Familie wirft einen Schatten auf eine Betonwand. © krockenmitte / photocase.de Foto: krockenmitte

Corona: Schattenfamilien fordern mehr Solidarität

Stand: 06.09.2022 20:00 Uhr

Auch jetzt, nach mehr als zwei Jahren Corona, gibt es sie noch: Familien, die ihre sozialen Kontakte beschränken müssen. Sogenannte Schattenfamilien fordern mehr Solidarität - im Sinne der gesamten Gesellschaft.

von Yasmin Appelhans

Gerade der Beginn der Pandemie war für die Familie hart. "Ich war stellenweise so weit, dass ich mich mit meiner Frau um die Frage gestritten habe, wer jetzt in den Supermarkt gehen darf, weil das eine der wenigen Gelegenheiten war, wo man andere Leute getroffen hat", sagt Sebastian Mathis. Eigentlich heißt er anders, sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

Sorge um die Tochter

Familie Mathis ist eine sogenannte Schattenfamilie. Die Kinder der Familie Mathis sind Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Die Sorge gilt der Tochter. Sie wurde mit einer Spina Bifida geboren. Das ist eine Spaltung der Wirbelsäule, die auch als "offener Rücken" bezeichnet wird. Eine Spina Bifida zählt offiziell nicht zu den Vorerkrankungen, die eine Coronainfektion besonders gefährlich machen können. Erste Daten zeigen aber, dass die Patienten und Pattientinnen doch stark betroffen sein können. "Und leider haben wir die unerfreuliche Erfahrung gemacht, dass es im Zusammenhang mit normalen Erkältungen in der Vergangenheit relativ problematische Verläufe gegeben hat", sagt Mathis. Die Tochter habe öfter in einer Klinik überwacht werden müssen.

Schattenfamilien

Schattenfamilien sind Familien, in denen ein oder mehrere Familienmitglieder so stark vorerkrankt sind, dass alle anderen ihren Kontakt auf ein Minimum beschränken müssen, um keine Infektionen in die Familie zu tragen.
Wie viele dieser Familien es in Deutschland gab und gibt, ist unklar. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung schätzt, dass ungefähr elf Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren vorerkrankt sind.
Es gibt auch Schattenfamilien, in denen ein jüngeres Kind oder ein Elternteil beziehungsweise eine andere im Haushalt lebende Person geschützt werden muss. Für die gesunden Geschwister ist das oft besonders schwer.

Kontaktbeschränkungen haben Nebenwirkungen

Deshalb ist die Familie extrem vorsichtig - mit anderen gesundheitlichen Folgen. Die Arzttermine der Tochter wurden zwar wahrgenommen, die wichtige Physiotherapie zu Anfang der Pandemie aber nicht. Die Erwachsenen waren kaum beim Arzt, sein Sohn seit zwei Jahren nicht mehr beim Zahnarzt.

Auch zur Schule sind die beiden Kinder in den letzten zweieinhalb Jahre über weite Strecken nicht gegangen. Möglich ist das nur durch relative berufliche Flexibilität der Eltern. Wobei diese Flexibilität vor allem aus Verzicht besteht. Sebastian Mathis ist selbstständig und Teilhaber einer kleinen Agentur. Seit der Pandemie arbeitet er viel nachts und am Wochenende. Seine Frau hatte zwischenzeitlich einen Vertrag nicht verlängert und ein ganzes Jahr lang gar nicht gearbeitet. Das bedeutet eine finanzielle Belastung für die Familie. Einen "guten sechsstelligen Betrag" habe die Pandemie die Familie bereits gekostet, sagt Mathis.

Dass die Kinder so wenig Kontakt zu Gleichaltrigen haben, wirkt sich auch auf das Sozialverhalten der beiden aus. "Selbstverständlich beobachte ich, dass es für die Kinder, was die soziale Entwicklung anbelangt, eine absolut problematische Konstellation ist. Und deswegen versuchen wir da hart am Wind zu segeln", sagt Sebastian Mathis. Auf der einen Seite möchte die Familie Risiken vermeiden, auf der anderen Seite so viele Sozialkontakte wie möglich zuzulassen – eine ständige Abwägung.

Initiative fordert sichere Bildung

Jana Schroeder | Bild: privat © Jana Schroeder | Bild: privat
Virologie Jana Schroeder

Um Schattenfamilien mehr gesellschaftliche Teilhabe und vor allem einen möglichst risikoarmen Schulbesuch zu ermöglichen, fordert die Initiative "Bildung Aber Sicher" mehr Initiative der Politik. Luftfilter in allen Klassenräumen zum Beispiel. Oder die Möglichkeit, gefährdete Kinder und auch Kinder, deren Angehörige gefährdet sind, in allen Bundesländern jederzeit aus dem Unterricht nehmen zu können. Diese Möglichkeit ist nicht überall gegeben.

Jana Schroeder ist eine der Erstunterzeichnerinnen einer Petition dieser Initiative. Sie ist Chefärztin in der Stiftung Mathias-Spital in Rheine und Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Epidemiologie und Infektiologie. Mit Luftfiltern allein sei es nicht getan, sagt sie. Es bräuchte eine Kombination aus Impfkampagne, Unterricht im Freien, Tests und Masken. "Es geht nicht um 'Schule auf' oder 'Schule zu', sondern es geht um 'Schule sicher'", so Schroeder. Bevor man Schulschließungen ausschließe, solle lieber alles dafür getan werden, die Risiken in Schulen zu verringern. Damit dann gar nicht erst über eine Schließung diskutieren werden müsse.

Impfung hat Problem nicht komplett beseitigt

Geringe Fallzahlen sind dabei auch im Interesse der gesamten Gesellschaft und nicht nur der Schattenfamilien. Denn durch die Impfung und Medikamente ist die Sterblichkeit insgesamt zwar ungefähr auf die bei einer normalen Grippe gesunken. Allerdings zählt auch die Influenza als schwere Erkrankung. Jedes Jahr werden neue Impfstoffe hergestellt, Risikogruppen gegen die neusten Stämme geimpft. Und es gibt jedes Jahr weit weniger Infizierte als bei Covid. Harmlos ist das Corona-Virus also nicht. Auch was die Langzeitfolgen angeht: "Obwohl es ja ein relativ neues Virus ist, sind bei Covid sind jetzt schon wesentlich mehr Langzeitfolgen bekannt als zum Beispiel bei Influenza", sagt Jana Schroeder. Deshalb gäbe es, trotz Impfstoffen, noch immer gute Gründe für alle, vorsichtig zu sein.

Auch ein leichter Verlauf könnte Folgen haben

Auch Familie Mathis hatte sich viel von der Impfung erhofft. Sebastian Mathis ist einer der Mitinitiatoren der Initiative "U12-Schutz – Impfen für Kinder". Die versuchte früh, Kindern Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen, noch bevor die eigentliche Kinderimpfung in speziell abgefüllten Vials verfügbar war. Nach der Impfung der Kinder im vergangenen Mai war die Euphorie zunächst groß. Als sich allerdings abzeichnete, dass der Impfstoff eine Infektion nicht komplett verhindern kann, wurde die Familie wieder vorsichtig.

Denn auch bei einem leichten Verlauf könnte die Tochter, geschwächt durch die Infektion, zukünftig dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sein, befürchten die Eltern. Bei ihrer Geburt wurde ihnen noch gesagt, dass sie nie würde laufen können. Dass sie jetzt doch selbstständig laufen kann, ist nur möglich, weil sie regelmäßig Physiotherapie macht und täglich spezielle Übungen absolviert. Wenn sie eine Zeit lang bettlägerig wäre, könnte ihr hart erarbeiteter Erfolg doch unwiderruflich zunichte gemacht werden, so die Angst der Familie.

Außerdem ist nicht klar, wer die Pflege der Tochter übernehmen könnte, wenn die Eltern beide krank sind. Schon ein verhältnismäßig milder Verlauf, der keinen Aufenthalt im Krankenhaus nötig macht, würde die Familie vor ernsthafte Probleme stellen. "Einfach mal so in den Dimensionen einer durchaus ernsthaften Grippeerkrankung gedacht: Wir liegen mit 40 Grad Fieber im Bett. Dann weiß ich einfach nicht, wer meine Tochter versorgen soll", sagt Sebastian Mathis. Ein Pflegedienst wäre mit den komplexen Aufgaben überfordert, glaubt er. Womöglich müsse die Tochter dann allein mit einer Magensonde im Krankenhaus betreut werden.

Ein Monitor zeigt ein Herzdiagramm. © fotolia.com Foto: evryka23
AUDIO: Schattenfamilien in der Pandemie (6 Min)

Solidarität mit den Betroffenen

Familie Mathis wünscht sich, dass weniger von Eigenverantwortung und mehr von Verantwortung des Staates gesprochen würde. Und dass Masken in Innenräumen wieder als ein Zeichen der Solidarität und nicht der unbegründeten Angst verstanden werden. Denn gerade Schulkinder, die noch Masken tragen, haben es häufig gegenüber anderen schwer.

Ähnlich sieht es auch die Ärztin Jana Schroeder. Masken sind für sie ein kostengünstiges und sehr effektives Mittel, um mehr Menschen eine Teilhabe zu ermöglichen, indem die Infektionszahlen niedrig gehalten werden. Denn insgesamt gebe es gar nicht den Raum für mehr Freiheiten. "Gesamtgesellschaftlich gesehen haben wir es gar nicht mit einer Aufhebung der Maßnahmen zu tun, sondern mit einer Umverteilung auf genau diese Gruppen", sagt sie.

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NDR Info | Aktuell | 03.09.2022 | 14:52 Uhr

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