Hamburger Polizist wird 1971 erstes Mordopfer der RAF
Norbert Schmid ist das erste Mordopfer der Roten Armee Fraktion (RAF). Der Zivilbeamte wurde am 22. Oktober 1971 in Hamburg erschossen - der mutmaßliche Schütze dafür nie verurteilt. "Der Staat hat meinen Mann verraten", so Schmids Witwe später.
Aus ihrem Zivilfahrzeug heraus beobachten die beiden Polizeibeamten Norbert Schmid und Heinz Lemke in der Nacht des 22. Oktober 1971 die Fahrgäste, die die S-Bahn in Hamburg-Poppenbüttel verlassen. Sie sollen ihr Augenmerk auf "entwichene Fürsorgezöglinge und sonstige verdächtige Personen" richten, die scheinbar ziellos herumirren. Konkret heißt das: Neuerdings gibt es die Anweisung, auf Personen mit terroristischem Hintergrund zu achten.
Norbert Schmid wird von mehreren Kugeln getroffen
Den Polizisten fällt gegen 1.30 Uhr eine junge dunkelhaarige Frau auf, die zunächst verschwindet, dann aber wieder aus einer Tiefgarage des nahen Alstertal-Einkaufszentrums (AEZ) kommt. Schmid fordert die Frau auf, sich auszuweisen. Doch sie flüchtet die Straße Heegbarg entlang zu einem Wohnblock. Schmid rennt hinterher. Lemke lässt den Wagen stehen und folgt. Auf einmal taucht ein weiteres Pärchen auf. Doch der Mann und die Frau wollen nicht helfen - im Gegenteil. Schmid ruft noch: "Die sind ja bewaffnet." Schüsse fallen. Schmid wird von mehreren Kugeln getroffen. Eine schusssichere Weste hat er damals nicht. Der 32-Jährige bricht tot zusammen. Heinz Lemke wird wohl aufgrund der Warnung seines Kollegen lediglich am Fuß getroffen. Die Täter entkommen - mit dem zivilen Fahrzeug der Beamten.
Der Schütze wird auf Fahndungsfoto erkannt
Die Fahndung wird sofort eingeleitet. Etwa eine Dreiviertelstunde nach der Tat werden Polizisten auf eine Frau in einer Telefonzelle aufmerksam. Es ist Margrit Schiller, ein seit Langem gesuchtes Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe, der späteren RAF. Dass die 23-Jährige Norbert Schmid nicht getötet hat, wird schnell klar. Sie hat zwar eine Waffe in ihrer Handtasche dabei, aus dieser ist aber nicht geschossen worden. Heinz Lemke sagt aus, ein Mann habe die Schüsse abgegeben. Anhand von Fahndungsfotos kann der Beamte das Baader-Meinhof-Mitglied Gerhard Müller identifizieren. Auch Margrit Schiller bezichtigt später Müller der Tat.
Die Frau, die in der Tatnacht mit Müller unterwegs war, soll laut den Autoren Stefan Aust ("Der Baader-Meinhof-Komplex") und Butz Peters ("Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF") zufolge Ulrike Meinhof gewesen sein. In anderen Quellen - unter anderem in der "Zeit" - ist jedoch von Irmgard Möller die Rede - ebenfalls eine RAF-Terroristin.
Bürgermeister Schulz: "Eine rein kriminelle Gruppe"
Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Peter Schulz (SPD) sagt nach dem Mord, man solle endlich aufhören, die "Gruppe als Zusammenschluss mit politischen Zielsetzungen zu sehen. Dieses ist eine rein kriminelle Gruppe im wahrsten Sinne des Wortes." Innensenator Heinz Ruhnau (SPD) bezeichnet den Tod des Polizisten als "eine Aufforderung an alle Bürger, Verantwortung und Pflicht zu tragen, um der Ausbreitung von Gewalt ein Ende zu setzen". Der Kommandeur der Schutzpolizei, Hans Pries, beteuert, nicht eher zu ruhen, "bis die hinterhältigen Täter vor Gericht" stünden.
Mordanklage gegen Gerhard Müller wird fallen gelassen
Im folgenden Jahr werden bundesweit mehrere RAF-Mitglieder gefasst. So wird am 7. Juni 1972 Gudrun Ensslin in einer Hamburger Boutique festgenommen. Auch Gerhard Müller wird wenige Tage später - am 15. Juni 1972 - in Hannover zusammen mit Meinhof geschnappt. Im späteren Stammheim-Prozess gegen die Anführer der RAF ab 1975 wird Möller von der Bundesanwaltschaft wie ein Kronzeuge behandelt - allerdings ohne rechtliche Grundlage. Sie tritt erst 1989 in Kraft. Seine Aussagen gelten als zentral im Verfahren gegen Baader, Meinhof, Ensslin und Jan-Carl Raspe. Die Anklage gegen Müller wegen Mordes an Schmid wird schließlich fallen gelassen. Zum einen hat Polizeimeister Lemke seine Aussage in der Zwischenzeit abgeschwächt. Er sei sich nicht mehr sicher, was genau er beobachtet hat. Zum anderen sind Aussageprotokolle, in denen Müller sich selbst schwer belastet, nicht an das zuständige Gericht weitergeleitet worden. Denn aufgrund des Paragrafen 96 der Strafprozessordnung ist eine Auslieferung von Schriftstücken untersagt, so sie dem "Wohle des Bundes" widerspricht.
Somit ergeben sich dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. März 1976 zufolge "trotz schwerer Verdachtsmomente keine hinreichenden Beweise für die Täterschaft Müllers". Verurteilt wird Müller trotzdem - allerdings lediglich zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, aus der er 1979 vorzeitig entlassen wird. Der Polizistenmord, so die damaligen Gerüchte, sei Müller "geschenkt" worden - als "Belohnung" für seine Aussagen gegen die RAF im Stammheim-Prozess.
Witwe Schmid: "Der Staat hat meinen Mann verraten"
Schmids Witwe ist von diesen juristischen Entscheidungen entsetzt und wird auch in den folgenden Jahrzehnten nicht ihren Frieden damit machen können. "Der Staat, der von meinem Mann geschützt wurde, hat meinen Mann verraten", beklagt Sigrun Schmid 2010 voller Wut und Bitterkeit in der "Süddeutschen Zeitung". Sie ist 25 Jahre alt, als ihr Mann getötet wird. Das Paar hat zwei kleine Töchter, die sie danach allein versorgen muss, sie kämpft sich der "SZ" zufolge durch. Was den Todesschützen - also mutmaßlich Gerhard Müller - betrifft, so sagt Sigrun Schmid dem "Hamburger Abendblatt" bereits 1991: "Wenn ich mir vorstelle, der Mörder hat in den 20 Jahren jeden Tag die Sonne aufgehen sehen, und mein Mann nicht, dann spüre ich eine ungeheure Wut." Eine Therapie zur Verarbeitung ihrer Trauer und ihres Zornes macht Sigrun Schmid nicht: "Ich wollte niemandem zeigen, wie kaputt ich bin", zitiert die "Zeit" die Witwe 2007.
Brief an Köhler: Keine "Gnade für Gnadenlose"
Als in den 2000er-Jahren eine öffentliche Diskussion über eine vorzeitige Entlassung von Brigitte Mohnhaupt sowie eine Begnadigung von Christian Klar geführt wird, entschließt sich Sigrun Schmid, dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zu schreiben. Sie beschwört ihn, keine Milde walten zu lassen. "Wer solch kaltblütige und brutale Killer begnadigt, der macht sich mitschuldig", zitiert das "Hamburger Abendblatt" sie 2007. Die Täter hätten ihren Opfern die Menschenwürde geraubt. "Gnade für die Gnadenlosen zu zeigen, das ist ein Fußtritt für die Opfer, für ihre Angehörigen." Ihre Worte sind deutlich und bitter. "Ich sollte vergeben, aber ich kann nicht", sagt die Christin gegenüber der "Zeit".
Ihren Brief beantwortet Köhler nicht persönlich, sondern - eher ungelenk - ein Staatssekretär: "Ich darf Ihnen versichern, dass dem Bundespräsidenten das Leid und die Schmerzen, die Sie wie alle Angehörigen der Opfer durch die Verbrechen der RAF erfahren haben und die Sie gegenwärtig durch die äußerst intensive Diskussion in der Öffentlichkeit einmal mehr durchleben müssen, sehr bewusst sind", zitiert die "SZ".
Verbleib von Gerhard Müller ein Staatsgeheimnis
Worte, die der Witwe nicht weitergeholfen haben dürften. Der Mord an ihrem Mann bleibt ungesühnt. Wie das Leben des mutmaßlichen Täters Gerhard Müller weiter verlaufen ist, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich ist, dass er im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms eine neue Identität angenommen hat - eine Möglichkeit für "gefährdete Personen", als die Müller nach seiner tragenden Rolle im Stammheim-Prozess durchaus gelten kann.
Im Jahr 2005 soll Müller gestorben sein, wie die ehemalige Generalbundesanwältin Monika Harms mit Bezug auf eine Auskunft des Bundeskriminalamts seinerzeit mitteilt. Auch die frühere Anwältin des Terroristen, Leonore Gottschalk-Solger, lässt im März 2007 von Müllers Tod wissen: Vermutlich habe er Selbstmord begangen.
Noch heute frische Blumen am Grab
Der Mord an Norbert Schmid hat 1971 die Schlagzeilen bestimmt. Was ist geblieben? Die Benennung eines Platzes nach ihm im Hamburger Stadtteil Hummelsbüttel zeugt zumindest vom Versuch der Stadt, den Polizisten im öffentlichen Gedächtnis zu behalten. Eine besondere Bedeutung geht von dem recht kargen Platz mit einem angrenzenden Discounter jedoch nicht aus.
Schmids Grab befindet sich auf dem Friedhof in Hamburg-Volksdorf. Der Ort habe seinem Wesen entsprochen, so die Begründung von Sigrun Schmid. Deshalb gibt es keine Begräbnisstätte an der sogenannten Blutbuche auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo Hamburgs Polizisten beerdigt werden, die im Dienst gestorben sind. Das Grab in Volksdorf wird immer noch gepflegt und mit frischen Blumen bepflanzt. Die farbenfrohe Auswahl ist ein bunter Tupfer im tiefen und tristen Grau, das die RAF über die Familie Schmid gebracht hat.