NDR Buch des Monats Februar: "Die erste halbe Stunde im Paradies"
Im Roman der Flensburgerin Janine Adomeit geht es um ein Geschwisterpaar, dessen Mutter an Multipler Sklerose erkrankt ist. "Die erste halbe Stunde im Paradies" ist bei allem Leid auch ein tröstliches Buch.
Anne arbeitet in der Pharmaindustrie. Sie ist der Inbegriff von Effektivität. Der Laptop immer aufgeklappt, jede Autofahrt mit dem Navi berechnet. Für menschliche Beziehungen ist kein Platz in ihrem Leben. Denn die regen auf, führen zu Schmerz.
Ich will einfach in Ruhe sein dürfen. Das ist es doch, worauf sich alle Lebewesen, bis hinunter zur Amöbe, einigen können: auf möglichst wenig Leid. Oder Stress, rein wissenschaftlich gesprochen. (…) Bloß, nicht mal die Einzeller schaffen es, einander unbehelligt existieren zu lassen. Leseprobe
So auch im Roman: Das Telefon klingelt, es ist Annes Bruder Kai. Wenn man so will das Gegenteil von Anne. Ein musischer Typ, ungewaschen, und mit einigen Drogenproblemen. Er bittet Anne um Unterschlupf. Und das führt die Geschichte über Rückblenden in die Vergangenheit, als Anne und Kai Teenager waren. Enge Bande. Aber dann wird die Mutter krank.
"Ihr müsst keine Angst haben. Ich bin nicht sterbenskrank. Es ist nur - also, meine Hände, die zittern manchmal, das ist euch bestimmt schon aufgefallen. Und meine Füße, in denen kribbelt es. Dann stolpere ich. Irgendwann könnte es dazu kommen, dass ich nicht mehr so gut Treppen steigen und keine weiten Strecken mehr laufen kann." Leseprobe
Sagt die Mutter. Sie hat Multiple Sklerose, eine Krankheit, die unter anderem von Schüben gekennzeichnet ist, nach denen sich die motorischen Fähigkeiten der erkrankten Person meist verschlechtern.
Die Pflege der Mutter als große Herausforderung
Autorin Janine Adomeit hat selbst Pflegeerfahrungen gemacht. Fürsorge leisten, das könne sehr erfüllend sein, sagt sie, aber das habe auch Grenzen: "Wenn man emotional nicht reif dafür ist, kann einen das auch überfordern. Die beiden Kinder kümmern sich um die Mutter. Lange Zeit funktioniert das gut, weil es einen unglaublichen Zusammenhalt und ganz starke Solidarität auch in dieser Familie gibt. Das kippt aber, als sich Bedürfnisse ändern und die Kinder älter werden und versuchen auszubrechen."
Vor allem Kai fühlt sich eingeschränkt, heuert eines Tages auf einem Kreuzfahrtschiff an. Anne bleibt zurück. Der Roman ist zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufgeteilt, als die Geschwister, mittlerweile entfremdet, wieder zusammenkommen. In der Vergangenheit ist es oft schmerzhaft dokumentarisch. Die Krankheit nimmt der Mutter die Würde, sie braucht Windeln, Gehhilfen und es fehlt auch an Geld. Die Kinder müssen schneller erwachsen werden, als es gesund ist.
"Das zentrale Thema in dieser Familie ist der Loyalitätskonflikt", sagt die Autorin. "Den hat man nicht nur in Pflegesituationen. Man möchte der Mutter gegenüber natürlich loyal sein. Das wollen eigentlich alle Kinder." Gleichzeitig wolle man darüber sprechen, was zuhause los sei, dass man sich unterscheide von anderen Kindern und Erwachsenen. Dass die Bedürfnisse da nicht so erfüllt würden.
Außergewöhnlicher Roman voller Wärme und leisem Witz
Kai flüchtet sich in Drogen, Anne macht emotional zu. Das beschreibt Janine Adomeit vollkommen einleuchtend und sehr bewegend. Dabei ist das ohne Kitsch erzählt, sondern zugleich nüchtern, voller menschlicher Wärme und leisem Witz.
"Mensch", sagt Kai. "Ja, Mensch", wiederhole ich, weil das vielleicht die angemessenste Einleitung für ein Gespräch ist, die ich je gehört habe. "Du hattest angerufen. Was ist denn?" "Ich…", beginne ich, meine Stimme ist brüchig. "Ich wollte mich bei dir entschuldigen." Leseprobe
"Die erste halbe Stunde im Paradies" ist bei allem Leid auch ein tröstliches Buch. Man versteht sehr gut, was die Figuren durchmachen, und dadurch fühlt man sich auch selber ein bisschen verstanden und gesehen. Das macht diesen Roman außergewöhnlich.
Die erste halbe Stunde im Paradies
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Arche
- Bestellnummer:
- 978-3-7160-0011-3
- Preis:
- 23 €
Schlagwörter zu diesem Artikel
Romane
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