"Russische Spezialitäten": Wenn der Krieg die Familie spaltet
In seinem neuen Buch beschäftigt sich der 1986 in Kiew geborene Dmitrij Kapitelman mit der Frage nach Zugehörigkeit, aber auch nach Wahrheit und Manipulierbarkeit - denn der Krieg in der Ukraine spaltet seine Familie.
Wir befinden uns in einem Ladengeschäft in Leipzig; im "Magasin" von Dmitrijs Eltern. Sie: Kettenraucherin, "kyjiw-kompatibel" geschminkt, also üppig, und mit der Gabe, Sterne vom Himmel zu pflücken. Er: ambitioniert, tiefhängende Hose, schlaganfallgebeutelt, jüdisch und auf Du mit den toten Fischen in der Frischetheke. Die scheinen ihn nämlich unaufhörlich fröhlich anzuquasseln.
Gefangen in "Fernsehrussland"
Wir sind dabei, als die Eltern den Laden eröffnen und Onkel Jakob das Fischgrätenparkett mit grünem Linoleum überklebt - was sich bei der Auflösung des "Magasins" nach über 20 Jahren als unklug erweist:
Das ist sowjetisch-russischer Leim, der löst sich nicht. Was er einmal hatte, lässt er nicht mehr los! Leseprobe
Wir sind dabei, wenn Dmitrij mal mit Mama, mal mit Papa nach Kiew fährt, um russische Spezialitäten für den "Magasin" zu besorgen; bei den Gesprächen mit Stammkunden, Verwandten und Freunden; dabei, als Russland die Ukraine überfällt.
Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren. Leseprobe
Nur leider funktioniert das für Dmitrij nicht so richtig. Denn vor allem Mama ist in einer Parallelwelt gefangen: in Fernsehrussland. Dort, wo von "Spezialoperationen" in der Ukraine berichtet wird:
Diese russische Wahrheitslüge ist zu kompliziert, als dass ich sie zumindest theoretisch begreifen könnte. Doch meine Mutter bekräftigt sie in aller Schwäche. "Die Ukrainer zerstören das Land!", knurrt sie, nebenbei, auf die Frikadellen nach Kyjiwer Art konzentriert. Leseprobe
Sie, die ihm die Liebe zu Kiew überhaupt erst vermittelt und vorgelebt hat.
Der bittere Alltag im Kriegsgebiet
Nachdem Dmitrij Kapitelman im ersten Teil seines neuen Romans ein Gefühl für das Zusammenleben in dieser ukrainisch-moldawisch-jüdischen Familie und Gemeinschaft greifbar gemacht, die Temperatur gefühlt hat, entschließt er sich im zweiten Teil, nach Kiew, ins Kriegsgebiet zu fahren. Mama wird schon sehen!
Er trifft die von der Mutter verprellten Freunde, trinkt die ganze Nacht Wodka mit ihnen, taucht in ihren Alltag ein, ihre Gedankenwelt, ihre realen Ängste. Trifft seinen Freund von damals, der alternativlos darauf wartet, an die Front geschickt zu werden - oder aber seine Frau. Und er erhascht einen Blick hinter die Kulissen, erfährt von Verzweiflungstaten und Machtmissbrauch in der ukrainischen Armee. Seine Mutter indes sieht in seiner Reise vor allem eines: die Chance auf saftigen Speck, der nirgends so gut schmeckt wie in Kiew. Während ihr Sohn im Bombenbunker russische Raketen überlebt, textet sie:
"Denkst du daran, mir Salo mitzubringen? Mit schön fettem Knoblauchrand!" Leseprobe
Schweres Thema leicht erzählt
In "Russische Spezialitäten" erforscht Dmitrij Kapitelman die Beziehung zu seinen Eltern, vor allem zur Mutter - die politischen Kräfte, auch jene in Deutschland, immer im Blick. Er tut dies verzweifelt und zugewandt, liebevoll und verständnislos. Die Muttersprache, das Russische, spielt dabei eine Hauptrolle.
Seit diesem Krieg weiß ich überhaupt nicht, was Sprache eigentlich ist. Was sie soll. Was sie will. Was sie kann. Ob sie gehört, wem sie gehört, wohin sie gehört. Leseprobe
Was nach Schwere klingt, liest sich bei Kapitelman dennoch leicht. Weil er ein empathischer Beobachter und Erzähler ist. Weil er sich Worte, Sätze und Szenen ausdenkt, die von liebenswertem Sarkasmus und poetischer Luftigkeit getränkt sind. Kicher-Humor - das ist wohl eine von Dmitrij Kapitelmans russischen Spezialitäten.
Russische Spezialitäten
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Veröffentlichungsdatum:
- 18. Februar 2025
- Bestellnummer:
- 978-3-446-28247-6
- Preis:
- 23 €
Schlagwörter zu diesem Artikel
Romane
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