Dmitrij Kapitelman: Sein neues Buch beinhaltet viele Wahrheiten
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, mit acht Jahren in Leipzig gelandet, beobachtet das Geschehen in der Ukraine mit besorgter, ungeduldiger Aufmerksamkeit, und macht das, was er am besten kann, er schreibt darüber.
Über drei Jahre wütet der Krieg in der Ukraine. Ein Krieg, der die geopolitische Machttektonik durcheinanderwirbelt. Gerade frisch erschienen ist Dmitrij Kapitelmans neuer Roman "Russische Spezialitäten". Hauptschauplatz ist ein Laden in Leipzig, in dem alles verkauft wird, was man braucht, um Erinnerungen festzuhalten. Doch gehen Meinungen und Narrative, auch im engsten Familienkreis, weit auseinander. Die Mutter glaubt Putin genauso wie dem russischen Wetterbericht im Fernsehen. Und ihr Sohn verzweifelt daran. Also rafft er sich auf und will die Bilder des Krieges sehen, er reist in die Ukraine. Das ist der neue Roman von Dmitrij Kapitelman. Wie viel Autobiografie steckt in "Russische Spezialitäten"? Darüber spricht der Journalist und Schriftsteller in NDR Kultur à la carte.
Ich finde es schwierig, den Ich-Erzähler, der eben auch Dmitrij Kapitelman heißt, von Dmitrij Kapitelman zu unterscheiden. Bei mir kommt die Frage auf, was ist Biografie und was ist Autobiografie? Was ist autofiktional und was haben Sie wirklich erlebt?
Dmitrij Kapitelman: Es ist im Prinzip wie bei all meinen Büchern, die wirklich harten Sachen sind alle wahr. Die Dinge, die ich mir ausdenke, sind eher die schönen, die lustigen, manchmal die eigenwilligen, aber nicht alle. Für mich ist der Humor, das Alberne und das teilweise Groteske in dem Buch, eher ein Teil der Wirklichkeit, als ein Teil meiner Fantasie. Das was an Blut und Schrecklichkeiten in diesem Buch ist, das ist nicht fabuliert.
Es gibt zum Beispiel eine Szene im Kapitel "Eine Mutter aus Mariupol": Es ist eine nächtliche Zugfahrt, vier Menschen sind gemeinsam in einem Schlafwagen und fahren aus der Ukraine raus und sind schon in Polen. Da gibt es den Mann, den Erzähler - vielleicht bin ich es, das können wir nicht ganz klar trennen - und diese Frau in einem pinken Sweatsuit mit einem kleinen Baby. Sie ist im Prinzip die unbedrohlichste Reisebegleiterin, die man sich als mittelalter Mann vorstellen kann. Aber die Sachen, die sie aus Mariupol erzählt, sowohl über die russischen als auch über die ukrainischen Truppen, die versetzen einen in Angst und Bange. Es ist eine gewisse Bitterkeit, die da mitschwingt. In dem Buch ist es so, dass eines ihrer Augen Feuer fängt und qualmt, wenn sie von der Zeit in Mariupol spricht. Wie Sie sich denken können, ist das natürlich nicht die reine Wahrheit, aber es ist eine Art, die Wahrheit zu zeichnen.
Das machen Sie vor allem im zweiten Teil Ihres Buches. Der erste Teil Ihres Buches kommt mir vor wie eine Art Kammerspiel.
Kapitelman: Das finde ich eine total schöne Art, das zusammenzufassen. Ich habe das nie so gesehen. Aber tatsächlich versuche ich, den Lesern und auch mir ein gewisses Maß an Unschuld in der Verhärtung der Identitäten der Nationen zu zeigen. In den imperialistischen Ansprüchen von Russland ist es völlig undenkbar, dass es diesen Ort noch vor wenigen Jahren gab, wo all diese Nationen wie Weißrussland, Russland, Ukraine, Polen sich mehr oder weniger als eine Einheit begreifen und Weißkraut, Sonnenblumenkerne und Schweinchenwurst kaufen.
Ich versuche eigentlich, einen Bogen zu ziehen. Im Buch beginnt es Mitte der 1990er-Jahre, als noch der Staub vom Zerfall der Sowjetunion in der Luft liegt. Bei diesem, wenn auch diffusen Wir-Gefühl - in dem natürlich auch ganz viel Brüchiges steckt, was die Zeit dann aufbrechen wird - ziehe ich den Bogen. In dem Geschäft, wo "Russische Spezialitäten" dransteht, arbeitet niemand aus Russland da, höchstens ab und zu Praktikanten. Auch die meisten Produkte kommen nicht aus Russland. Auf dem Wodka ist ein ukrainisches Label, der aber teilweise in Nürnberg abgefüllt wird. Die Wurst wird in Polen eingekauft. Das ist in gewisser Weise auch eine Miniatur des sowjetischen Prinzips, dass über allem Russland drüber geschrieben wird und die einzelnen Komponenten, die das tragen, sind eigentlich sehr weit in dieser Union verteilt. Das ist auch sinnbildlich dafür gedacht, dass man die Dinge nicht mehr als russisch überschreiben kann. Das ist anachronistisch. Ich habe ganz bewusst die unerträgliche Leichtigkeit von damals gewählt, im Kontrast zum Krieg jetzt.
Sie sind in den Bus gestiegen, haben sich 1.500 Kilometer auf den Weg von Leipzig nach Kiew gemacht. Wie lange fährt man da?
Kapitelman: Wir sind, glaube ich, insgesamt 27 Stunden gefahren, mit Pausen. Das war im April 2024, die Zeit verfliegt.
Hatten Sie Angst bei dieser Reise?
Kapitelman: Sicher. Es hat mir keiner gesagt, Dmitrij, das ist jetzt eine richtig gute Idee, ins Kriegsgebiet zu fahren. Die Strecke, die man nach Kiew fährt, ist relativ nah an Weißrussland. Wenn man sich die Übersichtskarte der Angriffe anschaut, dann gibt es da relativ viel Beschuss. Die wirklichen Risiken kann man aus der Ferne gar nicht abschätzen. Es gibt einen Moment in dem Buch, da fahren Andrij, Zoja und der Erzähler am Kiewer Meer entlang. Gleich daneben ist ein Wasserkraftwerk, eines, was bei den Prioritäten Russlands für die Zerstörung sehr weit oben steht. Zwischen dem Wasser und diesem Kraftwerk ist ganz wenig Platz auf der Straße. Das heißt, wenn man zum falschen Zeitpunkt da ist, ist es zu spät. Da hält man schon ein bisschen den Atem an.
Zwei oder drei Wochen, nachdem ich wieder weg war, ist auch das Kinderkrankenhaus in Kiew mit Raketen beschossen worden. Natürlich gibt es die tiefer gehende Furcht, also, was finde ich dort eigentlich? In welchem Zustand treffe ich meine Freunde? Ich hatte komplett die Hosen voll, aber ich musste trotzdem mal wieder hin. Nicht nur wegen des Buches. Ich habe jetzt zwei Jahre aus der Ferne zugesehen, wie diese Welt, die ich kenne, zerstört wird. Das macht was mit einem, das immer wieder wegzudrücken und seinen kleinen Alltag weiterzuleben. Wegdrücken kann auch darin bestehen, dass man die Nachrichten noch guckt, aber die Frage ist, wie tief lässt man sich darauf ein? Ich habe das für mich gebraucht und auch gesagt, dass ich das Buch nicht schreiben kann, ohne die Ukraine nochmal zu spüren und ukrainische Figuren zu Wort kommen zu lassen.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen. Das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.
