Marion Brasch: "Thomas wäre heute eine wichtige Stimme"
Als kleine Schwester hat sie ihn angehimmelt, später für sein Künstlerleben bewundert. Im Interview spricht Marion Brasch über ihren früh verstorbenen Bruder Thomas Brasch, der am Mittwoch 80 Jahre alt geworden wäre.
Thomas Brasch war Schriftsteller, Lyriker und Filmemacher. In der DDR eckte er oft an. Auch in der Bundesrepublik, wo er seit 1976 lebte, galt er als Rebell. Die Schriftstellerin und Radiojournalistin Marion Brasch hat sich in ihrem 2012 erschienenen Buch "Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie" mit ihrer Familiengeschichte auseinandergesetzt. Im Interview mit NDR Kultur erinnert sie sich an ihren ältesten Bruder Thomas, der bereits 2001 verstarb und nun 80 Jahre alt geworden wäre.
Frau Brasch, Sie haben Thomas Brasch nicht nur als Schriftsteller, sondern vor allem als Bruder erlebt. Er war der älteste von drei älteren Brüdern. Wie erinnern Sie sich an ihn?
Marion Brasch: Ich erinnere mich an ihn als den großen Bruder, 16 Jahre älter. Er war wunderschön in meinen Augen. So schön, dass ich von ihm verlangt habe - als ich klein war -, dass er mich heiraten muss. Beziehungsweise er hat vorgeschlagen: Wenn du 18 bist, heirate ich dich. Was er natürlich nicht machen konnte, aber so war er. Er war für mich der schöne große Bruder, mit dem ich angeben konnte. Ich hatte noch zwei andere große Brüder, aber mit ihm konnte ich immer angeben, weil er der große und erwachsene Bruder war. Wenn mich jemand beleidigt hat oder mir blöd kam, konnte ich sagen, ich hole meinen großen Bruder.
War er privat auch so intensiv, so kompromisslos und rastlos, wie er in seinem Werk erscheint?
Brasch: Ja, genau. Ich wusste damals nicht, was er macht, dass er schreibt , dass er Künstler ist. Ich spreche jetzt für mich als das kleine Mädchen, das ich damals war. Aber je größer ich wurde , desto mehr habe ich gesehen und mitbekommen, was er macht, und habe ihn dafür bewundert. Als ich ein Teenager war, war ich ganz oft bei ihm zu Hause. Er hat hier in Berlin in der Wilhelm-Pieck-Straße, heute Torstraße, gewohnt. Da waren immer Künstler. Ich bin eingetaucht in diese Welt und habe mir gewünscht, Teil dieser Welt zu sein. Und wenn ich erwachsen würde, würde ich genauso sein wie er. Ich habe mich in diese Ostberliner Bohème hineingeträumt.
Ihr Bruder hat sich sowohl in der DDR als auch in der BRD oft als Außenseiter gefühlt. Woran lag das?
Brasch: Er hat für diese Idee, mit der die Alten, also die Generation der Väter, auch unseres Vaters angetreten sind, ein großes Herz gehabt: Eine sozialistische, blühende, offene, demokratische Gesellschaft, all das abzulegen, was davor war und etwas Neues aufzubauen - dafür war er ja auch. In der DDR sind die Strukturen ziemlich schnell verhärtet, durch Stalin und so. Die ganze DDR-Geschichte ist eine Geschichte von Verhärtungen. Damit hatte er natürlich überhaupt nichts mehr im Sinn. Je stärker dieser Gedanke war, desto stärker aber auch die Abgrenzung.
Aber er hat diese Idee, diese Utopie immer für gut befunden. Als er 1976 in den Westen gegangen ist, hat er diese Idee natürlich nicht abgelegt, sondern hat gesagt, diese Idee und diese DDR sind mein Zuhause. Ich werde jetzt den Teufel tun und das alles für null und nichtig erklären. Deswegen hat er sich immer dagegen gewehrt, Dissident zu sein. Mit dieser Bezeichnung konnte er überhaupt nichts anfangen. Er hat gesagt, ich bin rübergegangen, um zu arbeiten und nicht, weil ich die Idee dessen, was hier in der Bundesrepublik passiert, besser finde.
Reden Sie manchmal noch mit ihm, fragen Sie ihn etwas oder erzählen ihm von unserer turbulenten Zeit im Moment?
Brasch: Ich neige nicht dazu, Selbstgespräche mit Fremden zu führen. Aber ich denke natürlich darüber nach, wie jemand wie er das reflektieren würde, was wir gerade erleben. Ich denke, dass er heute durchaus eine wichtige Stimme wäre, mit diesen Gedanken zu Widersprüchlichkeit von Gesellschaft, wo wir uns so aufgeheizt in Debatten hineinstürzen, anstatt einen Moment länger darüber nachzudenken und reflektierter zu sein. Ich glaube, da hätte er sicher eine wichtige Stimme .
Wird sein Werk heute noch genug gewürdigt? Oder gibt es Aspekte, die noch stärker ins Bewusstsein kommen sollten?
Brasch: Ich finde das total schön, wie er wahrgenommen wird. Denn das, was er gemacht hat vor allem in seinen Texten, in seiner Lyrik, aber eben auch als Filmemacher, als Theatermacher, als Übersetzer - er hat auch Shakespeare und Charkow übersetzt - das hat er auf eine Weise gemacht, die wirklich großartig ist. Er hat es geschafft, mit einer klaren Poesie Dinge zu benennen. Ich spreche jetzt von seiner Lyrik, von seinen Gedichten, die sind so heutig. Man kann sofort verstehen, was er meint. Das ist nicht in einer Zeit verhaftet, das Reiben an Zeiten und an Widersprüchen, sowohl gesellschaftlicher als auch privater Natur. Er hat auch tolle Liebesgeschichte geschrieben und sehr verzweifelte traurige Gedichte. Die Art, wie er beschreibt, ist sehr sehr schön und altert gar nicht. Es ist etwas, was heute ins Heute passt wie ins Gestern.
Wenn Sie sich wünschen dürften, dass die Menschen nur eine einzige Zeile von ihm im Kopf behalten - welche wäre das?
Brasch: Das ist schwer. Es gibt natürlich so ein ikonisches Gedicht, was auch immer zitiert wird, was sehr viel über ihn aussagt. Das heißt "Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin". Diese Zeile zeigt diese Ambivalenz, diese Sehnsucht nach etwas anderem. Etwas, wovon man nicht weiß, wo es eigentlich ist und ob es überhaupt existiert. "Bleiben, wo ich nie gewesen bin", wegwollen vom Alten und nicht wissen, wo das Neue ist oder wie das Neue ist. Das ist eine sehr simple und wahrscheinlich zu einfache Antwort, aber diese Zeile ist sehr schön.
Das Interview führte NDR Kultur-Moderator Philipp Schmid.
Das Biopic "Lieber Thomas" steht noch bis zum 19. März 2025 in der ARD Mediathek.
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