Nach der großen Sturmflut: Generalplan Küstenschutz greift ab 1963
Die Deiche entlang der schleswig-holsteinischen Westküste sind seit der Sturmflut von 1962 kontinuierlich verstärkt worden. Am 20. Dezember 1963 wurde dafür der "Generalplan Küstenschutz" aufgestellt.
Als nach der Sturmflut 1962 Deichschau gehalten wurde, war es für die Deichgrafen, Bürgermeister und Wasserbauer ein Horror-Trip. Auch heute finden an der schleswig-holsteinischen Westküste regelmäßig Deichschauen statt. Immer noch geht es um Zustand, notwendige Arbeiten und Projekte. Die Deiche sind in der Regel in einem "wehrhaften Zustand", wie es oft heißt. Dennoch müssen auch heute Naturphänomene berücksichtigt werde, die den Deichen zusetzen. So nagt das Wasser der Nordsee zum Beispiel an der Küste von Sylt, auch bei St.-Peter-Ording rückt es weiter vor. Zudem häufen sich Sturmfluten. All das steht im Fokus des größten und noch nicht vollendeten Küstenschutzprojektes in der Geschichte des Landes.
Generalplan 1963 ist Folge der großen Sturmflut ein Jahr zuvor
Nach der "Hamburgflut" wurde in Schleswig-Holstein 22 Monate gerechnet, projektiert und verworfen. Am 20. Dezember 1963 lag der "Generalplan Deichverstärkung, Deichverkürzung und Küstenschutz in Schleswig-Holstein" vor. Doch obwohl bis heute mehrere Milliarden Euro in den Küstenschutz geflossen sind, kommen durch den Klimawandel nach wie vor neue Aufgaben auf das Land zu.
Glück und Schock der "Hollandflut" von 1953
Schon vor der Jahrhundertflut 1962 war der Küstenschutz immer wieder Thema. Am 1. Februar 1953 passierte ein Wunder. Über der Nordsee braute sich eine Sturmflut zusammen. Ein Orkantief zog über den Nordatlantik heran. Es war die Zugbahn, die bisher stets der Westküste Schleswig-Holsteins die schlimmsten Sturmfluten beschert hatte. Doch plötzlich schwenkte das Sturmtief mitten über der Nordsee. Die Westküste blieb verschont. Dafür brachen die Deich im Delta des Rheins, der Maas und der Schelde an 67 Stellen. Fast 2.000 Menschen und 47.000 Stück Vieh ertranken. Die "Hollandflut" war für die Betroffenen eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. Für die Menschen in den Marschen zwischen Hamburg und List war es ein Schock.
"Hollandflut führt zum Umdenken beim Deichbau
Die Sicherheit der Deiche stand nun zur Diskussion. Und die Bilanz war erschütternd. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg war an den Deichen zu wenig oder nichts getan worden. Von den 560 Kilometern Festlandsdeichen musste, so die damalige Analyse, die Hälfte verstärkt und erhöht werden. Wo das passiert war, hielten die Deiche in der Nacht von 16. auf den 17. Februar 1962.
Nach der "Hollandflut" 1953 begann auch ein Prozess des Umdenkens. Mit dem Deichschluss des Friedrich-Wilhelm-Lübke-Kooges am 21. Oktober 1954 endete die Geschichte der reinen Landgewinnung. Zwar wurde auch noch das nächste Deichprojekt durch das "Programm Nord" getragen, doch es folgte einer neuen Philosophie. Im 1958 bis 1960 gebauten Hauke-Haien-Koog waren weniger als die Hälfte des Neulandes für die Landwirtschaft gedacht. Der Rest dient als Speicherfläche, um die Entwässerung des Binnenlandes zu sichern. Der neue Deich schützt die nun hinter der zweiten Deichlinie liegende alte Marsch. Das Ziel war nicht mehr neues Land zu gewinnen, sondern die Küste zu schützen.
Weitere Lehren aus der "Hamburgflut"
Aus der Februar-Flut von 1962 wurden die Lehren nun mit dem "Generalplan Küstenschutz" gezogen. Die Deiche mussten erhöht werden. Dafür genügte es nicht, einfach oben ein Stück draufzusetzen. Die vorne und hinten zerschlagenen Deichkronen hatten deutlich gemacht: Der alte Typ war nicht nur zu niedrig für die zu erwartenden Sturmfluten, er war auch zu steil. Der Querschnitt der Deiche - das sogenannte Bestick - musste geändert werden. Zur See hin mussten sie so abgeflacht werden, dass anstürmendes Wasser sich tot lief, die Wellen ihre Kraft verloren. Auch die Binnenseite musste flacher werden, damit Wasser überlaufen konnte, ohne die gefürchteten Kronenbrüche - eben die auf der Innenseite - zu verursachen.
Um solche Deiche zu bauen, brauchten die Wasserbauer mehr als das Doppelte des bis dahin notwendigen Materials. Der Stoff, aus dem die Deiche bis 1962 fast ausschließlich bestanden, war der schwere tonige, bläulich-braune Marschboden, der Klei. Er wurde traditionell in direkter Nähe zum Deich entnommen. Für die neuen Deiche gab es davon nicht mehr genug. Deshalb wurden die alten Deiche geschlitzt, ein neuer hoher Kern aus Sand eingespült und die Außenberme mit etwa einem Meter Klei abgedeckt, die Binnenseite mit einem halben Meter.
Nicht nur wegen des enormen Materialbedarfs war das zweite Ziel des Generalplans, die Deichlinie zu verkürzen. Auf dem Festland wurden die Seedeiche um 207 auf 355 Kilometer verkürzt. Größten Anteil daran hatten die Sperrwerke. Pinnau, Krückau, Stör und Eider - durch das 1973 fertig gestellte Jahrhundertbauwerk - wurden zu Binnengewässern.
Orkan "Capella" wird zur Feuerprobe
Mitte der 1970er-Jahre waren bereits die wichtigsten Dinge zum Schutz der Menschen geleistet. Das zeigte sich am 3. Januar 1976. Die durch den Orkan "Capella" ausgelöste Sturmflut war die höchste an der Westküste im 20. Jahrhundert. Die Deiche brachen im Christianskoog in Dithmarschen, im Kehdinger Land und der Haseldorfer Marsch. Alles Bereiche, die noch nicht verstärkt waren. Wo der Generalplan umgesetzt war, blieb die Flut draußen. Ein Erfolg vor allem für die Wasserbauer des Landes. Zum einen war die Flut ein Signal der Bestätigung an den Bund. Am 3. September 1969 hatte der sich in die Pflicht nehmen lassen: Küstenschutz wurde als nationale Aufgabe anerkannt. Mit dem Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" verpflichtete sich Bonn, künftig 70 Prozent der Investitionskosten für den Küstenschutz zu übernehmen.
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Zum anderen hatte das Land zum Jahresbeginn 1971 die Seedeiche als Landeschutzdeiche übernommen. Nach langem und zähem Ringen mit den Deich- und Hauptsielverbänden war die erste Deichline damit verstaatlicht. Damit endete nach Jahrhunderten die Tradition, den Küstenschutz als Teil der regionalen Selbstverwaltung zu verstehen. Aus der Sicht des Landes hatte sich gezeigt, dass die Verbände fachlich und finanziell mit dem Bau und dem Erhalt der immer mächtigeren Deiche überfordert waren. Die Deichgrafen behielten zwar ihren Titel, doch verloren sie den Deich. Der Kompromiss am Ende eines heftigen Streites war, die Binnenentwässerung - also das Sielwesen - weiter in der Obhut der Verbände zu belassen. Damit wurden am Ende die Lasten geteilt.
Weil bis auf die Trave sämtliche größeren Wasserläufe in Schleswig-Holstein nach Westen durch die Marsch in die Elbe oder die Nordsee entwässern, weil ein Viertel der landwirtschaftlichen Fläche des Landes nur knapp über oder sogar unter Meeresniveau liegt, gelten die Binnenentwässerung und der Küstenschutz in Schleswig-Holstein als Aufgaben vergleichbarer Dimension und Bedeutung.
Küstenschutz ist mehr als Deichbau
Der Generalplan umfasste von Beginn an mehr als den Bau neuer Deiche und Sperrwerke. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 waren die Helfer oft gescheitert, weil Schlepper, Feuerwehrautos und Bundeswehrlaster sich auf den aufgeweichten Wegen bis zu den Achsen festgefahren hatten. Deshalb hat heute jeder Seedeich einen befestigten "Deichverteidigungsweg". Mit dem Wasser spülte bei der Sturmflut auch Treibgut gegen die Deiche und sorgte für zusätzliche Schäden. Deshalb gehört inzwischen die so genannte Treibselabfuhr" zum festen Programm beim Unterhalt der Seedeiche.
Seit Beginn der 1970er-Jahre werden auch der "flächenhafte Küstenschutz" und der Schutz sandiger Küsten vorangetrieben. Inzwischen werden jährlich im Sommer über eine Million Kubikmeter Sand allein vor die 39 Kilometer lange Sylter Westküste gespült. Das meiste davon holen sich jedes Jahr die Winterstürme zurück. Im Ergebnis gelingt es durch das Verfahren, den Bestand der größten deutsche Nordseeinsel zu sichern.
Mehr Schutz auch für die Halligen
Schon vor der "Hamburgflut" war 1957 damit begonnen worden, Schutzräume für die Bewohner der Halligen zu bauen. Das allein war jedoch zu wenig. Der Bestand der fünf Inseln und zehn Halligen schien gefährdet. Die Priele und Ströme um die Inseln wurden infolge eines zunehmenden Tidenhubes und damit stärkerer Strömungen immer tiefer ausgeräumt. Um die Strömungen im Wattenmeer wieder zu beruhigen, wurden von 1982 bis 1987 mehr als 3.300 Hektar in der Nordstrander Bucht abgedeicht. Der Beltringharder Koog war entstanden.
Neue Aufgaben für den Küstenschutz
Der Bau des Beltringharder Kooges war ein erneuter Wendepunkt. Parallel wurde seit Mitte der 1970er-Jahre über die Vordeichung der Nordstrander Bucht und einen Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer diskutiert. Der Küstenschutz nach der reinen Lehre der Wasserbauer wurde in Frage gestellt. Am Ende gab es nach dem wohl heftigsten Streit um ein Deichbauprojekt in der Geschichte des Landes einen Kompromiss. In der Nordstrander Bucht entstand die sogenannte kleine Lösung. Neben der besseren Entwässerung des Binnenlandes dient der neue Koog fast ausschließlich dem Naturschutz. Küsten- und Naturschutz in Einklang zu bringen, ist heute eines der zentralen Ziele.
Inzwischen ist für die Menschen hinter den Deichen, auf Inseln und Halligen ein Sicherheitsstandard erreicht, den sich 1962 so niemand hätte vorstellen können. Doch es reicht nicht, das Erreichte zu bewahren. Der Klimawandel ist in vollem Gange, damit kommt es schon jetzt zu mehr Sturmfluten. Auch steigt der Wasserspiegel der Nordsee. Die Wasserbauer schätzen, dass die Deiche schon in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erheblich höher sein müssen als heute.