Jüdisches Leben in Norddeutschland wird zunehmend bedroht
"Der Koffer ist symbolisch gepackt", sagt Rebecca Seidler von der Liberalen Gemeinde in Hannover. Einen Monat nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober ist das Leben der norddeutschen Jüdinnen und Juden nicht mehr wie vorher.
"Das ist ein terroristischer Angriff, wie man ihn in dieser Form noch nicht gehabt hat", sagt Michael Fürst, Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. "Für uns Juden ist das wie ein zweiter Beginn einer Shoah. Für mich hat das eine sehr zeitgeschichtliche, bedrohliche Dimension."
"Wie wird es sich in Deutschland entwickeln?"
Rebecca Seidler, die Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover, erklärt: "Die Welt hat sich komplett geändert seit dem 7. Oktober. Viele Gemeindemitglieder sind in sehr großer Sorge und fragen sich: Wie wird es sich hier in Deutschland entwickeln? Im Moment ist es ein Balanceakt: Wir müssen das jüdische Leben aufrechterhalten, aber eben auch für Schutz sorgen."
Dass der Antisemitismus auf den Straßen und im Internet in den vergangenen Woche zugenommen hat, bestätigt auch Helge Regner vom RIAS Niedersachsen, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Zwei Tage nach dem Massaker der Hamas stiegen auch in Niedersachsen die antisemitischen Übergriffe stark an: "Seitdem haben wir ein exorbitant hohes Aufkommen an Meldungen verzeichnen können. Das, was wir derzeit erleben, übersteigt unsere bisherigen Beobachtungen. Wir kommen mit der Geschwindigkeit, die die Bearbeitung und Verifizierung eines neuen Vorfalls benötigt, nicht hinterher."
Beleidigt, beschimpft, bespuckt
Durchschnittlich werden zwei, drei antisemitische Vorfälle pro Tag registriert. Oft handele es sich um Beleidigungen und Beschimpfungen: "Beispielsweise wurde eine Frau, die eine Israel-Fahne trug, bespuckt. Menschen, die aufgrund ihrer Kippa als jüdisch erkennbar waren, wurden bedroht. Es gibt auch Anfeindungen in den sozialen Medien - die Fälle sind also vielfältig."
Rebecca Seidler von der Liberalen Gemeinde in Hannover sieht momentan insgesamt eine bedrohliche Situation für Jüdinnen und Juden: "Nicht nur die rechtsextreme Szene, sondern auch islamistische und auch linksgerichtete Milieus positionieren sich gerade gegen uns. Es bedarf einer großen Resilienzfähigkeit, das auszuhalten."
Gedanken an mögliche Ausreise nach Israel
So sei es kein Wunder, dass viele Gespräche unter Jüdinnen und Juden momentan auch um die Frage einer möglichen Ausreise nach Israel kreisen. "Der Koffer ist definitiv symbolisch vom Dachboden runtergeholt und auch gepackt", so Seidler. "Die große Frage ist: Wohin? Trotz der Kriegssituation in Israel können sich einige vorstellen, lieber dort zu leben als hier."
Auch der Hamburgerin Rebecca Vaneeva, Präsidentin des Verbandes jüdischer Studierender Nord, kommen solche Gedanken immer wieder: "Man sagt ja immer, Israel ist ein Zufluchtsort. Und man merkt in diesen Tagen, wie wichtig ein Schutzraum wie Israel ist. Ich mache mir auf jeden Fall Gedanken, wie es weitergeht, aber für mich ist es keine Option, jetzt zu gehen. Denn gerade in Deutschland braucht es Menschen, die Aufklärungsarbeit leisten. Ich werde weiterhin dafür kämpfen, dass hier ein diverses jüdisches Leben möglich und auch gewollt ist."
Viele Jüdinnen und Juden hoffen auf weitere Zeichen der Solidarität, zum Beispiel am 9. November. Da jährt sich die Pogromnacht der Nazis zum 85. Mal.