Corona-Forschung: Neue Medikamente gegen das Virus?
Weltweit suchen Forschende nach Medikamenten, die im Falle einer Corona-Infektion die Vermehrung des Virus stoppen und schwere Covid-Erkrankungen verhindern. Eine Möglichkeit: sogenannte Kinasehemmer.
Um sich zu vermehren, ist das Virus auf die Zellen seines Wirts angewiesen, die es zu Virusfabriken umprogrammiert. Je früher man mit Medikamenten in diesen Prozess eingreift, desto weniger Schaden kann das Virus anrichten und desto weniger kann es sich verbreiten.
Mittel richtet sich gegen die menschliche Zelle
Die Mittel richten sich nicht gegen das Virus selbst, sondern gegen die menschliche Zelle, genauer: gegen sogenannte Kinasen, wichtige Enzyme in der Zelle. Denn wenn das Virus in eine Lungenzelle des Menschen eindringt, nutzt es bestimmte Stoffwechselwege seines Wirtes aus. Die Kinasen sind nun im Einsatz, um neue Kopien des Virus zu erschaffen.
Bislang werden Kinasehemmer in der Krebstherapie und gegen Rheuma eingesetzt, da sie auch entzündungshemmend wirken. Jetzt wird erforscht, ob diese bestehenden Mittel auch Covid-Patienten helfen können. Erste klinische Studien legen das nahe. Um einen Kinasehemmer zu finden, der passgenau die Vermehrung des Coronavirus stoppt, wird auf allen Ebenen geforscht: an komplexen Computermodellen, mithilfe von Wirkstoffbibliotheken und in der klinischen Überprüfung vielversprechender Medikamente, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten entwickelt wurden.
Vermehrung des Virus unterbrechen
Tübinger Wissenschaftler haben mithilfe eines aufwendigen Computermodells und riesiger Datenmengen erforscht, welche Stoffwechselvorgänge in einer menschlichen Atemwegszelle vor sich gehen, wenn sie vom Virus befallen wird– und welche Kinasen der Zelle für die Vermehrung von SARS-Cov-2 besonders relevant sind.
Die Idee: Wenn dieser Stoffwechselweg gesperrt wird, ist die Virusproduktion unterbrochen. Die menschliche Zelle kann auf einen anderen Weg umsteigen, das Virus nicht. Die Vermehrung kommt zum Stillstand.
Riesige Wirkstoff-Sammlungen in Bibliotheken
Um zu testen, welche Mittel den gesuchten Prozess in der Zelle unterdrücken, nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sogenannte Wirkstoff-Bibliotheken. Das sind riesige Sammlungen von Mitteln, von denen viele bereits zugelassen sind. Wenn man diese Stoffe testet, kann man sicher sein, dass sie vom Körper ausreichend aufgenommen werden, und nicht zu giftig sind. Das beschleunigt die Medikamentenentwicklung sehr.
In einem Hamburger Institut der Fraunhofer-Gesellschaft lagern mehr als 250.000 Wirkstoffe. Gut 5.500 davon kommen für die Ausschaltung von Sars-CoV-2 infrage - und können im Labor schnell durchgetestet werden. Aktuelle Ergebnisse zeigen, dass zu den aussichtsreichen Kandidaten gegen Covid-19 auch verschiedene Kinasehemmer gehören.
Kinase-Hemmer soll schwere Covid-19-Verläufe verhindern
Ein ganz neuer Kinasehemmer mit dem Namen ATR-002 stammt von einem kleinen Biotech-Unternehmen in Tübingen. Ursprünglich arbeitete man dort an einem Grippemedikament – mit Beginn der Pandemie wurde der Ansatz zu einem speziellen Medikament gegen SARS-CoV2 weiterentwickelt.
Das Besondere: die Tabletten soll nicht nur die Virusvermehrung stoppen, sondern auch das Immunsystem positiv beeinflussen. Denn die Infektion mit dem Virus ist nur die erste Stufe. Sie betrifft Rachen, Atemwege und Lunge, wo sich das Virus vermehrt.
Der Abwehrkampf des Immunsystems kann dann weitere Organe belasten. Schlimmstenfalls gerät er außer Kontrolle. Obwohl kaum noch Virus da ist, überschwemmen aggressive Entzündungsstoffe den Körper: Zytokine – massenhaft produziert mit Hilfe der gleichen Stoffwechselwege.
Deshalb könnte das neue Medikament auch den gefährlichen Zytokinsturm stoppen. ATR-002 soll nun in einer Phase-II-Studie mit stationär behandelten Patienten mit mittelschwerem bis schwerem Covid-19 in Deutschland und sieben anderen Ländern erprobt werden.