Eidersperrwerk: Das Bauwerk zähmt die wilde Nordsee
Das riesige Bauwerk bei Tönning, das am 20. März 1973 eingeweiht wird, beendet die stete Bedrohung durch Sturmfluten im Hinterland der Eider. Doch es verändert auch die Landschaft - und das Salzwasser nagt am Sperrwerk.
Im Februar 1962 führt eine verheerende Sturmflut den Norddeutschen vor Augen, dass sie den Nordseefluten schlimmstenfalls weitgehend schutzlos ausgeliefert sind - auch noch im 20. Jahrhundert. Zahlreiche Deiche brechen. Allein in Hamburg sterben mehr als 300 Menschen. Auch große Teile von Dithmarschen, Eiderstedt und Tönning in Schleswig-Holstein werden überschwemmt. Denn das Hinterland der Eider ist seit jeher ein besonderer Schwachpunkt: Der Fluss ist der Tide ausgesetzt - und damit auch den Nordseefluten.
Die Eider: Einfallstor des Meeresriesen Aegyr
Seit Menschengedenken sind die Menschen im Einzugsbereich der Eider besonders gefährdet. Bereits der Name des Flusses Eider weist darauf hin: Er leitet sich ab von "Aegyr Dör", dem Tor des Aegyr, einem schrecklichen Meeresriesen der nordischen Mythologie. Wenn Sturm und Hochwasser die Fluten in die Eider-Mündung drücken, drängen die Wassermassen landeinwärts. Über die Eider-Zuflüsse Treene und Sorge gelangt das Wasser bis weit ins Landesinnere und überschwemmt die Niederungen. Da weite Teile der Flussmarschen unter dem Meeresspiegel liegen, fließt es dort nur langsam wieder ab.
Generalplan Küstenschutz: Ein Bollwerk an der Eider-Mündung
Nach dem Schock von 1962 will man die Naturgewalten endgültig bändigen. Der "Generalplan Küstenschutz" sieht zahlreiche Maßnahmen vor. Sein wichtigstes und größtes Vorhaben ist das Eidersperrwerk nahe Tönning. Statt die Deiche entlang beider Flussufer zu erhöhen, entscheidet man sich für den Bau eines riesigen Bollwerkes im Mündungstrichter. Bis auf einen kleinen Spalt will man das Einfallstor des Meeresriesen schließen. Damit wird die Deichlinie von insgesamt 60 Kilometer im Eidergebiet auf nur rund fünf Kilometer verkürzt.
Eröffnung 1973: "Der Schimmelreiter wird arbeitslos"
Am 29. März 1967 erfolgt der erste Spatenstich zu dem bis heute größten Küstenschutzbauwerk Europas. 45.000 Kubikmeter Beton, 6.000 Tonnen Stahl sowie 95.000 Tonnen Felsbruchsteine werden verbaut. Es entsteht ein insgesamt fünf Kilometer langer Damm mit einem rund 250 Meter breiten Sperrwerk in der Mitte. Nur sechs Jahre später ist das Bauwerk fertig. Der große Vorteil war, dass es keine Umweltauflagen gab - großer Art", sagt Hans-Gerhard Knieß, ehemaliger Betriebsleiter des Eidersperrwerks, dem Schleswig-Holstein Magazin 2024. "Alle, die beteiligt waren, haben gesagt: 'Macht es fertig, schnellstmöglich muss es fertig sein, damit wir die Hochwasser-Katastrophe von 1962 nicht wieder erleben hier.'"
Am 20. März 1973 eröffnet der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU) die 170 Millionen D-Mark teure Anlage. "Der Schimmelreiter wird arbeitslos", titelt dazu die Wochenzeitung "Die Zeit": Der Sage nach zeigt sich der Schimmelreiter, den Theodor Storm in seiner berühmten Novelle verewigte, stets nur dann, wenn am Deich Gefahr droht.
Schutz, Entwässerung und Schiffsverkehr
Das Bauwerk hat nicht nur die Aufgabe, das Binnenland vor der Nordsee zu schützen. Die Flüsse müssen weiter abfließen können, um das Hinterland zu entwässern. Auch der Schiffsverkehr ins Binnenland muss möglich bleiben. Technisch gesehen besteht das Eidersperrwerk daher aus mehreren Einzelbauwerken. Am auffälligsten ist das Sielbauwerk mit seinen fünf jeweils 40 Meter breiten Durchlässen. Sie sorgen für einen geregelten Wasserdurchlauf zwischen Binnenhafen und Nordsee. Zwei separate Reihen mit jeweils fünf Toren von je 250 Tonnen Gewicht lassen sich jederzeit schließen, um das Hinterland vor Fluten zu schützen. Die Ausführung mit Doppeltoren soll dabei besonders viel Sicherheit bieten für den Fall, dass ein Tor ausfällt.
Zwischen den Toren führt ein 236 Meter langen Straßentunnel hindurch, der die Regionen Dithmarschen und Eiderstedt miteinander verbindet. Über dem Tunnel befindet sich ein bei Touristen beliebter Fußweg. Dieser bietet eine gute Aussicht auf die Westküste und die Eider.
Schleuse ermöglicht Durchfahrt von und nach Tönning
Um den Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen, besitzt das Eidersperrwerk zudem eine Schleuse. Durch sie können Kutter, Ausflugsschiffe und Privatboote von oder nach Tönning passieren. Zur Schleuse gehört eine Klappbrücke, über die der Straßenverkehr läuft. An das Sielbauwerk schließt sich der Eiderdamm als weiteres Bauwerk an.
Wattflächen und Salzwiesen gehen verloren
Der Bau des gigantischen Sperrwerks bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Naturraum der Küstenregion. Durch die veränderten Strömungsverhältnisse gräbt das Wasser direkt vor dem Damm und der Schleuse ein etwa 30 Meter tiefes Loch. Es muss in den 1980er-Jahren mit 20.000 Sandsäcken zugeschüttet werden. Auch landeinwärts ist der Eingriff gravierend: Etwa 1.200 Hektar Wattflächen und Salzwiesen im Mündungsgebiet der Eider sind verloren, ein Teil der trockengelegten Flächen wird der Landwirtschaft überstellt.
Katinger Watt: Ein "künstlicher" Naturraum
Auf dem Rest soll sich ein naturnaher Erholungsraum entwickeln. Dazu macht man eine Umfrage unter Feriengästen - und die wünschen sich einen Wald. Und so entsteht auf rund 350 Hektar ehemaliger Wattfläche ein Wald - und damit ein Naturraum, der in der Marsch natürlicherweise nicht vorkommt. Heute besteht das Katinger Watt neben dem Wald aus einem Flickenteppich von Teichen, Gräben, Weide- und Ackerflächen. Vögel und Pflanzen haben den ungewöhnlichen Naturraum längst erobert. Ende 1980er-Jahre wird zudem auf der gegenüberliegenden Flussseite das Dithmarscher Eiderwatt angelegt, um den Verlust an Watt und Salzwiesen auszugleichen.
Salzwasser setzt dem Eidersperrwerk zu
Für den Küstenschutz ist das Eidersperrwerk ein voller Erfolg. Vor Dutzenden teils schweren Sturmfluten hat es das Hinterland geschützt - auch vor der bislang höchsten gemessenen Sturmflut im Jahr 1976. Ohne das riesige Bollwerk könnte sich das Wasser bei schweren Sturmfluten schlimmstenfalls bis nach Rendsburg drücken. Bei Niedrigwasser kann das Wasser weiterhin problemlos in die Nordsee abfließen. Doch es gibt auch Probleme: Bei seiner Planung in den 1960er-Jahren wird das Bauwerk - wie im Wasserbau üblich - auf 80 Jahre hin angelegt. Doch schon deutlich früher muss saniert werden. Das Salzwasser setzt dem Bauwerk unerwartet heftig zu, Sturmfluten drücken auf die Sieltore, führen zu Rissen im Beton und lassen Stahlteile korrodieren. Über die Jahre werden immer wieder Reparaturen notwendig.
Sanierungsfall Sperrwerk: Asbest und Korrosion
Auch in den kommenden Jahren stehen Sanierungsmaßnahmen an: Alle zehn Sieltore müssen erneuert werden, weil sie rosten. Zusätzlich müssen hochgiftige, asbesthaltige Lackschichten von den Toren entfernt werden - eine knifflige Arbeit, bei der die Arbeiter spezielle Sicherheitskleidung tragen müssen. Nach jedem Einsatz müssen sie verschiedene Sicherheitsschleusen zur Reinigung durchlaufen. Die giftige Flüssigkeit muss von der Baustelle abgepumpt, in Fässer verstaut und anschließend als Sondermüll entsorgt werden. Bis jedes der 40 Meter langen und sechs Meter hohen Sieltore saniert ist, wird es mehrere Jahre dauern. Denn die Arbeiten können nicht zu jeder Zeit stattfinden. In der Sturmflutsaison werden nämlich alle Tore benötigt, um den Schutz vor der Nordsee gewährleisten zu können.