Der Terror der RAF: Morden gegen die deutsche Staatsmacht
Ab den 1970er-Jahren hielten die Terroranschläge der "Rote Armee Fraktion" die Bundesrepublik in Atem. Im "Deutschen Herbst" 1977 eskaliert die Situation mit der "Landshut"-Entführung und der Ermordung von Hanns Martin Schleyer.
"Die haben sich teilweise in einem Maße für diesen Terror eingesetzt, der mich fasziniert hat", sagt Klaus Pflieger. Er gehörte zu den engagiertesten Verfolgern der "Rote Armee Fraktion" (RAF). Eines seiner Hauptprobleme, sagt er, war die Frage nach der Motivation der Terroristen. Denn er gehörte derselben Generation an. Auch er hatte eine Menge zu kritisieren an der Bundesrepublik. Aber er wurde Richter und Staatsanwalt. Warum also wählten jene den Terror? "Das ist etwas, was ich natürlich, weil ich mich anders entschieden hatte, nur schwer nachvollziehen konnte."
Baader-Befreiung gilt als Gründungstag der RAF
Entstanden ist der deutsche Linksterrorismus im Kontext der Studentenbewegung der späten 60er-Jahre. Seit dem Tod von Benno Ohnesorg 1967 und dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 diskutierten Teile der Bewegung darüber, ob Gewalt ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung sei. Im April 1968 verübt eine Gruppe aus dem Umfeld der Westberliner Studentenbewegung Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser, darunter Andreas Baader und Gudrun Ensslin.
Ulrike Meinhof, damals Chefredakteurin der linken Zeitschrift "konkret", lernt sie während des Prozesses kennen. Am 14. Mai 1970 wird Baader während eines Ausgangs von Meinhof und weiteren Komplizen aus der Haft befreit. Dieser Tag gilt gemeinhin als der Gründungstag der RAF - oder der "Baader-Meinhof-Gruppe", wie die Terrorgruppe damals noch genannt wurde.
Ein Satz markiert den Wendepunkt
In einem "Spiegel"-Text von 1970 rechtfertigt Ulrike Meinhof die Befreiung von Andreas Baader - und macht deutlich, dass sie die Grenzen des rechtsstaatlich legitimen Protests hinter sich gelassen haben. Für Klaus Pflieger markiert das einen Wendepunkt: "Für mich war der erste Schritt dieses Interview von Ulrike Meinhof mit dem 'Spiegel', in dem sie diesen berühmten Satz losgelassen hat, dass Polizeibeamte keine Menschen sind, sondern Bullen. Und: 'Natürlich kann geschossen werden.'"
Die RAF beginnt zu töten
Den Worten folgen Taten: Das erste Mordopfer der RAF ist im Oktober 1971 der Hamburger Polizist Norbert Schmid. Er wird beim Versuch, Mitglieder der RAF festzunehmen, erschossen. Mehrere Tote und Verletzte gibt es dann im Mai 1972 bei Anschlägen auf die Hauptquartiere der US-Armee in Heidelberg und Frankfurt am Main, auf den Springer-Verlag und mehrere Polizei-Stationen. Kurz darauf werden die Führungsfiguren der RAF festgenommen: Andreas Baader, Holger Meins, Jan-Carl-Raspe, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof.
"Verbrecher - keine Kriegsgegner"
Klaus Pfleger ist erschüttert, dass Teile der Öffentlichkeit damals Sympathien für die RAF-Terroristen haben: dass "man diese RAF-Leute nicht als pure Verbrecher angesehen hat, sondern als Personen, die ein berechtigtes Anliegen haben, gegen diesen Staat vorzugehen." Allerdings meint er rückblickend, der Staat habe anfangs auch überreagiert: "Man hat die RAF samt ihrer Anschläge fast auf den Sockel des Kriegsgegners gestellt, indem man mit Gesetzen, mit Maßnahmen, mit Polizeikontrollen fast auf dem Weg war, Polizeistaat zu werden." Es habe einige Zeit gedauert, bis Staat und Justiz gemerkt hätten: "Wir müssen die Leute auf das reduzieren, was sie strafrechtlich sind: Verbrecher und eben nicht Kriegsgegner."
Aktionen und PR bescheren der RAF Sympathien
Den RAF-Häftlingen und ihren Anwälten gelingt es durch Aktionen und eine wirksame Medienarbeit, Teile der Öffentlichkeit für sich einzunehmen. Immer wieder treten die Gefangenen zum Beispiel in Hungerstreik, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren. Am härtesten und in der Öffentlichkeit am wirksamsten war dabei wohl der Vorwurf, sie würden durch Isolation gefoltert. Holger Meins stirbt am 9. November 1974 an den Folgen des Hungerstreiks in der JVA Wittlich - und wird von Teilen der linken Szene als Märtyrer betrachtet.
Haft in Stammheim: "Privilegien unvorstellbarer Art"
Über die Haftbedingungen in Stuttgart-Stammheim, wo Baader, Ensslin, Meinhof und Jan-Carl Raspe einsaßen und wo ab 1975 auch der Prozess gegen die RAF geführt wurde, konnte sich Klaus Pflieger als Haftrichter selbst ein Bild machen. Er schildert sie sehr anders, als die Gefangenen und ihre Anwälte das damals taten: "In den Zellen hat das Gegenteil von Isolationsfolter geherrscht. Privilegien unvorstellbarer Art." Dass zum Beispiel Männer und Frauen in einem Gefängnis bei offenen Türen eingesperrt waren oder dass die Gefangenen ihre Prozess-Strategie untereinander absprechen konnten, widerspreche allem, was sonst im Vollzug üblich sei.
Die Anwälte der RAF wiesen allerdings daraufhin, dass in den verschiedenen Haftanstalten der unterschiedlichen Bundesländer, in denen Terroristen untergebracht waren, auch sehr unterschiedliche Haftbedingungen herrschten. Und auch Klaus Pflieger sieht die Zwangsernährung, mit der der Staat auf die Hungerstreiks reagierte, heute kritisch: "Wir haben als Juristen gelernt, dass jeder das Recht darauf hat, sich umzubringen, und dass man nur dann eingreifen muss, wenn er nicht mehr Herr seiner Sinne ist."
Die "zweite Generation" der RAF rückt nach
Das Problem des Linksterrorismus in der Bundesrepublik ist mit der Festnahme der Gründergeneration der RAF nicht erledigt. Die "zweite Generation" der RAF und vergleichbare Gruppierungen versuchen immer wieder, die Inhaftierten freizupressen. Am 27. Februar 1975 wird der Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz entführt - von Mitgliedern der linksterroristischen Organisation "Bewegung 2. Juni". Fünf Gesinnungsgenossen werden daraufhin freigelassen - und in der Folge auch Lorenz. Aus der Sicht von Klaus Pflieger ein Fehler, denn ein Staat zeige so, "dass er erpressbar sei und provoziert damit weitere Geiselnahmen."
Die Erpressung funktioniert allerdings nur in diesem einen Fall: Als die Terroristen im April 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen, um 26 RAF-Mitglieder freizubekommen, erreichen sie nichts - zwei Diplomaten werden erschossen und das Gebäude in Brand gesetzt.
Verteidiger werden selbst Ziel von Ermittlungen
Am 21. Mai 1975 beginnt der RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim gegen die RAF-Gründer Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe. Die Anklagepunkte lauteten Mord, versuchter Mord, Banküberfälle, Sprengstoffanschläge - also klare Verbrechen, während die Angeklagten sich als politische Gefangene betrachten und sich als Opfer eines deutschen Polizeistaats darstellen. Wie unterschiedlich die Dinge damals gesehen und beurteilt wurden, zeigt zum Beispiel auch das Verhalten einiger RAF-Anwälte. Die drei Wahlverteidiger im Baader-Meinhof-Verfahren Klaus Croissant, Kurt Groenewold und der spätere Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele entwickeln ein Info-System zwischen den RAF-Häftlingen. Gegen sie wird ein Strafverfahren eingeleitet wegen Unterstützung einer terroristischen Gruppierung. Für Klaus Pflieger wurde der Prozess gegen Croissant ein entscheidender Schritt seiner Tätigkeit als Staatsanwalt im Rahmen der RAF-Thematik.
"Deutscher Herbst": Gezielte Anschläge auf Einzelpersonen
Ulrike Meinhof tötet sich in der Haftanstalt im Mai 1976 selbst. Für Baader, Ensslin und Raspe endet der Stammheimer Prozess am 28. April 1977 mit Schuldspruch und Verurteilung zu lebenslanger Haft. Daran ändert auch die Ermordung von Bundesanwalt Siegfried Buback mit zwei Begleitern am 7. April durch ein RAF-Kommando nichts - für Klaus Pflieger der Beginn der Ereignisse, die als "Deutscher Herbst" in die Geschichtsbücher eingegangen sind: "Buback war für mich der erste Anschlag, wo man eine Einzelperson gezielt hingerichtet hat, mit den beiden Begleitern noch dazu."
Am 30. Juli 1977 wird der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto ermordet - er soll eigentlich entführt werden, wehrt sich aber und wird erschossen. Am 25. August findet ein misslungener Raketenwerfer-Anschlag auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe statt.
Schleyer und "Landshut": Staat lässt sich nicht erpressen
Am 5. September 1977 wird Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer entführt. Der Staat erfüllt die Forderungen der Terroristen nicht - woraufhin der Konflikt von den Terroristen eskaliert wird und zugleich die internationale Vernetzung der RAF deutlich wird.
Am 13. Oktober wird die Lufthansa-Maschine "Landshut" mit 82 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern durch ein Kommando der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" PFLP entführt. Die Entführer fordern die Freilassung von RAF-Mitgliedern und eigenen Gesinnungsgenossen und drohen, die Maschine andernfalls in die Luft zu sprengen. Bei einer Zwischenlandung im Jemen wird der Pilot Jürgen Schumann erschossen.
Doch die Bundesregierung verhandelt nur zum Schein. Am 18. Oktober kurz nach Mitternacht stürmt die Spezialeinheit GSG 9 die Maschine in Mogadischu. Drei Terroristen sterben, alle Geiseln kommen unverletzt nach Hause. Hanns Martin Schleyer wird am 18. Oktober ermordet, seine Leiche wird am nächsten Tag gefunden.
Stammheimer "Suicide Action": PR bis zur letzten Sekunde?
In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober begehen die RAF-Gründer in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim Suizid - offenbar nachdem sie die Nachrichten von der Befreiung der Geiseln in Mogadischu gehört haben. Die Frage: "Wie waren diese Selbstmorde möglich?" beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit noch lange. Und trotz eines internationalen Gutachter-Gremiums werden die Selbsttötungen immer wieder infrage gestellt. Klaus Pflieger war Teil einer sechsköpfigen Ermittlergruppe zu den Todesfällen von Stammheim. In den 1990-Jahren erfuhr er beim Verhör einer RAF-Angehörigen, dass innerhalb der RAF selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass die Stammheimer sich selbst umgebracht hätten: "Es habe innerhalb der RAF sogar einen Spezialbegriff für diese Todesnacht in Stammheim gegeben: 'Suicide Action', also eine Selbstmord-Aktion, bei der man den eigenen Tod noch einmal gegen den Staat instrumentalisiert, indem man den Eindruck erweckt, ermordet worden zu sein."
Viele Fragen offen - doch die RAF hat nicht gewonnen
In den Kontext der RAF-Geschichte gehört vieles Weitere: die massiven Reaktionen des Staates in den 70er-Jahren etwa, die manchmal den Eindruck aufkommen ließen, die Bundesrepublik befinde sich im Ausnahmezustand: Verkehrskontrollen, Hausdurchsuchungen auf vagen Verdacht hin, Daten-Erhebungen. Oder die weitere Geschichte der RAF bis zu ihrer Auflösung. Und es bleiben viele offene Fragen: Warum sind intelligente und engagierte junge Menschen in der Bundesrepublik den Weg der Gewalt gegangen? Wer hat welche Rolle gespielt in der RAF? Hatte die real existierende Bundesrepublik etwas zu tun mit dem Bild - oder Zerrbild - vom Staat, das die Terroristen hatten?
Klaus Pflieger hat sich auch nach dem Herbst 1977 beruflich mit der Terror-Thematik beschäftigt. Besonders wichtig war für ihn das Auflösungsschreiben der RAF 1998: "Wenn Terroristen der Qualität RAF sagen, dieser Staat ist so stark als Rechtsstaat, als Demokratie, dass wir dagegen mit Terror-Mitteln nicht ankommen, dann ist es ein Element, wo man nur sagen kann: Wir können stolz darauf sein als Staat, dass wir den RAF-Terrorismus bekämpft haben."
Hinweis der Redaktion: In früheren Versionen des Artikels haben wir Jürgen Ponto, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank von 1969 bis 1977 irrtümlich als Vorstandssprecher der Deutschen Bank bezeichnet, und die Entführung von Peter Lorenz nicht der "Bewegung 2. Juni" zugeordnet. Außerdem wurden im Zusammenhang mit der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" vier statt drei tote Terroristen verzeichnet und der Name des Piloten Jürgen Schumann nicht korrekt wiedergegeben.