"Portrait meiner Mutter mit Geistern": Die Nachwirkungen der Nachkriegszeit
Wie viel erzählen wir unseren Kindern über unser eigenes Leben? Und wie viel bleibt unausgesprochen? Rabea Edel widmet sich in ihrem neuen Roman "Portrait meiner Mutter mit Geistern" genau diesen Fragen.
Es gibt Bücher, die entfalten sich langsam, still - und treffen einen dennoch mit voller Wucht. So ist es auch mit "Portrait meiner Mutter mit Geistern", einem Roman, der an der Oberfläche die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Raisa und ihrer Mutter Martha erzählt - und darunter von so viel mehr: den Nachwirkungen der Nachkriegszeit, dem Wunsch, Brücken zwischen Generationen zu bauen und den verdrängten Erinnerungen.
Die Jahre des Schweigens
Der Roman beginnt in Bremerhaven 1989. Hier wächst Raisa mit ihrer Mutter auf, nachdem die beiden viele Jahre rastlos unterwegs waren. Sie nennt diese Zeit die "Wanderjahre". Doch nach den Wanderjahren kommen die Jahre des Schweigens. Die Mutter spricht kaum über ihre Vergangenheit, über das, was sie erlebt hat. Auch hinsichtlich ihres Vaters bleibt Raisa im Ungewissen.
Ich hatte nie eine Erinnerung an meinen Vater. Nichts. Nur ein dumpfes Gefühl, das mir vom Bauch in den Rücken wanderte und dort hängen blieb, zwischen all den Wirbeln, und mir das Atmen erschwerte. Leseprobe
Doch es ist nicht nur Raisas Vater, der fehlt. Die Abwesenheit der Männer zieht sich wie ein Muster durch die vier Generationen, um die es in diesem Buch geht. In Raisas Familie sind es die Frauen, die bleiben, die das Leben meistern müssen.
Kunstvoll konstruierter Roman
Rabea Edel beschreibt die Arbeit an ihrem Roman als eine Reise in die eigene Familiengeschichte - auch, wenn sie betont, dass es keine autobiografische Erzählung ist. Trotzdem dürfte einiges Persönliches in diesem Werk stecken. Aber auch viel Allgemeingültiges. Denn die Geister der Vergangenheit, die Geister einer ganzen Generation, das Trauma von Flucht und Verlust - sie durchziehen das ganze Buch. Besonders spürbar wird das in der Figur von Jakob, einem über 90 Jahre alten Mann, der als Kind aus Europa fliehen musste und seitdem über sein früheres Leben geschwiegen hat.
Die jüdische Erinnerung bleibt dabei oft im Subtext - sie ist nicht das zentrale Thema, aber sie ist immer da, in den Spuren der Figuren, in der Rastlosigkeit, im Wissen, dass Heimat oft nur ein vorübergehender Zustand ist.
Der Roman springt ständig hin und her - zwischen Zeiten, Figuren und Erinnerungen. Das ist kunstvoll konstruiert, aber auch anspruchsvoll zu lesen. Manchmal bleiben Personen nur kurz greifbar, bevor sie wieder aus dem Blick verschwinden, was leider eine gewisse emotionale Distanz schafft. Dafür fängt Edel eindrucksvoll ein, wie tief Erinnerungen im Körper gespeichert sind.
"William’s Deli war der einzige Ort, an dem Jakob es manchmal aushielt. Seine Tränen waren dickflüssig und ohne Salz. Sein Körper enthielt kein Wasser mehr, keine Osmose möglich. Doch die Augen liefen trotzdem über. Das ganze Meer in ihm, das er verschluckt hatte, drängte hinaus." Leseprobe
Rabea Edel findet Bilder für das Unausgesprochene
Die - wie ihre Heldin Raisa - ebenfalls 1982 in Bremerhaven geborene Rabea Edel hat sich mit ihren früheren Werken "Das Wasser, in dem wir schlafen" und "Ein dunkler Moment" bereits einen Namen gemacht. Nun beweist sie erneut ihr großes Talent: Sie findet Bilder für das Unausgesprochene, ihre Sprache ist poetisch verdichtet, aber nie verkünstelt.
"Portrait meiner Mutter mit Geistern" ist ein zum Nachdenken anregender Roman über das, was wir von unseren Eltern erben - und was wir versuchen, zurückzulassen.
Portrait meiner Mutter mit Geistern
- Seitenzahl:
- 396 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- C.H. Beck
- Bestellnummer:
- 978-3-406-82971-0
- Preis:
- 26 €
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Romane
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