"ZOV": Bericht eines russischen Soldaten über den Ukraine-Krieg
Pawel Filatjew war als russischer Soldat beim Einmarsch in die Ukraine dabei. Inzwischen lebt er im Exil - und hat seine Erfahrungen aufgeschrieben.
Wie fühlt sich der Ukraine-Krieg an, dann, wenn man direkt dabei ist? Wir erfahren wenig, und wenn, dann vielleicht am ehesten die Perspektive ukrainischer Soldaten. Pawel Filatjew allerdings war ein russischer Soldat – "war", weil er die Armee verlassen und ins westliche Ausland geflüchtet ist. Aber er schreibt über seine Erlebnisse. In dem Buch "ZOV. Der verbotene Bericht".
Pawel Filatjew ist vom ersten Kriegsmoment an dabei. In der Nacht vom 24. Februar fährt er mit seiner russischen Kompanie bereits auf ukrainischen Boden. Er muss kurz eingenickt sein, denn er schreibt, dass er gegen vier Uhr am Morgen durch das Donnern von Geschützen geweckt wird. Er hat keine Ahnung, was vor sich geht und wer hier auf wen schießt:
Beschießen wir die angreifenden Ukrainer? Die NATO? Oder greifen wir an? Wem gilt dieser höllische Beschuss? Wo kommt die Fernartillerie her? Gab es ein Referendum in den Volksrepubliken? Nehmen wir Cherson ein? Greift uns die Ukraine an, mit Hilfe der Nato? Wie dem auch sei, wir haben sicher einen Plan. Leseprobe
Soldaten werden schlecht ausgerüstet an die Front geschickt
Das mit dem Plan wird sich noch als krasser Irrtum Filatjews herausstellen. Und besonders frappierend ist, dass die Soldaten auch später nicht erfahren, welchen Auftrag sie genau haben, was der Grund für diesen Krieg ist. Stattdessen werden sie schlecht vorbereitet und miserabel ausgerüstet an die Front geschickt, schreibt Filatjew.
Die Hälfte unserer Jungs läuft in ukrainischen Uniformen herum, weil sie qualitativ hochwertiger und bequemer sind oder weil die eigene längst aufgetragen und unser großartiges Land nicht in der Lage ist, seine Armee mit Kleidung, Essen und Ausrüstung auszustatten. Ich hatte zum Beispiel (...) beim Überqueren der Grenze nicht einmal einen Schlafsack. Nach einer Woche trieben die Jungs (...) einen Schlafsack mit kaputtem Reißverschluss für mich auf. Leseprobe
Ein radikal subjektiver Bericht
Pawel Filatjews Buch ist ein schmaler Band von knapp 200 Seiten. Er schreibt sehr persönlich, radikal subjektiv. Es geht ihm nicht um Analyse oder Hintergründe, sondern um seine Sicht auf die ersten Wochen des Krieges. Und ja, wir Leserinnen und Leser können nicht wissen, ob sich alles so zugetragen hat und welches Verhältnis er inzwischen zur ukrainischen Seite hat. Aber: er geht mit seinem Buch ein großes Risiko ein, gilt dem russischen Regime als Verräter und setzt sein Leben aufs Spiel, wie alle Dissidenten und Abtrünnigen. Er könnte, schreibt Pawel Filatjew, auch einfach schweigen, wie die Mehrheit seiner Landsleute:
Ich schäme mich für unser Volk, das alle Probleme verdrängt in der Hoffnung, selbst verschont zu werden. (...) Mit jedem Jahr verwandelt man uns immer mehr in Sklaven. Leseprobe
Schweigen komme aber für ihn nicht mehr in Frage, so Filatjew. Deshalb habe er das Buch geschrieben. In dem schildert er den Angriff auf die ukrainische Stadt Cherson, an dem er beteiligt war, die Planlosigkeit und Überforderung der russischen Soldaten und ihrer Vorgesetzen, aber auch Brutalität und Plünderungen durch die Invasoren. In einem zweiten Strang des Buches erfahren die Leserinnen und Leser mehr über Pawel Filatjews Leben, warum er Berufssoldat wurde und dass er bereits in Tschetschenien gekämpft hat. Im April dieses Jahres, zwei Monate nach Beginn des Krieges, wird er verwundet und von der Front evakuiert. Im Krankenhaus beginnt er seine Aufzeichnungen, in denen er auch den Umgang mit Verwundeten scharf kritisiert.
Der Junge liegt da und wimmert leise, hin und wieder schaut er, ob er blutet. Immerzu klagt er, dass ihm kalt sei (...). Später habe ich erfahren, dass er gestorben ist. Anstatt ihn, wie in amerikanischen Filmen, in ein Militärkrankenhaus zu hübschen, geschwätzigen Krankenschwestern zu evakuieren, wurde er in einem URAL ohne Bremsen auf Minenkisten immer weiter ins feindliche Hinterland gebracht. Leseprobe
Ein aufschlussreicher Einblick ins Innere der russischen Armee
"ZOV. Der verbotene Bericht" sorgt für ambivalente Gefühle beim Lesen. Einerseits war der Autor aktiv an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligt, möglicherweise hat er Menschenleben auf dem Gewissen. Daran ist nichts schönzureden. Andererseits kann man durch die Lektüre die Entwicklung eines Menschen nachvollziehen, der durch die Erlebnisse an der Front zum vehementen Kritiker dieses Krieges geworden ist. Und der einen sehr aufschlussreichen Einblick in das Innere der russischen Armee und Gesellschaft gewährt. Für Filatjew selbst ist das Buch einschneidend. Er musste Russland verlassen und lebt mittlerweile im französischen Asyl. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass er wohl Zeit seines Lebens in Gefahr sein wird.
ZOV. Der verbotene Bericht
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Verlag:
- Hoffmann und Campe
- Bestellnummer:
- 9783455016147
- Preis:
- 23 €