Konrad Kujau und seine Umdeutung Hitlers in den "Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

Heinrich Himmler und der Holocaust

Heinrich Himmler, Sohn eines Münchner Oberstudiendirektors, Diplom-Landwirt und ab 1923 Mitglied der NSDAP, gehört neben Göring, Heß und Goebbels zu den im Kujau-"Tagebuch" am häufigsten genannten Figuren der NS-Elite. Himmlers Karriere begann 1926 als stellvertretender Propagandaleiter unter Gregor Strasser in der Parteizentrale der NSDAP in München. Am 1. Januar 1929 wurde er zum Befehlshaber der 1923 von Hitler für seinen persönlichen Schutz gegründeten Schutzstaffel (SS) ernannt und erhielt den anmaßenden Titel "Reichs-S.S.-Führer" [85]. Himmler führte die SS wie einen elitären religiösen Orden und eablierte sie erfolgreich als "letzte Reserve des Führers". Die Aufnahme in die SS war für alle, die in Hitlers unmittelbarer Nähe arbeiteten, Pflicht. Dessen Adjutanten, Diener und Leibwächter, aber auch der Architekt Albert Speer, der Begleitarzt Karl Brandt oder Pressechef Otto Dietrich, die zu Hitlers "Hofstaat" auf dem Obersalzberg gehörten, waren Mitglieder. In seiner im Vergleich zur SA viel kleineren Organisation erhob Himmler den Anspruch, die "rassisch besten Menschen" zu versammeln und einen "arischen" nationalsozialistischen "Adel" herauszubilden, dessen Bestimmung der Kampf gegen den "Bolschewismus" sei [86]. Mit seiner Organisation sorgte Himmler somit nicht nur für die Sicherheit Hitlers, sondern verwirklichte einen Kernbereich der nationalsozialistischen Weltanschauung. In den Kujau-"Tagebüchern" spielen Begriffe wie"„Bolschewismus", "arisch", "jüdisch" oder "völkisch", die in Hitlers Manifest "Mein Kampf" hunderte Male verwendet werden, dennoch kaum eine Rolle. Der Umstand, dass Hitler, der stets Anschläge auf seine Person fürchtete, seinen Stab von Himmler persönlich kontrollieren ließ, wird im "Tagebuch" sogar negativ vermerkt. Es gebe, klagt der fiktive Hitler, "Beschwerden über Himmler", der "wieder einige Leute bespitzeln" lasse, sodass er ihm "wieder ins Gewissen reden" müsse [87]. Kujaus Hitler ist diese Funktion der SS offenbar unbekannt, eine Überwachung seines eigenen Umfelds lehnt er ab.

Kujaus fiktiver Hitler wettert gegen Himmler

Während Hermann Göring bei Kujau als "der Eiserne" [88] und als "im Volke sehr gut angesehen" [89] bezeichnet wird, Joseph Goebbels als kleiner "Hexenmeister" [90] gilt und Rudolf Heß als jemand porträtiert wird, der für die Politik nicht geschaffen sei [91], erscheint Himmler zunächst als "unbestechlich" [92]. Doch schon im Mai 1937, ehe Himmler als "Reichsführer SS" Hitler direkt unterstellt wurde, lässt Kujau seine Hitler-Figur erklären, Himmler werde ihm "unheimlich" [93].

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Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz

Datenbank: Die gefälschten "Hitler-Tagebücher" zum Durchsuchen

Der NDR hat die Tagebücher in vollem Umfang digitalisiert und bietet eine Volltextsuche. Ein Politologe ordnet die Einträge ein. mehr

Im gefälschten "Tagebuch" wird Himmler für Hitler vor allem nach Kriegsbeginn 1939 mehr und mehr zu einer dunklen, bösen, schwer kontrollierbaren Größe. Kujaus Hitler unterstellt Himmler, er halte sich in Polen nicht an Befehle und habe vielleicht sogar etwas mit dem Sprengstoffattentat im Bürgerbräukeller am 8. November 1939 zu tun, bei dem sieben Menschen starben und sechzig verletzt wurden und dem Hitler nur knapp entging. Himmler ist jetzt der "hinterhältige Kleintierzüchter", der "undurchsichtige Buchhaltertyp" [94]. Im weiteren Verlauf verstärken sich diese Vorwürfe.

Sogar von seiner Freundin Eva Braun erfährt der fiktive Hitler, Himmler sperre in Polen "Kinder in Lager", und führt daraufhin eine "ernste Aussprache" mit dem "Reichsführer", nimmt sich vor, diesen stärker zu kontrollieren [95]. Wiederholt ist von "Himmlers Lagern" die Rede, von denen man Hitler unterrichtet. Dieser notiert unter dem 5. Januar 1942, er wolle den SS-Führer fragen, "was das für Leute sind, die er in den Lagern hat". [96]

Der echte Hitler schwärmte vom "Reichsführer SS"

Im Gegensatz zu der im "Tagebuch" suggerierten Vorstellung, Himmler sei eine gefährliche Größe, über deren Machenschaften Hitler zumeist nur über Dritte informiert wird, genoss der wirkliche Himmler das uneingeschränkte Vertrauen des "Führers". Dessen Pläne, wie der "Lebensraum" im Osten zu erobern und zu besiedeln sei, wurden von den Ideen Hitlers, die das Aushungern der Bevölkerung einschlossen, sogar übertroffen, sodass Himmler seine Überlegungen denjenigen des "Führers" anpassen musste [97]. So galt Himmler als der Treueste der Treuen und bezog nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ein Hauptquartier in Ostpreußen mit dem Decknamen "Feldkommandostelle Hochwald", das nur 20 Kilometer von Hitlers "Wolfsschanze" nahe Görlitz (Gierłoż) entfernt lag. Himmler, der auch noch einen Teil der "Wolfsschanze" für sich nutzte, war dort oft bei Hitler zu Gast, mittags oder während der nächtlichen Teerunden, die bis in die frühen Morgenstunden andauerten und an denen auch die Sekretärinnen teilnahmen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1942 äußerte sich Hitler hier in Abwesenheit Himmlers über dessen Verdienste, schwärmte, dass dieser aus der SS "die stärkste Weltanschauungstruppe gemacht" habe. Niemals, so Hitler, habe er gegen diese Truppe "eine Klage" gehabt. Himmler sei es gelungen, aus einer kleinen Gruppe einen "Führungsapparat" zu schaffen. Er sei "der völkische Ignatius von Loyola im guten Sinne" [98].

Die Wannsee-Konferenz und die "Vernichtung des Judentums"

Während der reale Hitler also unzählige Male mit Himmler am Teetisch in der "Wolfsschanze" saß und in Hochachtung und Dankbarkeit von ihm sprach, vermittelt das "Tagebuch" den Eindruck, zwischen Hitler und Himmler habe räumlich und ideologisch eine große Distanz bestanden. Besonders nachdrücklich gelingt Kujau diese Erzählung, als er seinen Hitler zu der von Reinhard Heydrich für den 20. Januar 1942 einberufenen "Besprechung über die Endlösung der Judenfrage" in Berlin-Wannsee Stellung nehmen lässt. Offenkundig hat Kujau das seinerzeit von Adolf Eichmann angefertigte Protokoll der sogenannten Wannsee-Konferenz, auf der Vertreter verschiedener Ministerien, aber auch Funktionäre der SS und NSDAP über die Ermordung der europäischen Juden informiert wurden, genau gelesen. Das Dokument war bereits als Beweismittel der Anklage im "Wilhelmstraßenprozess" 1947/48 in Nürnberg benutzt worden und seitdem einer weiteren Öffentlichkeit bekannt. Es belegt die direkte Beteiligung unter anderem von Himmler und Heydrich, dem Auswärtigen Amt, dem Reichsjustizministerium und Reichsinnenministerium sowie Göring und Hitler am Holocaust und gehört insofern zu den wichtigsten Dokumenten der Organisation des Massenmords an den europäischen Juden. Es ist damit ein Synonym für den Genozid [99].

Das Wannsee-Protokoll bediente sich zwar einer von Euphemismen durchsetzten Sprache, ließ aber keinen Zweifel an der Absicht des NS-Regimes, den "bisher geführten Kampf gegen diesen Gegner" - gemeint waren die Juden - noch entschlossener und kompromissloser als bisher zu führen. Denn das Ziel, durch Auswanderung "auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern", war nicht erreicht worden. Deshalb habe der Reichsführer, fasste Heydrich den aktuellen Stand zusammen, inzwischen die "Auswanderung von Juden" verboten, da es "nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer" eine "weitere Lösungsmöglichkeit" gebe: die "Evakuierung der Juden nach dem Osten" [100]. Das bedeutete "Arbeitseinsatz" im Osten, bei dem die "arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete" kämen, Männer und Frauen getrennt, wodurch sich dann schon eine "natürliche Verminderung" ergeben werde. Die Überlebenden, der "widerstandsfähigste Teil", müsse "entsprechend behandelt" werden, da diese Menschen sonst die "Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues" bildeten. Eine "Beunruhigung der Bevölkerung" müsse vermieden werden [101]. "Mischlinge 1. Grades", in der NS-Terminologie Menschen, die einen jüdischen und einen nicht-jüdischen Elternteil hatten, müssten sich, um von der Zwangsverschleppung verschont zu werden und in Deutschland bleiben zu können, sterilisieren lassen, damit "jede Nachkommenschaft" verhindert werde, wie es hieß [102]. Zehn Tage nach der Besprechung über die "Endlösung der Judenfrage" erklärte Hitler in einer Rede im Berliner Sportpalast am 30. Januar 1942, dass das Ergebnis des Krieges die "Vernichtung des Judentums" sein werde. [103]

Kujau stellt Gegenentwurf zum Wannsee-Protokoll dar

Kujau lässt seinen falschen Hitler dagegen "Richtlinien zu den Ergebnissen der Besprechungen wegen der Judenfrage vom 20. Januar" formulieren, die einen Gegenentwurf zum Protokoll der Wannsee-Konferenz darstellen. "Juden" sollten für "richtige Arbeit im Osten ausgesucht" werden und dort in "geeigneter Weise zum Arbeitseinsatz" kommen. Ältere müssten von Jüngeren mit ernährt werden. Dabei dürfe man die Alten und Kranken nicht "einfach sich selbst" überlassen und "warten, bis sie sterben". Dies könne man schon mit Blick auf das Ausland, mit "Blick auf England" nicht machen [104]. Jüdische Menschen sollten im Osten angesiedelt und kontrolliert werden, "wenn sie keiner auf der Welt haben will". Die Begriffe "Endlösung", "Säuberung", "Verminderung", "Lebensraum", "Durchkämmung", "Sterilisierung", mit denen Eichmann im Besprechungsprotokoll die geplante und seit Kriegsbeginn bereits erfolgte Verfolgung, Entrechtung und Massentötung von Menschen verschleierte, kommen im Kujau-Tagebuch nicht vor. Vielmehr fürchtet der fiktive Hitler erneut negative Reaktionen des Auslands auf die geplanten "Evakuierungen". Himmler, fabuliert Kujau, müsse auch daran denken, "daß diese Juden noch in der Welt Verwandte haben", die sich "wundern würden", wenn "ihre Verwandten plötzlich verschwunden sind". [105]

Persiflage als Schutz vor Enttarnung?

Kujaus Text klingt hier nach einer Persiflage und beißendem Spott. Man muss sich deshalb fragen, ob er womöglich hoffte, mit dieser Überzeichnung des Wannsee-Protokolls eine rasche Entlarvung der "Tagebücher" als Fälschung zu ermöglichen und damit ihre Veröffentlichung sowie seine eigene Enttarnung zu verhindern. Laut "Tagebuch" gab es entweder keinen Genozid oder Hitler wusste davon nichts. Doch woher hatte Kujau diese Ideen? Entsprachen sie ausschließlich seinem Wunsch, die Hitler-Figur von den NS-Verbrechen freizusprechen? Bediente er sich dafür der Memoirenliteratur einstiger NS-Größen und Mitarbeiter Hitlers? Tatsächlich leugneten nach 1945 fast alle früheren Freunde und Mitarbeiter Hitlers, von den Massenverbrechen des NS-Regimes gewusst zu haben. Im Nachhinein stilisierten sie sich selbst sogar zu Opfern einer ungerechten Säuberungspolitik der Siegermächte. So behauptete etwa Otto Dietrich, die "gesamte Führerschaft der Partei" habe bis auf einige Ausnahmen "alle großen und schicksalentscheidenden Ereignisse" erst im Nachhinein aus der Presse erfahren. Hitlers Ziele seien in seiner Brust "verschlossen" gewesen [106].

Seit Ende der 1970er-Jahre existierten im rechten Milieu zudem revisionistische Schriften, die die Echtheit des Wannsee-Protokolls anzweifelten und behaupteten, es handele sich um eine Geschichtsfälschung [107]. Insgesamt ist festzustellen, dass Kujaus Darstellung der Rolle Hitlers im Rassen- und Vernichtungskrieg in auffälliger Weise den Thesen von David Irving gleicht. Denn dieser behauptete in seinem 1977 erschienenen Buch "Hitler's War", dass vor allem Himmler und Heydrich ohne Wissen Hitlers den Genozid geplant und organisiert hätten. Hitlers Ziel sei es zwar gewesen, Europa "judenfrei" zu machen, aber den Massenmord an den Juden habe er weder befohlen noch gewollt [108]. Diese Anschauung Irvings, die auch in Deutschland rezipiert wurde, zieht sich wie ein roter Faden durch die gefälschten Tagebücher.

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Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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