Ein gutes Stück Autobiografie
Eigentlich wollte Hans Magnus Enzensberger, der 1929 in Kaufbeuren geboren wurde, nur für einige Freunde und Kollegen ein autobiografisches Buch zu seinen frühen Jahren, von der Geburt bis zum Studium, schreiben. Denn "Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum" ist zuerst als Privatdruck in einer Auflage von nur 99 Exemplaren erschienen. Aber dann hat sich der Schriftsteller wohl gedacht, dass es schade um den Text wäre, wenn er so wenige Menschen erreichte. Und so ist das Buch nun für die Öffentlichkeit erschienen.
Spiel mit Identitäten
"Er ist eigentlich ein Lehrer. Und er ist - glaube ich - auch ein Menschenfreund", sagt Hans Magnus Enzensberger über Andreas Thalmayr. Andreas Thalmayr ist aber eines seiner Pseudonyme, unter denen Enzensberger veröffentlicht hat. Sein neues Buch "Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum" ist nun zwar unter seinem eigenen Namen erschienen. Allerdings macht Enzensberger ganz am Ende des Textes klar, dass er immer noch das Spiel mit den Identitäten liebt:
"Wenn er über sich selber schreibt,
schreibt er über einen andern.
In dem, was er schreibt,
ist er verschwunden."
Leseprobe
Erste Liebe und Hitlerjugend in Nürnberg
Enzensberger erzählt von seinen frühen Jahren nämlich nicht in der ersten, sondern der dritten Person Singular. Statt des Autors selbst erinnert sich ein gewisser M. (vermutlich die Abkürzung von Enzensbergers zweitem Vornamen Magnus) an seine Kindheit bis zu seiner Studentenzeit. Einerseits rollt man da mit den Augen angesichts dieses postmodernen Mätzchens. Andererseits: Warum eigentlich nicht auch formal daran erinnern, dass Autobiografien problematisch sind, weil sich die Autoren oft allzu vorteilhaft darstellen und Gedächtnislücken stillschweigend mit Fiktion schließen. Enzensberger steht dagegen zur Lücke, indem er nur "Eine Handvoll Anekdoten" verspricht und auf das "Opus incertum" verweist, den römischen Mauerbau aus Fundsteinen. Zu diesen Fundsteinen der Erinnerung gehört das erste Verliebtsein genauso wie die Zwangsaufnahme in die Hitlerjugend in Nürnberg.
"M., dem die Gewöhnung an den Dienst schwerfiel, wählte die naheliegendste Lösung: Er ging nicht mehr hin. Nach wenigen Wochen wurde er vor versammelter Mannschaft zu einer Zeremonie einbestellt, die auf dem Schulhof stattfand. Mit grimmiger Miene wurde ihm mitgeteilt, dass er mit sofortiger Wirkung aus der Hitlerjugend ausgestoßen sei. M. gelang es, das Gefühl der Befriedigung, das ihn ergriff, zu verbergen." Leseprobe
Ein Leben mit Ecken und Kanten
Seinen Eltern verschwieg er den Rauswurf, wahrte aber den Schein, indem er zweimal pro Woche die elterliche Wohnung in HJ-Kleidung verließ. Tatsächlich verbrachte er die Zeit in einer Bibliothek. Der Rauswurf aus der Hitlerjugend als Auslöser für die Liebe zu Büchern - klingt fast schon zu schön, um wahr zu sein. Allerdings erscheint das Leben von M. als glaubhaft, weil es Ecken und Kanten hat. So bezweifelt Enzensberger die Behauptung, im Krieg würden immer Kinder am meisten leiden. Das sei jedenfalls in seinem, also dem Fall M., nicht so gewesen:
"Der Krieg hat ihm nicht viel ausgemacht. Gewissensbisse: selten; Schuldgefühle: Fehlanzeige. Auf die ersten Toten, die er auf seinen Streifzügen am Straßenrand liegen sah, reagierte M. merkwürdig ungerührt, so als hätte er sich vor einer feindlichen Welt bereits eingeigelt." Leseprobe
Echte Familienfotos und feiner Humor
Mit lapidaren Worten und zahlreichen Abbildungen, darunter echten Fotos seiner Familie, gelingt es Enzensberger, den Leser in die Zeit Ende der 20er- bis Mitte der 50er-Jahre zu versetzen. Hier und da blitzt der feine Humor des Autors auf. So beschreibt er, wie er Nazi-Devotionalien an US-amerikanische Soldaten verkaufte und wie er später als Student gegen die lückenlose Belegbarkeit seines Lebens anging, als hätte er damit schon der Skepsis gegenüber dem Schreiben einer Autobiographie Ausdruck verleihen wollen:
"Bereits im zweiten oder dritten Semester traf M. Vorkehrungen, um so viele Belege wie möglich aus seiner Krankenakte zu beseitigen. Dazu brauchte er nur im Vorgarten seines Freiburger Studentenwohnheims einen kleinen Scheiterhaufen aufzurichten und gewissermaßen als sein eigener Inquisitor zuzusehen, wie diese 'Belege' in Flammen aufgingen." Leseprobe
"Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum" ist keine große Literatur, aber ein gelungenes Stück verkappter Autobiografie.
Eine Handvoll Anekdoten
- Seitenzahl:
- 239 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Mit 122 vierfarbigen Abbildungen
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-42821-4
- Preis:
- 25,00 €