Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Antisemitismus ist niemals diskutabel

Stand: 03.11.2023 07:31 Uhr

Seit Tagen ist offensichtlich, dass es in Deutschland manifesten Antisemitismus gibt. Manche sagen, das sei nicht so neu. Ulrich Kühn fragt dennoch: Wie kann das sein?

von Ulrich Kühn

Ich habe einen Traum. Ich träume von einem Land, in dem friedliche, hellwach durch die Gegenwart streifende, illusionsfrei und gestaltungsfroh die Zukunft erwartende Menschen leben; Menschen, die gern streiten, in Respekt voreinander und von der Lust getrieben, andere Argumente zu hören, um die eigenen besser zu machen; Menschen, die Fehler begehen und einander verzeihen können; offenherzige Menschen, die Zufriedenheit daraus schöpfen, überrascht zu werden durch die Begegnung mit ihresgleichen, gleich, welche Farbe eine Haut hat, gleich, welcher Jahrgang im Ausweis steht, gleich, wen jemand zu lieben bevorzugt oder an welchen Gott eine glaubt oder wo einer geboren wurde. Es ist der Traum von einem Land, in dem es Millionen Meinungen gibt - und eine große Einigkeit, unverbrüchlich bei Regen, Wind, Dürre und mildem Sonnenschein: Nie und nie und niemals mehr ist in diesem Land das Antisemitische diskutabel.

Der uralte Wahn, der nicht vergehen will

Ein scheinbar zum Greifen naher Traum. Doch die Wirklichkeit verhöhnt ihn. Kann es denn wirklich sein, dass in Deutschland ein Haus mit einem Davidstern markiert wird und eine Bewohnerin jüdischen Glaubens, die in Angst, verzweifelt, die Polizei um Hilfe bittet, mit der Empfehlung abgespeist wird, sie möge den Stern doch entfernen, es könnte andernfalls "zu weiteren Reaktionen" kommen? Kann das wirklich sein in diesem unserem Land? Ja, es kann wirklich sein. Aber kann es auch wirklich sein, dass jüdische Menschen sich scheuen, die Zeichen ihres Glaubens zu tragen, um nicht Gewalt erfahren zu müssen? Und kann es obendrein wirklich sein, dass ein Zeuge des Holocaust neuerdings geschützt werden muss, wenn er zu jungen Leuten geht, um Aufklärungsarbeit zu leisten? Kann das wirklich sein? Ja, auch das kann wirklich so sein.

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Kann es denn wirklich, wirklich sein, dass es dreieinhalb Wochen dauert, bis in diesem unserem Land ausgerechnet der Wirtschaftsminister endlich treffende Worte findet nach dem Massaker in Israel, die fälligen Worte in einem Land, aus dem heraus vor erst acht Jahrzehnten der unbegreiflichste Massenmord an Millionen verübt worden ist aus jenem uralten Wahn heraus, der nicht vergehen will? Wenn jemals diskutabel würde, dass, in welchem "Kontext" auch immer, Menschen Menschen abschlachten dürften, weil sie Juden sind - wäre das dann unser Land? Das Land, das sich brüstet, verstanden zu haben? Das Land, das sich rühmt, geläutert zu sein? Das Land, das seine Vergangenheit - als wenn es das gäbe - "bewältigt" hat?

Der enthemmte Mensch ist zu allem fähig

Ich träume von einem Land, in dem der Sinn für die Gegenwart und der Sinn für die Zukunft unablöslich verbunden bleiben mit einem nie ruhenden Bewusstsein für die Vergangenheit. Denn Zukunft ist nicht, was erst kommt, sie ist als Vorstellung immer schon da. Und Vergangenheit ist nicht, was endlich verschwand, sie ist als Vorstellung immer noch da. Und ein Land, das nicht begreift, wie sein Gedeihen daran hängt, die monströsen Ideen von damals heute wie morgen verkapselt zu halten - ein solches Land lässt Hemmungen los.

Einmal enthemmte Menschen aber können zu allem fähig werden. Dieses Land muss es wissen, den 9. November im Blick, dass Menschen imstande sind, Widermenschlichstes zu tun an Frauen, Alten, Babys - an allen. Menschen bleiben imstande dazu, die Hamas hat es gezeigt. Das zu sehen, es zu begreifen und fühllos "ja, aber Kontext" zu sagen, als gäbe es irgend denkbaren Kontext, der Anti-Humanes schlechthin zum Akt des Widerstands adeln könnte: Kann das wirklich sein? Nein, das darf nicht sein. Es wäre der Alptraum für dieses Land.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 03.11.2023 | 10:20 Uhr

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