"Ein steiniger Weg": Eine Geschichte vom Leben auf der Straße

Stand: 12.01.2025 09:00 Uhr

Von heute auf morgen alles verlieren: Frau, Job, Wohnung, Geld - das ist Jürgen Neitz aus Waren passiert. Ein Mann, der sein Leben lang gearbeitet hat, war plötzlich obdachlos. Sein Buch "Ein steiniger Weg" hat er zusammen mit Journalistin Laura Beck rausgebracht.

von Friederike Witthuhn

"Ich bin so ein Hans-Dampf-in-allen Gassen", sagt Jürgen Neitz über sich. Er ist ein Mann von schmaler Statur, immer einen Zigarillo in der Hand, sein Gesicht voller Falten, die viel über sein Leben erzählen. Er hat Binnenfischer an der Müritz gelernt, war zu DDR-Zeiten Polizist und nach dem Mauerfall Lkw-Fahrer, hat Möbel durch ganz Europa transportiert.

In München passiert ihm, womit er nie gerechnet hätte: Seine Beziehung scheitert, er stürzt in Schulden und in eine Depression. Mit Mitte 50 landet Jürgen Neitz auf der Straße. Zwölf Jahre lang lebt er in den Tag hinein, sammelt Flaschen, finanziert sich so sein Leben als Obdachloser, schläft in Autos, auf Bänken oder in Papiercontainern. "Ich habe zeitweise auch in Baugerüsten geschlafen, die mit Planen abgedeckt waren", erzählt er. "Da hast du auch Schutz vor Regen gehabt. Da muss man schon erfinderisch sein."

Aus handschriftlichen Notizen wird Sachbuch "Ein Steiniger Weg"

Ein Mann geht an einer Hafenkante entlang © Screenshot NDR
Heute lebt Jürgen Neitz in Waren und verdient sich in der Firma eines Freundes als Rentner etwas dazu.

Immer wieder, wenn der heute 70-Jährige an diese Zeit denkt, kämpft er mit den Tränen. Warum haben Sie sich nie Hilfe geholt?, fragt ihn vor vier Jahren die Journalistin Laura Beck. Sie dreht für den Bayerischen Rundfunk über Obdachlose einen Film. Neitz antwortet: "Dass ich kein Geld beantragt habe, lag einfach nur daran, weil ich höre, was andere reden. Dann müssen sie wieder hierhin, dann müssen sie da wieder etwas nachweisen, dann müssen sie einen Ein-Euro-Job machen. Da war ich zu stolz für."

Laura Beck merkt schnell: Dieser Mann ist anders als all die anderen Obdachlosen, die in München zu Hunderten auf der Straße leben. Er trinkt keinen Alkohol, nimmt keine Drogen. Die beiden bleiben in Kontakt. Die Journalistin hilft ihm später, all seine Gedanken, die er handschriftlich festhält, in ein Buch mit dem Titel "Ein steiniger Weg" zu bringen. Jürgen Neitz stellt es in Waren auf einem Fahrgastschiff vor - mit Hilfe von Freunden.

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Mit Hilfe von Freunden aus der Obdachlosigkeit

Einer von ihnen ist Buchverleger Helmut Uhlig. All die Jahre hat er immer mal wieder im Netz nach Jürgen gesucht, sagt er: "Da war ein Bericht von der 'TAZ' - und den habe ich gelesen. Ich habe gedacht, ich falle von meinem Stuhl, weil man ihn nicht so kannte. Man kannte ihn nur als Menschen, der immer gearbeitet, gemacht, getan hat - und immer rackig. Das war gar nicht zu begreifen."

Er und Wolf-Dieter Schott, der ein Schiffahrtsunternehmen in Waren hat, helfen Jürgen Neitz, wieder an der Müritz Fuß zu fassen. Sie richten ihm eine Wohnung ein. Seit ihr Freund zurück ist, kreisen ihre Gedanken oft um Jürgens tiefen Fall, berichtet Wolf-Dieter Schott: "Wir müssen uns nichts vormachen. Es hätte mir genau so gehen können wie ihm. Ich habe hier eine Firma und nirgendwo steht, dass man die ewig hält. Meistens ist es so. Wenn so etwas den Bach runter geht, ist man nachher mittellos."

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Kindheit im Heim

Dass Jürgen Neitz es schafft, überhaupt auf der Straße zu überleben, erklärt er in seinem Buch so:

"Ich stelle mir von Anfang an Regeln auf. Die Obdachlosigkeit ist keine Katastrophe für mich. Ich habe von klein auf gelernt, mit wenig zurechtzukommen, und schon im Kinderheim nach Regeln gelebt." Leseprobe

Jürgen Neitz wächst in den 1960er-Jahren im staatlichen Kinderheim in Waren auf. Durch Zufall berichtet das DDR-Fernsehen über ihn: "Das ist Jürgen. Er ist heute zwölf Jahre alt. Seit seiner Geburt ist Jürgen im Heim. Seine Mutter wohnt gar nicht weit von ihm. Aber Jürgen hat seine Mutter noch nie gesehen. Seine Bitte, sie mal besuchen zu dürfen, wurde von ihr immer brüsk abgelehnt." Sie lässt es auch nicht zu, dass Jürgen adoptiert werden kann.

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Selbst aus seinem Buch vorzulesen, schafft Jürgen Neitz nicht. Immer wieder weint er. Auch hier helfen ihm Freunde:

"Nur Plastik und Dosen, 25 Cent. Glas mache ich nicht. Da schleppt man sich für 8 Cent kaputt. Mit zwei Dutzend Plastikflaschen hat man dagegen immerhin sechs Euro beisammen." Leseprobe

Heute lebt der 70-Jährige in Waren in einer kleinen Einraumwohnung und unterstützt seinen Freund Wolf-Dieter, wenn der mit seinen Fahrgastschiffen auf der Müritz unterwegs ist. So verdient er sich als Rentner noch etwas dazu. Das Schreiben und das Zurückkommen haben Jürgen Neitz gut getan: "Ich kann sagen, ich bin glücklich, was andere nicht verstehen. Aber ich bin es."

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Ein Steiniger Weg

Seitenzahl:
298 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
Netzwerk-Kurier-Verlag
Bestellnummer:
9783000806476
Preis:
19,95 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Kulturjournal | 13.01.2025 | 19:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Sachbücher