Marc Sinan über ein Trauma einer türkisch-armenischen Familie
Marc Sinan ist 1976 als Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren. Er ist Komponist und Gitarrist. In seinen Werken geht es häufig um Gewalt, Verwüstungen und Traumata der Vergangenheit. Jetzt hat er sein erstes Buch geschrieben.
Marc Sinan hat gerade seinen Roman über die türkische und armenische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts veröffentlicht. "Gleißendes Licht" heißt das Buch, das teilweise auch autobiografische Züge hat. "Gleißendes Licht" ist eine Familiengeschichte voller Glanz, Tragik und Gewalt.
Sie sind sehr umtriebig, man könnte sagen ein Tausendsassa.
Marc Sinan: Arbeitswütig, würde ich sagen.
Die Wut, das ist auch ein Thema, worauf wir wahrscheinlich noch zu sprechen kommen, aber wahrscheinlich auch im positiven Sinne.
Sinan: Im Buch "Gleißendes Licht" gibt es eine Stelle, wo die Tochter des Protagonisten sagt: "Papa, wenn du traurig bist, dann wirst du wütend. Wenn ich traurig bin, dann weine ich." Das ist, glaube ich, auch eine der Schnittmengen zwischen mir und der Figur, die ich erfunden habe: Kaan, der Protagonist meines Buches. Wut ist die engste Gefährtin der Trauer, dass ist sozusagen ein fließender Übergang. Ich glaube, das ist psychologisch auch nachvollziehbar.
Jetzt sind es Risse, die sich weitervererben. Wann haben Sie gemerkt, dass das alles in Ihnen zusammenkommt? Wann haben Sie gemerkt, dass Sie sich damit, aus Ihrer Sicht, auseinandersetzen wollen und auch auseinandersetzen müssen. Wann sind diese verschiedenen Traumata in der Familie zu einem Lebensthema geworden?
Sinan: Rückblickend ist es nicht immer ganz einfach zu sagen. Ich weiß mittlerweile, dass ich dieses Buch vor 20 Jahren schonmal begonnen habe zu schreiben. Das hatte ich tatsächlich vergessen. Ich hatte letztens ein paar Skizzen und Kapitel dazu gefunden, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich die überhaupt gemacht hatte. Es war damals nicht dieser Roman, sondern eher ein Fokus auf die Geschichte meiner Großmutter. Das ist so, als würde das Unterbewusstsein das Erlebte unter eine Decke kehren. Das kam immer wieder hoch und verschwand auf erschütternde Weise. Wenn man in diesen Tagen darüber nachdenkt, war das damals zur Zeit des letzten schweren Erdbebens in der Türkei 1999, das hat mich wahnsinnig aufgewühlt, so wie auch heute. In der damaligen Auseinandersetzung wurde mir klar, wie sehr mich die Menschen in der Türkei bewegen, und zwar alle ethnischen Zugehörigkeiten.
Dann begann ich mit meiner Arbeit als Komponist. Mein erstes Stück, mit dem ich hervorgetreten bin, ist eigentlich mein erstes transkulturelles Stück. Eine abendfüllende Komposition mit Musiken, die ich aufgenommen habe, traditionelle Musik von der Schwarzmeerküste und der armenischen Grenze, auf der Suche nach meinen kulturellen Wurzeln. Das war der erste Punkt, wo ich begonnen habe, mich kritisch mit der Frage, um den Genozid an den Armeniern auseinanderzusetzen. Dann ging das 2013 mit einem Musiktheaterstück weiter, wo ich einen alten Mythos vertont habe. Das ist eine Art Nibelungenlied der Türken, das auch im Buch vorkommt. Ein Stoff aus dem Märchen aus dem 7. Jahrhundert, der wie eine Matroschka erzählt wird. Es geht darum, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Türkei abgelaufen ist - erschütternd. Wenn man sich überlegt, da wird 1.300 Jahre vor einer Gegenwart etwas skizziert, was dann mehr oder weniger eintritt: Die Machtverhältnisse, der Ausschluss der Minderheiten, die Missachtung der Frauen. Es ist eine brutale Geschichte voller Nationalstolz. Ich glaube, es wird erst durch die Transkription in die Moderne deutlich, wie brutal sie wirklich ist. Das war auch mein Anliegen, das zu übersetzen, wie würde sich das in Wirklichkeit ausdrücken, was da steht. Es ist eine Beschreibung einer Wirklichkeit, die wir lesen. Wir wissen selbst, Wirklichkeit ist noch viel grausamer, als das, was ich da aufzuschreiben gewagt habe. Und das hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer.