit einem Redakteur und zwei Cutterinnen
Mit dem heutigen News-Flaggschiff hat die damalige Tagesschau aber wenig zu tun. Ein Redakteur und zwei Cutterinnen bilden das kleine Team der Sendung, die zunächst nur drei Mal wöchentlich läuft. Martin S. Svoboda sichtet zugeliefertes Material der "Wochenschau" und schreibt seine Texte auf seiner privaten Reise-Schreibmaschine. Für eine Sendung erhält er 40 Mark Honorar. Wenn das Material fertig geschnitten ist, muss Svoboda die Filmrollen mit der U-Bahn zum Sendebunker am Heiligengeistfeld bringen.
Zu Beginn nur 1.000 deutsche "Fernsehteilnehmer"
Als die Bilder in Deutschland laufen lernen, sieht kaum jemand dabei zu. Während in den USA 1953 schon 20 Millionen Fernsehgeräte verkauft sind, werden in Deutschland zu diesem Zeitpunkt erst rund 1.000 "Fernsehteilnehmer" gezählt. In den USA war man aber auch schon rund 15 Jahre früher ins Fernseh-Zeitalter gestartet. Doch die Zuwachszahlen in der Bundesrepublik sind beeindruckend: 1955 sind schon knapp 100.000 Teilnehmer registriert, 1958 eine Million. Zehn Jahre später haben bereits 14 Millionen Haushalte in Westdeutschland einen Fernseher. Und auch die technische Entwicklung schreitet rasant voran.
Fernsehkoch, Theater und USA-Impressionen
Während sich immer mehr Menschen für das neue Medium begeistern, weitet das Fernsehen sein Programm aus.
"Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das wir auf das neue geheimnisvolle Fenster in Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, auf Ihren Fernsehempfänger, alles das bringen, was Sie erfreut, Sie interessiert und Ihr Leben schöner macht." Werner Pleister, NWDR-Intendant
Schon im Februar 1953 startet Clemens Wilmenrod im NWDR seine Sendung - der erste Fernsehkoch kredenzt dem Publikum in seiner Sendung "Bitte in zehn Minuten zu Tisch" ein "Italienisches Omelette". Der erste Auslandkorrespondent Peter von Zahn zeigt mit "Bildern aus der Neuen Welt" Impressionen aus Politik und Alltag jenseits des Atlantiks. Im März 1954 gibt es erstmals eine Übertragung aus dem plattdeutschen Ohnsorg-Theater.
Dreijahresplan für ein neues Studio
Ein ausgeweitetes Programm verlangt nach neuen, größeren Räumen - und auch die Mitarbeiter, die über den Betriebsrat die Bedingungen im Hochbunker kritisiert hatten, wünschen sich diese. Sie sind bereits im Bau, wie der Erste Direktor des NWDR, Franz Schmidt, im Januar 1952 in einem Brief an den DGB schreibt:
"Ein wesentlicher Bestandteil des Dreijahresplans ist die Errichtung eines Studios für das Fernsehen in Hamburg-Lokstedt. Es soll im Sommer 1953 in Betrieb genommen werden. Bis dahin werden wir uns bedauerlicherweise noch mit den Räumlichkeiten in den beiden Bunkern auf dem Heiligengeistfeld begnügen müssen." Franz Schmidt, Erster Direktor NWDR
Am Rande der damaligen Stadt wächst ein dreigeschossiger Backsteinbau, der heute noch steht. In den früheren Fernseh-Studios ist mittlerweile unter anderem das Archiv beheimatet, in den Büros der damaligen Redaktion und Produktion finden sich die Recherche Presse und Buch und Schulungsräume. Denn schon bald sind auch diese Räume für den Sendebetrieb zu klein und es entstehen im Laufe der Jahrzehnte zwei Hochhäuser auf dem Gelände in Lokstedt - und bis heute diverse weitere Gebäude, etwa für die Redaktion von ARD-aktuell, die die Tagesschau produziert.
"Fernsehen schlägt Brücken von Mensch zu Mensch"
70 Jahre nach Sendestart ist aus einem Programm mit zwei Stunden Sendezeit allein beim NDR ein 24-stündiges Vollprogramm geworden, flankiert von acht weiteren Sendeanstalten im ARD-Verbund, die fast alle ebenfalls ein tägliches Vollprogramm verantworten. Eine Entwicklung, die im schweißtreibenden Hochbunker am Hamburger Heiligengeistfeld so nicht abzusehen war. Gleichwohl war der Sendestart mit großen Hoffnungen verbunden, die auch heute noch genauso aktuell sind wie damals - an Weihnachten 1952:
"Das Fernsehen schlägt neue Brücken von Mensch zu Mensch, von Völkern zu Völkern. Vielleicht ist es gerade deswegen das rechte Geschenk zu Weihnachten, denn es erfüllt seine große Aufgabe erst dann ganz, wenn es die Menschen zueinander bringt und damit die große Hoffnung der Menschheit erfüllen will: Frieden auf Erden!“ Werner Pleister, NWDR-Intendant