Konrad Kujau und seine Umdeutung Hitlers in den "Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

So frühe Aufbewahrung im Parteiarchiv gar nicht möglich

Die gefälschten Tagebücher beginnen, rein chronologisch, im Juni 1932 mit der Anweisung Kujau-Hitlers, diese Aufzeichnungen aus Sicherheitsgründen im "Parteiarchiv" zur Verfügung zu halten. Ein Parteiarchiv der NSDAP gab es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Es wurde erst am 15. Januar 1934 in Berlin von Reichsschulungsleiter Otto Gohdes zur Sammlung von "Belege(n) der Parteigeschichte" errichtet, um auf diese Weise eine "Parteigeschichtsschreibung" sicherzustellen. Hitler hätte also Mitte 1932 die Aufbewahrung seiner persönlichen und höchst vertraulichen Niederschriften im Parteiarchiv nicht verfügen können, da dieses noch nicht existierte [13]. Ohnehin muss es als unwahrscheinlich angesehen werden, dass der notorisch misstrauische "Führer" derart sensible private Dokumente einer Dienststelle in Berlin anvertraut hätte. Auch die vom Fälscher suggerierte Vorstellung, Rudolf Heß sei bereits 1932 für das Parteiarchiv verantwortlich gewesen, ist unzutreffend [14]. Zwar wurde das Parteiarchiv im Oktober 1934 von Berlin nach München verlegt. Doch wurde es erst am 14. Juni 1935 auf Anordnung von Heß in "Hauptarchiv der NSDAP" umbenannt und ihm unterstellt [15]. Das Hauptarchiv mit den Abteilungen Geschichtliches Archiv, Pressearchiv, Bibliothek, Zentralkartei und Bildstelle sowie "Stab Stellvertreter des Führers" war nun im Braunen Haus, der Parteizentrale der NSDAP, untergebracht.

Hitlers ständige Begleiter tauchen im "Tagebuch" nicht auf

Die erste Aufzeichnung der von Kujau erfundenen Hitler-Figur stammt vom 22. Juni 1932 und enthält die Anordnung, die Bände im Falle seines Todes dem Adjutanten Julius Schaub oder der Schwester Paula Hitler zu übergeben. Die eigentlichen Eintragungen beginnen mit dem 8. Juli 1932 und der Erwähnung des "Abkommen(s) von Lausanne" [16]. Am 15. Juli notiert Kujaus Hitler den "Beginn meines dritten Deutschlandfluges", ohne nähere Angaben über das Flugzeug, die Begleitmannschaft oder den Ort des Auftritts zu machen. Der Akzent liegt 1932 auf den Treffen Hitlers mit Kurt von Schleicher, Franz von Papen und Paul von Hindenburg, die ein "abgemachtes Spiel" spielten [17]. Während von Papen und Hindenburg nicht näher beschrieben werden, erscheint Kurt von Schleicher - bis Mitte November Reichswehrminister im Kabinett von Papens - als "arroganter Kerl" und "politischer Intrigant", der die Nationalsozialisten mit "kleinen Nebenposten" abspeisen wolle [18].

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Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz

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Der NDR hat die Tagebücher in vollem Umfang digitalisiert und bietet eine Volltextsuche. Ein Politologe ordnet die Einträge ein. mehr

Ebenfalls negativ ist die Darstellung des Reichsorganisationsleiters der NSDAP Gregor Strasser als einer der "Verräter" aus den eigenen Reihen, mit denen man im Falle einer Machtübernahme abrechnen werde [19]. Ernst Röhm tritt hier als einziger Begleiter Hitlers auf, mit dem dieser vereinbart, die Partei von Verrätern "zu reinigen" [20]. Außer Röhm und Strasser werden lediglich Hermann Göring und Rudolf Heß namentlich genannt. Es ist bemerkenswert, dass nur diese wenigen Personen der NS-Prominenz erwähnt werden, nicht aber diejenigen, die zu Hitlers tatsächlichen ständigen Begleitern gehörten. Kujau hält sich damit ganz an das gängige Bild vom einsamen "Führer", das lange Zeit die Vorstellungen in der Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft prägte.

Über die Ernennung zum Reichskanzler durch Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 lässt Kujau seinen Hitler bemerken, es werde sich zeigen, ob der Reichspräsident es ehrlich meine oder ob er es "nur für eine kurze Notlösung gehalten" habe, ihm die "Kanzlerschaft anzutragen" [21]. Neben Göring und Heß treten nun auch Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Bernhard Rust im Text auf, jene führenden Nationalsozialisten also, die nach 1933 zu Reichsministern ernannt wurden und - wie Himmler als "Reichsführer SS" und Polizeipräsident von München - mit eilig erlassenen Gesetzen und einer beispiellosen Verhaftungswelle politischer Gegner das bestehende demokratische System in eine Diktatur verwandelten. Gänzlich unerwähnt bleiben wiederum Hitlers ständige Begleiter und Berater, darunter die für die Presse zuständigen Ernst Hanfstaengl und Otto Dietrich, die Adjutanten Wilhelm Brückner und Julius Schaub, Heinrich Hoffmann in seiner Eigenschaft als "Leibfotograf", der Fahrer Julius Schreck, der Pilot Hans Baur, die Sekretärin Johanna Wolf sowie Sepp Dietrich, der Kommandeur der "Leibstandarte SS Adolf Hitler". Auch das private Umfeld des "Führers", zu dem die Halbschwester Angelika Raubal gehörte, die ihm seit 1928 in seinem Landhaus auf dem Obersalzberg den Haushalt führte, kommt im Band von 1933 des gefälschten Tagebuchs nicht vor. Es ist nur ganz allgemein von "Bekannten und Freunden" die Rede, mit denen Hitler sich treffe [22]. Allein Eva Braun und deren Beziehung zum "Führer" sind durchgehend ein Thema.

Wichtige Ereignisse von 1933 als chronologische Kurz-Notizen

Zentrale Ereignisse des Jahres 1933 handelt Kujau zumeist im Stil einer chronologischen Zeittafel ab, ohne persönliche Kommentare des fiktiven Tagebuchschreibers einzuflechten. Dies gilt für den Reichstagsbrand am 27. Februar ebenso wie für den Staatsakt in Potsdam mit der Eröffnung des Reichstages in der Kroll-Oper am 21. März (bei Kujau heißt es fälschlicherweise "Eröffnung des Reichstages in Potsdam"), die Verabschiedung des "Ermächtigungsgesetzes" am 23. März und den Boykott jüdischer Einrichtungen am 1. April. Kujau selber machte später keine genauen Angaben zu den Quellen seiner Fälschung. So behauptete er 1984 in einem Interview, der Historiker Max Domarus, der von 1962 bis 1965 die kommentierte Sammlung "Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945" herausgab, habe "mit dem gleichen Material gearbeitet", das auch er benutzt habe. Dieses Material seien die im Eher Verlag erschienenen "Nationalsozialistischen Jahrbücher" sowie das "Tagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht" gewesen [23].

Bei den "Nationalsozialistischen Jahrbüchern" handelte es sich jedoch schlicht um einen Kalender, in dem nur auf die NS-Bewegung bezogene historische Ereignisse, Feiertage sowie Geburts- und Sterbedaten "großer Männer", einschließlich der NS-Elite, vermerkt sind. Jede Kalenderseite endet mit einem Zitat deutscher Geistesgrößen wie Friedrich Schiller und Immanuel Kant oder Vordenkern des Nationalsozialismus wie Houston Stewart Chamberlain und führenden Nationalsozialisten wie Ernst Röhm. Röhms Ausspruch auf der Seite des 6. bis 8. Mai 1932 lautet beispielsweise: "Die Schwätzer haben zu schweigen, die Männer allein zu bestimmen." Von Hitler ist die Bemerkung überliefert: "Die Abrechnung mit den Novemberverbrechern übernehme ich." [24] Inwieweit Kujau den nationalsozialistischen Kalender in seine Arbeit einfließen ließ, ist unklar. Es ist jedoch anzunehmen, dass er neben der kommentierten Reden-Sammlung von Domarus für die historischen Fakten in den "Tagebüchern" "Keesings Archiv der Gegenwart" (KAdG) benutzt hat, das von Juli 1931 bis 2006 erschien und damit den behandelten Zeitraum von 1932 bis 1945 perfekt abdeckte. Denn allein das KAdG, in Deutschland herausgegeben von Heinrich von Siegler, bot eine Chronologie wichtiger weltpolitischer Ereignisse auf der Basis von Zeitungs- und Agenturberichten.

Abgeschrieben unter Zeitdruck?

Der gesamte "Tagebuch"-Band des Jahres 1933 zeichnet sich denn auch durch eine Kurzaufzählung von Beschlüssen und Geschehnissen aus. Die Art der Einträge, wie "Erhöhung der Einfuhrzölle für Hartkäse und Eier" [25], legen nahe, dass Kujau vor allem die Chronologie des KAdG verwendet und über weite Strecken einfach abgeschrieben hat. Auf diese Weise war es dem Fälscher möglich, relativ schnell die Bände zu füllen, die mehr und mehr unter Zeitdruck geschrieben werden mussten, nachdem im Dezember 1980 über Fritz Stiefel und Jakob Tiefenthäler der Kontakt zum "Stern"-Reporter Gerd Heidemann hergestellt worden war und es im Januar 1981 zu einem ersten Treffen zwischen Kujau und Heidemann kam. Zwei Millionen DM bot Heidemann dabei Kujau im Auftrag des "Stern" für die Übergabe der 27 "Hitler-Tagebücher" an, die sich nach Kujaus Aussage in Ostdeutschland befanden [26]. Der Fälscher war nun gezwungen zu liefern, wobei Band 1932/33 erst im Mai 1981 an Heidemann übergeben wurde, wie ein späterer Vermerk der Staatsanwaltschaft Hamburg über ein aufgezeichnetes Telefongespräch zwischen Heidemann und seiner Ehefrau belegt. Darin erklärte Heidemann, mit den Aufzeichnungen von November 1932 bis Juni 1933 seien nun endlich die Jahrgänge von 1933, 1934, 1937 und 1938 komplett [27]. Zeit war beim Abfassen der Bände also ein wichtiger Faktor, denn Kujau geriet als Lieferant der "Tagebücher" gegenüber seinem Abnehmer Heidemann immer wieder in Bedrängnis.

Allerdings durfte sich Kujau nicht auf die Aneinanderreihung von historischen Fakten beschränken, sondern musste seinen Hitler an ausgewählten Stellen auch lebendig werden lassen, damit das erfundene Diarium die typischen Merkmale eines Tagebuchs aufwies: die Schilderung eigener Erlebnisse, Gedanken, Eindrücke und Stimmungen des Verfassers, der - in diesem Fall - auch für die Nachwelt schreibt. So berichtet Kujau vom Abend des Reichstagsbrands aus dem persönlichen Erleben seiner Hitler-Figur. Demnach sei Hitler am Abend des 27. Februar zusammen mit seinem langjährigen Vertrauten Heinrich Hoffmann bei Magda und Joseph Goebbels gewesen, als er einen Anruf von Ernst Hanfstaengl erhalten habe, der durch das Telefon schrie: "Das Reichstagsgebäude brennt!" Vom Fenster aus hätten sie "den Feuerschein" gesehen. Ihm, "Hitler", sei schnell klar geworden, dass "der Brand des Reichstages das Letzte gewesen ist, was diese Marxisten gegen uns unternehmen". Noch in derselben Nacht habe er für den "Völkischen Beobachter" einen Leitartikel zu diesem Ereignis geschrieben [28]. Diese Erzählung gleicht, bis auf wenige Abweichungen, der Darstellung von Goebbels in dessen 1934 veröffentlichtem Tagebuch "Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei" [29]. Doch während Goebbels darin unverhohlen das sofortige Verbot der kommunistischen und sozialdemokratischen Presse ankündigte, verbunden mit der Drohung "Wenn Widerstand geleistet wird, dann Straße frei für die S.A.", lässt Kujau seinen Hitler lediglich wenig konkret die "kommenden harten Maßnahmen" andeuten [30].

Bücherverbrennungen nach der Machtübernahme

Ebenso ausführlich widmet sich Kujau der öffentlichen Verbrennung von Büchern vor allem jüdischer Autoren am 10. Mai 1933 in Berlin. Organisiert vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund und der Deutschen Studentenschaft, zeigten die Bücherverbrennungen in den Universitätsstädten des Reiches spektakulär und öffentlich sichtbar die atmosphärischen Veränderungen, die durch den Machtantritt der Nationalsozialisten ausgelöst wurden. Denn tatsächlich forcierte die neue Regierung unter Hitler, insbesondere über Reichsinnenminister Wilhelm Frick, konsequent die Entfernung von Menschen jüdischer Herkunft sowie politisch unerwünschter Personen (vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten) aus dem Kultur- und Wissenschaftsbetrieb [31]. Unter der Parole "Wider den undeutschen Geist" gingen allein auf dem Opernplatz in Berlin mehr als 20.000 Werke unliebsamer Autorinnen und Autoren in Flammen auf [32].

Kujau macht Goebbels zum Anstifter

In der Darstellung Kujaus lag die Verantwortung für die Verbrennungsaktion jedoch bei Goebbels, während Hitler davon nichts gewusst habe. So heißt es im "Tagebuch": "Dr. Goebbels hat die öffentliche Verbrennung von Büchern bef.(ohlen), so etwas Dummes. Konnte es nicht mehr verhindern. Was wird das Ausland wieder dazu sagen?" [33] Kujau vermittelt in seiner Fälschung also den Eindruck, Hitler sei von dieser Säuberungsaktion nicht nur gänzlich überrascht worden, sondern habe sie auch rundheraus abgelehnt. Goebbels, lässt Kujau seinen Hitler notieren, habe damit "keinen guten Einfall" gehabt, und er, "Hitler", habe am 11. Mai ein "ernstes Gespräch" mit Goebbels geführt und schließlich sogar auf Wunsch seines langjährigen Vertrauten und Kunstberaters Heinrich Hoffmann "einige Schriftsteller von Goebbels Liste streichen lassen". [34] Goebbels wird in diesem Zusammenhang als kleiner "Hexenmeister" betitelt und erscheint als alleiniger Anstifter dieser Aktion.

In Wirklichkeit war Goebbels erst im März 1933 zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ernannt worden und hatte mit den sogenannten "Schwarzen Listen" auszusondernder Literatur nichts zu tun. Jene Listen, erstellt von einem Berliner Bibliothekar und der Deutschen Studentenschaft, wurden noch nicht einmal offiziell vom Propagandaministerium oder gar von Goebbels persönlich abgesegnet. Vielmehr erhielt die Deutsche Studentenschaft in Berlin auf ihre Anfrage beim Propagandaministerium vom 3. Mai, ob der Minister bei ihrer Bücherverbrennung am 10. Mai um Mitternacht die "Feuerrede" halten könne, erst am 9. Mai - also einen Tag vorher - eine Zusage [35]. Gleichwohl legitimierte Goebbels, der zwölf Jahre zuvor an der Universität Heidelberg im Fach Germanistik promoviert worden war, in jener Nacht die Vernichtung von Weltliteratur mit der Aussage, er halte es für eine starke "symbolische Handlung", den "Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen". Siegreich werde sich daraus einst "der Phönix eines neuen Geistes" erheben [36]. Diese Zusammenhänge und die tatsächliche Rolle von Goebbels, der als jüngster Minister der NS-Regierung den mehr als willkommenen Eifer der Studierenden nutzte, sie als "Kommilitonen" ansprach und aufforderte, sich "hinter das Reich und hinter seine neuen Autoritäten" zu stellen, waren Kujau fast 50 Jahre später offenbar noch unbekannt[37].

"Röhm-Putsch": Kujau macht Hitler zum alleinigen "Helden"

In den Bänden von 1934 widmet sich Kujau in ähnlich unbedarfter Weise ausführlich dem Zerwürfnis zwischen Hitler und Ernst Röhm, das mit der Ermordung Röhms und weiterer hochrangiger SA-Führer am 30. Juni bzw. 1. Juli endete und als "Röhm-Putsch" oder auch als "Nacht der langen Messer" in die Geschichte einging. Ursache war ein schon seit Mitte der 1920er-Jahre schwelender Konflikt über die Rolle der bewaffneten Parteimiliz, der SA. Hervorgegangen aus einer Saalordnertruppe der NSDAP, hatte Hitler zusammen mit Röhm, der im Ersten Weltkrieg Versorgungsoffizier der bayerischen Reichswehr gewesen war und Kontakte bis in höchste Kreise besaß, die Umwandlung der Ordnertruppe in einen paramilitärischen Verband betrieben. Für Hitlers Machtambitionen war Röhm deshalb unverzichtbar. Dieser verfügte nicht nur über Geld und heimlich angelegte Waffenlager, sondern zeigte im Kampf gegen die verhasste Weimarer Demokratie auch die gleiche Kompromisslosigkeit wie er selbst. Doch Hitler betrachtete die SA mehr als ein Propagandainstrument, das ihn als "Führer" aufwerten sollte, während Röhm von einer völkischen Armee unter seinem Kommando träumte [38].

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler spitzte sich dieser alte, nie beigelegte Streit über die SA und den Kurs der NS-Bewegung zu. Für Hitler war mit Beginn seiner Kanzlerschaft die "Kampfzeit" beendet. Brieflich dankte er Ende 1933 nun jedem Einzelnen seiner engsten Gefährten für ihre Unterstützung und erklärte die "nationalsozialistische Revolution" für abgeschlossen. Für die Zukunft setzte er ganz auf die Reichswehr als kriegserfahrene Berufsarmee, während die SA der Partei unterstellt blieb. Röhm aber lehnte eine Zusammenarbeit mit den konservativen Eliten der Weimarer Republik kategorisch ab. Da er inzwischen selbst eine Fülle von Ämtern bekleidete und mit der SA einen Verband von über drei Millionen Mitgliedern kontrollierte, der zahlenmäßig der Reichswehr weit überlegen war, wagte er es, öffentlich Machtansprüche zu stellen. Indem er von Hitler die Anerkennung der SA als Grundpfeiler des neuen Staates - neben Reichswehr und Polizei - forderte und sogar für die Übernahme der Reichswehr durch die SA plädierte, kratzte er am Führernimbus und wurde damit zu einer Gefahr für Hitler, für den viel auf dem Spiel stand. Neben der Unzufriedenheit in der Partei, dem Machtkampf zwischen SA und Reichswehr sowie den nach wie vor schweren wirtschaftlichen Problemen im Land geriet der "Führer" jetzt auch innerparteilich zunehmend unter Druck, weil er an Röhm als Stabschef der SA festhielt. Dessen offene Kritik an Hitler, die als Illoyalität vermerkt wurde, und seine Homosexualität, die nicht nur bürgerlichen Moralvorstellungen der damaligen Zeit widersprach, sondern gemäß den völkisch-rassistischen Lebenskriterien der NSDAP als "entartet" galt, waren vielen Mitstreitern des "Führers" ein Dorn im Aug [39]. Röhms Widersacher, vor allem Göring, Goebbels und Himmler, verschworen sich daher gegen ihn. Bereits Anfang Juni 1934 war seine Ausschaltung beschlossen [40].

In Kujaus "Tagebuch" hingegen vermutet der fiktive Hitler unter dem 9. Mai 1934 eine geplante "Verschwörung" der SA-Führung gegen ihn [41]. Immer wieder versichert ihm Röhm, er wisse von nichts, nicht einmal etwas "von den schon ausgehobenen Waffenlagern" [42]. Das letzte Treffen zwischen Hitler und Röhm vor dessen Beurlaubung datiert Kujau auf den 2. Juni: "Röhm bei mir!" In diesem Gespräch, so liest man, habe Röhm erneut beteuert, nichts von einer "Verschwörung" zu wissen, gibt jedoch zu, mit Hitlers "Gegnern" zu verhandeln [43]. Kujau folgt zwar weitgehend den Ausführungen von Max Domarus, der die Vorgeschichte des 30. Juni anhand zeitgenössischer Berichte aus dem "Völkischen Beobachter" und der 1952 erschienenen ersten Hitler-Biografie von Alan Bullock ausführlich erzählt [44]. So findet sich bei Kujau, wie bei Domarus, kein Hinweis darauf, dass Hitler noch vor den blutigen Säuberungen für einige Tage auf den Obersalzberg gefahren war [45]. Jedoch übernimmt Kujau von Domarus nicht dessen Darstellung Hitlers als eines wirren, "verstörten" Menschen, der in den Tagen unmittelbar vor dem 30. Juni einen geradezu "irrsinnigen Eindruck" machte - wie ein "Mörder kurz vor der Tat" [46]. Vielmehr ergeht sich der "Führer" im Kujau-Tagebuch in Anklagen über Röhm, der "nur der Handlanger einiger Lumpen" sei, zu denen "Schleicher und Strasser" gehörten, die dem Stabschef der SA einen "hohen Posten im Reichswehrministerium in Aussicht gestellt" hätten [47]. Kujau konzentriert sich dabei ganz auf seinen "Helden" Hitler, sodass weder Göring noch Himmler überhaupt vorkommen, die in Wirklichkeit eine führende Rolle bei der Ermordung Hunderter hochrangiger SA-Führer und politischer Gegner, teils auf offener Straße, spielten. Im "Tagebuch" ist es allein Hitler, der den Befehl gibt, "diese Verräter sofort zu erledigen" [48]. Röhm habe ihn "beseitigen und den Sieg des Nationalsozialismus durch eine Revolte" beenden wollen, lautet die Begründung [49]. Die vom echten Hitler sowie von Goebbels, Reichspressechef Otto Dietrich, Heß und Göring in den Tagen nach den Morden verbreitete Rechtfertigung, ein "Staatsnotstand", ausgelöst durch eine "Meuterei" und "sittliche Verfehlungen" in der SA, habe sie zum Handeln gezwungen, findet dagegen in das "Tagebuch" keinen Eingang [50]. Selbst die bei Domarus in vollem Wortlaut abgedruckte Rede Hitlers vor dem Reichstag am 13. Juli 1934, in der er sich zu der Behauptung verstieg, eine homosexuelle "Sekte" innerhalb der SA sei der "Kern" der Verschwörung gegen die "staatliche Sicherheit" gewesen, bleibt unerwähnt [51].

Entwicklung einer ganz eigenen Hitler-Figur

Kujau kopiert somit nicht einfach die Kommentare von Domarus und übernimmt auch nicht den Inhalt der von ihm überlieferten, originären Äußerungen Hitlers, wie sie seinerzeit im "Völkischen Beobachter" abgedruckt wurden, sondern kreiert eine ganz eigene Hitler-Figur, mit der sich die Leserschaft - und vielleicht auch Kujau selber - identifizieren kann. Dieser vom Fälscher erdachte "Führer" ist kein ruchloser Mörder, der im Sommer 1934 Recht und Gesetz missachtet, um seinen Machterhalt abzusichern und die Führungselite der eigenen Partei zu disziplinieren, sondern ein Held, der praktisch allein gegen alle Feinde und Verräter kämpft und dafür sorgt, dass im Reich am Ende "Ruhe und Zufriedenheit" herrscht, wie es im Kujau-Tagebuch heißt [52].

"Nürnberger Gesetze": Bild eines wohlmeinenden Herrschers

Die Aufzeichnungen der ersten sechs Monate des Jahres 1935 bildeten das erste von Kujau gefälschte "Tagebuch", das er im Juni 1979 dem Sammler Fritz Stiefel übergab, der es wenige Monate später dem Historiker Eberhard Jäckel zeigte [53]. Auch hier sind die Einträge offenbar größtenteils aus einer Zeittafel historischer Ereignisse übernommen worden. Am Ende eines jeden Monats folgen dann unter "Privates" Anmerkungen zu besonderen Geschehnissen oder Personen aus dem Umfeld. Bereits in dieser ersten Fälschung offenbart sich, dass Hitler, weltweit Symbol für Rassismus, pervertierten Nationalismus und Massenmord, bei Kujau als ein Held wiederaufersteht, der unablässig für Frieden und Verständigung kämpft. Das ist nicht der Hitler, wie man ihn aus seinem autobiografisch gefärbten politischen Manifest "Mein Kampf" oder seinen Reden und Proklamationen kennt. Denn der echte Hitler ließ keinen Zweifel an seinem völkisch-rassistischen Menschenbild und seinen Kriegsabsichten. Als er auf dem "Reichsparteitag des Friedens" im September 1935 dem eilends nach Nürnberg einberufenen Reichstag unter anderem die Annahme des "Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vorschlug, erklärte er, dies sei "der Versuch der gesetzlichen Regelung eines Problems". Sollte dieser Versuch scheitern, werde dieses Problem - gemeint waren sexuelle Kontakte oder gar Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen "deutschen oder artverwandten Blutes" - zur "endgültigen Lösung der nationalsozialistischen Partei übertragen". [54] Das war eine offene, unmissverständliche Drohung, gegebenenfalls die kompromisslose soziale Ausgrenzung aller Menschen mit jüdischem Hintergrund zu befehlen. Kujau jedoch lässt seinen Hitler schon im ersten gefälschten "Tagebuch" die "Nürnberger Gesetze" mit den Worten kommentieren, man werde durch diese "noch einige Schwierigkeiten bekommen", sie seien "zu scharf abgefaßt" [55]. Erneut ignoriert der Fälscher an dieser Stelle die von Domarus im Wortlaut wiedergegebene Rede Hitlers vor dem Reichstag am 15. September 1935 und zeichnet im krassen Gegensatz dazu das Bild eines wohlmeinenden, auf Ausgleich und internationale Anerkennung bedachten Herrschers, dem es scheinbar nicht gelingt, seine wesentlich radikaleren Parteigenossen im Zaum zu halten.

Kujaus "Hitler": Friedlich bis zum Kriegsbeginn 1939

Kujaus Narrativ vom friedlichen Hitler, der sich dem Fanatismus seiner Parteigenossen erwehren muss, zieht sich durch sämtliche Bände bis 1939. So plädiert die fiktive "Führer"-Figur im Juli 1936 gegen die Entsendung deutscher Soldaten zur Unterstützung General Francisco Francos im Spanischen Bürgerkrieg [56]. Und in der Tat gestand der reale Hitler an der nächtlichen Teetafel in seinem Hauptquartier "Wolfsschanze" in Ostpreußen im Februar 1942, dass der Kampf gegen die linken Revolutionäre in Spanien nur unterstützt worden sei, um den Bolschewismus in Europa zu verhindern, er es aber gerne gesehen hätte, wenn die spanischen Revolutionäre die Macht der katholischen Kirche gebrochen und die "Pfaffen" endlich "ausgerottet" hätten [57]. Diese unverblümte, brutale Sprache des echten Hitler sucht man bei Kujau für die Zeit vor Kriegsbeginn im September 1939 vergebens. So geht er im "Tagebuch" auch mit keinem Wort auf die Rede Hitlers vom 12. September 1938 ein, in der dieser - zum Krieg entschlossen - beim letzten Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg unverhohlen den Willen zum Ausdruck brachte, seine außenpolitischen Forderungen notfalls mit Gewalt durchzusetzen und die Juden mit allen Mitteln aus Deutschland entfernen zu lassen. Keine "Macht der Welt" werde das wiederauferstandene "germanisch-deutsche Reich" je wieder beseitigen, ließ er das deutsche Publikum und die internationale Öffentlichkeit wissen [58]. Bei Kujau notiert "Hitler" demgegenüber lediglich kraftlos: "Blutige tschechische Provokationen (…). Bald ist das Maß voll!" [59]

Dieses defensive Verhalten seiner Hitler-Figur steigert Kujau noch einmal, als es um die staatlich gelenkten, reichsweiten antisemitischen Gewaltexzesse vom 9./10. November 1938 geht, bei denen mehr als 1.300 Menschen getötet wurden. So klagt der fiktive Hitler am 10. November, "Hitzköpfe" hätten "Millionenwerte" vernichtet, man habe ihm sogar von "erschlagenen Juden" berichtet: "Sind diese Leute denn verrückt geworden?" Dem Ansehen des Reiches im Ausland hätten diese "Ausschreitungen" schwer geschadet, sie hätten so "nicht ausarten dürfen" [60]. Die gefälschten "Tagebücher" vermitteln folglich den Eindruck, Hitler habe vom Pogrom nichts gewusst, sei gänzlich unbeteiligt gewesen und habe die offene Gewalt gegen Juden sogar verurteilt. In Wirklichkeit aber handelte es sich um eine mit Blick auf den bereits beschlossenen Krieg forcierte Vertreibungspolitik, zu der Hitler selbst angestachelt hatte, indem er in seiner Schlussrede auf dem NSDAP-Parteitag im September 1938 noch einmal in aller Deutlichkeit erklärt hatte, dass der Aufbau einer echten "Volksgemeinschaft" das "Ausschalten" der Juden aus der Gesellschaft erfordere. So wundert es nicht, dass in der Nacht des 9. November Julius Schaub, Hitlers langjähriger persönlicher Adjutant, sowie Mitglieder seiner loyalen, alten Leibgarde - des "Stoßtrupps Hitler 1923" - zu den fanatischen, marodierenden Gewalttätern gehörten. Laut Goebbels ordnete Hitler persönlich noch in der Nacht die Verhaftung Zehntausender jüdischer Menschen an [61].

Hitler und die Kujau-Figur im Zweiten Weltkrieg

Nach dem überraschend schnellen Sieg über Polen nach etwas mehr als drei Wochen Ende September 1939 ließ Hitler schon kurze Zeit später, Anfang Oktober, die endgültige militärische "Vernichtung des Westens" vorbereiten [62]. Inzwischen waren polnische Führungseliten in deutsche Konzentrationslager gesperrt und Hunderttausende polnische Kriegsgefangene ins Reich zur Zwangsarbeit verschleppt worden, um in Industrie und Landwirtschaft den Arbeitskräftemangel auszugleichen, der durch den Kriegseinsatz der deutschen Bevölkerung entstanden war. Auch für Juden verschärften sich nochmals die Lebensbedingungen. Hausdurchsuchungen der Gestapo und Ausgehverbote nach 20 Uhr gehörten jetzt zu ihrem Alltag. Martin Bormann, Hitlers Faktotum, verschickte auf Befehl des "Führers" Rundschreiben an die Gau- und Reichsleiter, in denen er ankündigte, Juden werde es bald verboten sein, die allen zugänglichen Luftschutzbunker zu nutzen, sie sollten sich eigene bauen [63]. Zugleich waren schon erste Deportationen aus dem Reichsgebiet in das polnische Generalgouvernement erfolgt [64].

Im Kujau-Tagebuch findet sich zu diesen Entwicklungen und zu den Entscheidungen zur brutalen Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung nichts, obwohl der reale Hitler während des Angriffskrieges gegen Polen in seinem Sonderzug mit Heinrich Himmler Deportationen und Tötungen und mit dem Oberbefehlshaber des Heeres, General Walther von Brauchitsch, die Einsätze der SS besprach [65]. Auch Göring, der Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, die Hitler in dessen mobilem Hauptquartier in Polen aufsuchten und ihn im "Weltanschauungskrieg" berieten, bleiben im "Tagebuch" ungenannt - ebenso wie die stets anwesenden militärischen Adjutanten Nicolaus von Below, Rudolf Schmundt und Gerhard Engel sowie der Verbindungsmann zur Partei, Martin Bormann, mit denen Hitler immer wieder Pläne erörterte. So berichtete Engel rückblickend, Hitler habe in ihrer Gegenwart von "rassischer Auslese" und der "Liquidation polnischer Intelligenz" gesprochen [66].

Kujaus "Hitler" will Polen "schützen"

Solche Begriffe verwendet Kujau nicht ein einziges Mal. Sein Hitler scheint nie unmittelbar beteiligt, erteilt aber pausenlos arbeitend aus der Distanz militärische Befehle. Die Tatsache, dass der richtige Hitler wochenlang mit seinem Stab in einem mit modernster Kommunikationstechnik ausgestatteten Sonderzug lebte, bleibt ebenfalls unerwähnt. Die Fälschung folgt damit in Teilen der NS-Propaganda, die Hitler seit Kriegsbeginn nur noch in militärischen Zusammenhängen und unablässig in Aktion zeigte, obwohl er in Polen kaum Einfluss auf die Kriegführung nahm. Allerdings belässt es Kujau nicht dabei, die Sprache seines Hitler von allen völkisch-rassistischen Vokabeln zu bereinigen. Sein "Führer" lehnt sogar jegliche Untaten ab, die von anderen NS-Größen geplant werden, und versucht, sie zu verhindern. So gibt er Himmler die Weisung, in Polen "keine Repressalien gegenüber der Bevölkerung" anzuwenden, und befiehlt ihm, "auf keinen Fall gegen die Zivilpersonen ohne ersichtlichen Grund vorzugehen" [67]. Hinsichtlich nicht näher aufgeführter Ereignisse im Innern Deutschlands nimmt sich Kujaus Hitler-Figur fast resigniert vor, den Parteioberen mitzuteilen, dass "sich in einigen Teilen des Reiches die Führung der Partei nicht an meine Weisungen hält", und stellt fest, dass er "in einigen Gauen die falschen Leute sitzen" habe [68].

Tod, Verbrechen, Antisemitismus? Fehlanzeige

Der Hitler, der einem in den "Tagebüchern" begegnet, will somit den Menschen in Polen nicht schaden, sondern setzt sich dafür ein, dass sie vor "Bestrafungen" der SS geschützt werden. Darüber hinaus fehlt in der Fälschung fast jeder Hinweis auf Gewalt, Tod, Verbrechen, Antisemitismus und Rassismus. Die rassenideologische Wahnidee von der "Reinerhaltung deutschen Blutes", die ab 1939 in Deutschland mit der sogenannten "Aktion T4", der Tötung von mehr als 300.000 kranken, behinderten oder aus rassischen und sozialen Gründen unerwünschten Menschen verwirklicht wird, kommt bei Kujau nicht vor. Der echte Hitler hingegen war durchdrungen von einer biologistischen Weltanschauung und machte aus seiner Überzeugung von der Überlegenheit der "arischen Rasse" keinen Hehl. Wie sehr ihn diese Vorstellung in seinem Glauben an einen Sieg bestärkte, zeigen Gesprächsmitschriften vom Februar 1942 in der "Wolfsschanze". Obwohl der "Blitzkrieg" gegen die Sowjetunion bereits gescheitert war, richtete Hitler sich und Himmler mit den Worten auf: "Wo immer germanisches Blut in der Welt sich findet, nehmen wir das, was gut ist, an uns. Mit dem, was den anderen dann bleibt, werden sie gegen dieses germanische Reich nicht antreten!" [69]

Der weitere Kriegsverlauf wird in den Kujau-Tagebüchern ausführlich, vermutlich auf der Grundlage des Kriegstagebuchs der Wehrmacht abgehandelt. Detailliert geht der Fälscher auch auf den sogenannten Englandflug von Rudolf Heß am 10. Mai 1941 ein. In einer als "Sonderband Heß" gekennzeichneten Kladde zitiert Kujau zunächst die parteiamtliche Verlautbarung vom 12. Mai 1941, wie sie bei Domarus abgedruckt ist. Darin ist von "Spuren einer geistigen Zerrüttung" und "Wahnvorstellungen" bei Heß die Rede [70]. Anschließend geht Kujau wieder über die Darstellung von Domarus hinaus und macht seinen Hitler zum Mitwisser der Pläne von Heß, wobei "Hitler" aber, so liest man, "nicht gut" gewesen sei bei dem Vorschlag seines "Stellvertreters", mit dem Herzog von Hamilton verhandeln zu wollen [71]. Am Ende bedauert der fiktive Hitler unter dem 16. Mai 1941 in einem "Abschlußbericht", dass nach der Verhaftung von Heß in Schottland "der letzte Versuch einer Verständigung mit England fehlgeschlagen" sei. Es werde jetzt, lautet die Drohung, gekämpft, bis das englische Volk vernichtet sei. Nach dem Sieg werde das deutsche Volk dann die Umstände des Fluges verstehen und das "Unternehmen", das heißt der Flug von Heß, werde "seine Würdigung finden" [72].

Trugbild eines eigentlich immer friedensbereiten Hitler

All dies gehört zur Dichtung Kujaus: Weder existiert ein solcher Bericht vom 16. Mai, noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass Hitler vorab von den Plänen seines Stellvertreters wusste. Doch die fehlenden Fakten und die absurde, durch nichts belegte Verschwörung, die der fiktive Hitler mit Heß eingeht, um eine Verständigung mit England herbeizuführen, hinderten Gerd Heidemann nicht daran, in einer großen Reportage im "Stern" am 5. Mai 1983 festzustellen, der "Sonderband“ und die "Tagebuch"-Eintragungen bewiesen "Hitlers Komplott mit Heß". Beide hätten den Flug gemeinsam geplant und "die Erfolgschancen überschlagen". Und nur weil die Mission letztlich fehlgeschlagen sei, habe Hitler seine Beteiligung daran geleugnet, seine "nichtsahnenden Kumpane" getäuscht und sich mit einem "Federstrich" von Heß, seinem "treuesten Gefolgsmann", getrennt [73]. Obwohl sich der fiktive Hitler im "Tagebuch" somit in seinem Verhalten gegenüber Heß rücksichtslos und illoyal zeigt, hält er diesen nicht für verrückt, sondern unterstützt dessen geheime Friedensverhandlungen. Dieses Trugbild eines eigentlich immer friedensbereiten Hitler zieht sich durch sämtliche Kujau-Tagebücher und deckt sich mit dem wahnhaften Selbstbild des echten Hitler, der schon im Oktober 1939 seinem Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below erklärte, er wolle Frieden, müsse aber erst noch England und Frankreich besiegen [74]. Von Domarus kann Kujau die Vorstellung eines gemeinsam mit Heß an einer Friedensstrategie arbeitenden Hitler jedenfalls nicht übernommen haben. Denn Domarus war der Überzeugung, Heß habe sich vor seinem Flug nach England bereits von Hitler distanziert, da er befürchtete, der kriegstrunkene Hitler werde mit einem Angriff auf die Sowjetunion das ganze Land "in einen schrecklichen Untergang" führen [75].

Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad bleibt außen vor

Weitaus weniger ausführlich wird im Kujau-Tagebuch die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad behandelt, als 200.000 deutsche Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten, von denen nur wenige überlebten. Diese Niederlage ließ selbst bei Hitlers engsten Mitstreitern ernsthafte Zweifel am "Endsieg" entstehen, da sie in aller Deutlichkeit zeigte, dass sich die Versprechungen und Prophezeiungen des "Führers" über eine schnelle Niederwerfung der Roten Armee als falsch erwiesen hatten [76]. Hitler hatte sich sogar, während die 6. Armee der Heeresgruppe B schlecht ausgerüstet in Stalingrad einen verlustreichen Häuserkampf führte, auf den Obersalzberg zurückgezogen und von dort aus den erschöpften Truppen jeden Rückzug versagt. Erst nachdem General Paulus am Abend des 22. November 1942 "Armee eingeschlossen" meldete, fuhren Hitler und sein Stab mit dem Sonderzug wieder nach Ostpreußen in das Hauptquartier "Wolfsschanze" [77]. Im Kujau-"Tagebuch" erfährt man davon nichts. Dagegen notiert der fiktive Hitler am Tag der Kapitulation von General Paulus, dem 31. Januar 1943, der "Armeestab" in Stalingrad habe sich "eingeigelt", und Paulus habe durch Funkspruch mitgeteilt, er kämpfe "bis zum Letzten" [78].

Kriegsende: Kujaus "Tagebücher" reißen am 14. April 1945 ab

Die Monate bis zum Ende der "Tagebuch"-Aufzeichnungen am 15. April 1945 sind aus der Sicht "Hitlers" von Lüge, Verrat und "Auflösungserscheinungen" gekennzeichnet, gegen die er vorgehen wolle, wie es unter dem Datum des 20. Januar heißt [79]. Es gibt jedoch erneut keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort Kujau-Hitlers und die Tatsache, dass dieser sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Hauptquartier in Ziegenberg bei Bad Nauheim ("Adlerhorst") befand, als die Wehrmacht seit dem 16. Dezember 1944 - keine drei Wochen, nachdem Hitler die "Wolfsschanze" in Ostpreußen verlassen hatte - unter Aufbietung aller Reserven einen verzweifelten Vorstoß zur Rückeroberung von Brüssel und Antwerpen unternahm. Beide Städte, die deutsche Truppen 1940 beim Überfall auf Belgien besetzt hatten, waren inzwischen von den Westmächten eingenommen worden. Nachdem die sogenannte Ardennenoffensive unter anderem wegen Treibstoffmangels bald wieder abgebrochen werden musste, kehrte Hitler schon Mitte Januar wieder nach Berlin in die Reichskanzlei zurück [80]. Der Krieg war längst verloren, aber die deutsche Niederlage in der Ardennenoffensive führte dennoch nicht zu Friedenssondierungen. Hitler selbst, der öffentlich jetzt nicht mehr auftrat und zunehmend krank und körperlich hinfällig war, verbot jede Rückzugsbewegung. Höchste Militärs gaben deshalb bis in die letzten Tage des Krieges Angriffsbefehle. So kamen in den letzten zehn Monaten des Zweiten Weltkrieges mehr Soldaten und Zivilisten ums Leben als in den viereinhalb Jahren zuvor [81]. Im "Tagebuch" lässt Kujau seinen Hitler dagegen am 20. Januar 1945 über die Verlogenheit des "Generalstabs" schimpfen und fragen, "wieviel Schaden diese geschnigelten Affen" wohl angerichtet hätten, denn es kämen doch "bestimmt auch falsche Befehle an die Front" [82]. Tatsächlich war Hitlers Ablehnung gegenüber seinen Heeresgeneralen weithin bekannt. Nicolaus von Below bemerkte dazu in seinen 1980 erschienenen Erinnerungen, Hitler habe sich in Gegenwart von "alten Kampfgenossen" über die Generäle "oft drastisch und scharf ablehnend" geäußert [83].

Über die Zerstörung der "Führerwohnung" in der alten Reichskanzlei durch einen Bombenangriff Anfang Februar, die immer näher rückende russische Front, das Leben im feuchten Bunker und über das bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Berlin schweigt Kujau. Er bricht das "Tagebuch" mit dem 15. April 1945 ab - einen Tag bevor die sowjetische Offensive über die Oder begann -, vergisst jedoch nicht, auf den letzten Seiten bereits auf die Möglichkeit einer späteren Auffindung der Bücher hinzuweisen: "Muß dieses Buch zum Abschluß bringen, Bormann will es noch mit verpacken, da meine ganzen Unterlagen weggebracht werden sollen." [84] Der richtige Hitler indes ließ eine Woche vor seinem Suizid in Berlin sämtliche persönlichen Unterlagen vernichten und schickte seinen persönlichen Adjutanten Julius Schaub nach München und auf den Obersalzberg, wo dieser alle in der Wohnung am Prinzregentenplatz und im Berghof befindlichen Unterlagen verbrannte.

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Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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