Konrad Kujau und seine Umdeutung Hitlers in den "Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

Schlussbemerkungen

Obwohl der "Stern" 1983 nur zwei der insgesamt 30 geplanten Hefte zum Sensationsfund der vermeintlichen "Hitler-Tagebücher" herausbrachte, fiel sofort auf, dass "die Fälscher" sich offenbar nicht "an den neuesten Ergebnissen der Forschung" orientiert hatten, wie Rudolf Augstein, der Herausgeber des "Spiegel", am 1. Mai 1983 bemerkte. Unter dem Titel "Bruder Hitler" - in Anlehnung an einen 1939 von Thomas Mann veröffentlichten Essay - spottete Augstein, ob man sich "diesen Quatsch gefallen lassen" müsse, dass über das Pogrom vom 9. November 1938 von "einigen unschönen Übergriffen" die Rede sei und Hitler laut "Tagebuch" offenbar Himmler das Attentat im Münchner Bürgerbräukeller 1939 zugetraut haben soll [132].

Während Thomas Mann die "entsetzlichen Opfer" beklagte, die "unausgesetzt dem fatalen Seelenleben dieses Menschen" zuzurechnen seien [133], störte sich der "Spiegel"-Herausgeber offenkundig an der unverhüllten Schönfärberei der Person Hitlers in den "Tagebüchern" und an der in ihnen vorgenommenen Distanzierung des "Führers" von engen politischen Gefährten wie Himmler, die durchaus der Entlastung des "Jahrhundertverbrechers" dienen konnte. Henri Nannen reagierte auf Augsteins Anschuldigung und dessen frühe Anzweiflung der Echtheit der "Tagebücher" erst eine knappe Woche nach dem öffentlichen Eingeständnis der "Stern"-Redaktion am 6. Mai 1983, dass wirklich eine Fälschung vorlag. Dabei wehrte sich Nannen aber gegen den Verdacht, "die Tagebücher stammten aus rechtsextremistischen Quellen". Dagegen spreche allein schon der Inhalt, denn Hitler erscheine darin nicht als "weißgewaschener oder harmloser Geselle" [134].

Was waren Kujaus Motive für einen "gütigen Hitler"?

Tatsächlich erkannte später auch die deutsch-britische Publizistin Gitta Sereny in den vermeintlichen "Tagebüchern" "vor allem den wiederholten Versuch, darzulegen, dass Hitler kein fanatischer Antisemit und nicht an den Beschlüssen zur Durchführung des Völkermords beteiligt" gewesen sei [135]. Kujau habe offenbar einen "gütigen Hitler" darstellen wollen [136]. Allerdings bezweifelte Sereny, dass Kujau in der Lage gewesen sei, die "aufwendigen Recherchen" allein, ohne fremde Hilfe durchzuführen [137].

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"Stern"-Reporter Gerd Heidemann präsentiert im April 1983 die vermientlichen "Hitler-Tagebücher", im Hintergrund das Titelblatt des "Stern" mit der Titelzeile "Hitlers Tagebücher entdeckt" (Montage) © NDR

Gefälschte "Hitler-Tagebücher" - So gefährlich war der Fake

Ging es bei den gefälschten "Tagebüchern" wirklich nur um einen Scoop für den "Stern"? Oder hatten die Täter noch ganz andere Motive? Ein Dossier. mehr

Was also steckte hinter seinem Bemühen, Hitler als einen unverstandenen Helden zu präsentieren, der von seinem eigenen politischen Umfeld und seinen Generälen verraten und belogen wurde? War Hitler Kujaus "Idol"? Oder berücksichtigte Kujau vor allem die Zielgruppe seiner Fälschungen, die sich aus NS-Apologeten, Alt- und Neonazis zusammensetzte?

Unübersehbar ist die Tatsache, dass die gefälschten Tagebücher auch den Zeitgeist der 1970er- und frühen 1980er-Jahre widerspiegeln. Gestützt auf die NS-Propaganda und die wirkmächtigen Entlastungserzählungen früherer Nationalsozialisten - allen voran die Memoiren Albert Speers - war seinerzeit die Vorstellung weit verbreitet, Hitler habe alle Entscheidungen, die zu den Menschheitsverbrechen führten, allein getroffen, und das deutsche Volk sei von ihm belogen und verführt worden. Auch Kujaus Hitler-Figur, die manchmal eher als Karikatur erscheint, trifft alle Entscheidungen selbst - weil andere es nicht können. So verweist der fiktive Hitler wiederholt darauf, dass er selber verstärkt Parteiarbeit machen müsse, da Heß nicht in der Lage sei, "Weisungen zu geben", die auch befolgt würden [138]. Immer wieder ist aber auch Hitlers angeschlagene Gesundheit ein Thema. "Anspannungen" beeinträchtigten sein Wohlbefinden, Feindschaften setzten ihm zu [139]. Als körperliche Auswirkungen werden "Zittern" des rechten Arms und "Flackern im linken Auge" genannt [140]. Mit dem Hinweis auf "Überarbeitung" und dass ein Mensch nicht alles allein schaffen könne [141], wird ein gängiges Narrativ der NS-Propaganda aufgenommen, wonach der "Führer" ununterbrochen arbeitete und sein Leben dem deutschen Volk opferte [142].

Kujaus "Tagebücher" zeigen Hitler in Opposition zur NS-Elite

Die von Kujau gefälschten "Hitler-Tagebücher" zeigen somit einen Diktator, der mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nichts zu tun hat. Nie ist von Konzentrationslagern, der Tötung Kranker oder der "Endlösung" die Rede. Der von Kujau erfundene Hitler versucht sogar wiederholt, seine Parteigenossen, allen voran Heinrich Himmler, davon abzuhalten, strafbare Handlungen oder Ungerechtigkeiten zu begehen. Dabei ist er oft hilflos gegenüber den Untaten seiner politischen Mitstreiter.

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Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz

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So zeigen die "Tagebücher" einen friedliebenden, um die Reaktionen im Ausland besorgten Hitler, der sich gegenüber seinen eigenen Parteigenossen, die ganz offensichtlich viel radikaler und gewalttätiger sind als er selber, nicht durchsetzen kann. "Hitler" ist gutgläubig, wird von den eigenen Leuten verraten und befindet sich geradezu in Opposition zur NS-Elite. Das war, als die vermeintlichen "Tagebücher" in die öffentliche Diskussion gelangten, in der Tat sensationell. Eine solche Interpretation der Rolle Hitlers im Nationalsozialismus hatte es bisher noch nicht gegeben.

Es verwundert daher nicht, dass die für den Ankauf der "Tagebücher" Verantwortlichen beim "Stern" glaubten, nun müsse die Geschichte des Nationalsozialismus umgeschrieben werden, wie sie auf der Pressekonferenz in Hamburg im April 1983 großsprecherisch erklärten. In Wirklichkeit aber mussten Henri Nannen und alle anderen an dieser Posse Beteiligten froh sein, dass die angeblich authentischen Niederschriften Hitlers als Fälschung entlarvt wurden und in einem Safe bei Gruner + Jahr verschwanden, noch ehe sie in Deutschland und der Welt gelesen werden konnten. Denn vom Vorwurf der Holocaustleugnung und der Darstellung eines gänzlich unschuldigen, unwissenden Hitler hätte sich der "Stern" wohl nicht mehr erholt. Eine Beschäftigung mit dem Inhalt der angeblichen "Hitler-Tagebücher", für den sich bisher offenbar kaum jemand interessiert hat, ist daher mehr als überfällig.

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Gerd Heidemann präsentiert auf der Pressekonferenz des Hamburger Magazins "Stern" am 25. April 1983 die vermeintlichen Hitler-Tagebücher. © picture-alliance / dpa Foto: Chris Pohlert

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Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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