Holocaust-Leugnung: Die Wahrheit hinter den "Hitler-Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

40 Jahre nach dem Skandal um die gefälschten "Hitler-Tagebücher" im "Stern" hat der NDR die Texte in vollem Umfang veröffentlicht. Sie offenbaren die geschichtspolitischen Motive des Fälschers und einiger seiner Helfer: die Leugnung des Holocaust.

von Dietmar Schiffermüller

Es sind 60 einfache schwarze Kladden, und sie liegen verschlossen im Safe. Im Keller des Hamburger Verlags Gruner + Jahr ist etwas weggesperrt, was nach Meinung der damals Beteiligten die deutsche Geschichte verändern sollte. Adolf Hitler habe Tagebuch geführt, so hieß es in der Sensationsmeldung im April 1983. Es seien ungewohnte Einblicke in das private Leben des Führers. Ein neuer Blick auf sein politische Erbe. "Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen", verkündete das Magazin "Stern" der erstaunten Weltöffentlichkeit.

Doch die Sensation hielt sich nicht lange. Und schnell wurde sie zum Presse-Skandal des Jahrhunderts. Die "Hitler-Tagebücher" flogen als Fälschung auf. Seitdem ist es eine Geschichte, die weitgehend abgehakt ist. Nur manchmal blitzt sie noch auf. Beim Schauen von Filmserien und Dokus reibt man sich dann verwundert die Augen, wie bizarr alles war. Es ist ein schräges Ganovenstück, in dem ein kleiner schwäbischer Fälscher einen großen Verlag an der Nase herumgeführt hat.

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Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz

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Was steht in den "Hitler-Tagebüchern"?

Nur eine Sache wurde nie ganz geklärt: Was genau steht eigentlich in diesen "Hitler-Tagebüchern"? Mit welchen Geschichten sollte die Geschichte umgeschrieben werden? Was war es, das sich anschickte, den Blick auf Hitler und das dunkle Erbe der Deutschen zu verändern?
Einem Team des NDR ist es gelungen, für die Sendung Reschke Fernsehen Kopien der kompletten "Tagebücher" zusammenzustellen und das Skript lesbar zu machen.

Das Problem: Weil der Fälscher Konrad Kujau Hitlers Handschrift imitieren wollte, liegen die "Tagebücher" in der alten deutschen Schreibschrift vor. Die Texte sind mitunter nur schwer zu entziffern. Der NDR hat deshalb Wissenschaftler beauftragt, ein Transkript zu erstellen. Eine Firma, die ihre Ursprünge an der Universität Innsbruck hat, hat mithilfe Künstlicher Intelligenz ein Programm entwickelt, das Handschriften übersetzen kann. Es ist eine lernende Software, die mit jedem eingespeisten Dokument besser wird.

Erstmals lesbares Skript der gefälschten "Tagebücher"

Und dann lag irgendwann der komplette Text vor. Was man lesen kann, ist viel Banales, das man in groben Zügen kennt. Aber es gibt einen zentralen Plot, der ein immer wiederkehrendes Motiv verfestigt: Hitler wusste angeblich nichts vom Holocaust. Mehr noch, er setzte sich angeblich für eine wohlwollende Lösung ein. So schreibt der falsche Hitler am 31. Juli 1941, man solle die Juden zur schnellen Auswanderung bewegen oder ihnen "einen sicheren Landstrich in den besetzten Gebieten suchen, wo sie sich selbst ernähren und verwalten können." Zu diesem Zeitpunkt war der Holocaust von den Nazis längst radikal entfesselt.

Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz
AUDIO: Gefälschte "Hitler-Tagebücher": Holocaust-Leugnung belegt (6 Min)

Verzerrtes Geschichtsbild der "Judenfrage"

Wie böswillig Fälscher Kujau bei den "Tagebüchern" vorgegangen ist, zeigt zum Beispiel der Eintrag vom 20. Januar 1942. An diesem Tag fand die Wannsee-Konferenz statt, bei der die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas zur Vernichtung in den Osten organisiert wurde. Doch sogar hier zeichnet der falsche Hitler ein vollkommen verzerrtes Geschichtsbild: "Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können." Diese historische Umdeutung des Holocaust zieht sich in den Tagebüchern über viele Jahre:

  • 5. Februar 1942: "Hake nochmals nach, wo nur die ganzen Juden hin sollen. Glaube, darum soll ich mich auch noch kümmern."
  • 18. Februar 1942: "Was wird nur mit den Juden. Keiner will sie haben."
  • 21. Mai 1942: "Möchte nur wissen, wie weit Himmler mit dem Judenproblem ist."
  • 29.November 1942: "Wir kommen nicht weiter mit dem Judenproblem. Keiner will sie haben, selbst unbesiedeltes Gebiet stellt man uns für die Umsiedelung nicht zur Verfügung."
  • 23. Mai 1943: "Sorge macht mir unser Judenproblem. Nach den mir vorliegenden neuesten Meldungen will sie keiner haben."

"'Tagebücher' ein Ausdruck von Holocaust-Leugnung"

Die Pressekonferenz des Hamburger Magazins "Stern" am 25. April 1983 zur Veröffentlichung der angeblichen "Hitler-Tagebücher". © picture-alliance / dpa Foto: Chris Pohlert
Medienauftrieb im Hamburger Verlagshaus: Am 25. April 1983 präsentiert der "Stern" der Weltpresse die angeblichen "Hitler-Tagebücher" und kündigt eine entsprechende Serie im Blatt an.

Beim "Stern", bei dem Redakteure die vermeintliche Hitler-Handschrift lesen konnten, hielten die Verantwortlichen all das damals offenbar nicht nur für wahr, sondern auch für veröffentlichungswürdig. Die "Hitler-Tagebücher" sollten ab Mai 1983 Zug um Zug in einer langen Serie veröffentlicht werden. Für den Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Hajo Funke, der die "Tagebücher" für den NDR gelesen und kommentiert hat, ist das ein klarer Akt von Geschichtsfälschung: "Diese 'Tagebücher' sind Ausdruck von Holocaust-Leugnung. Das ist eindeutig", so Funke.

Aber wie kam dieser Plot in die Tagebücher? Bislang galt der Fälscher Konrad Kujau vor allem als lustiger Ganove, als begnadeter Fälscher, der nach seiner Haft durch die Talkshows zog. Er war bei Gottschalk und Biolek zu Gast, wurde immer und immer wieder für Dokumentationen und Magazinbeiträge gefilmt. Es wurde viel gelacht.

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"Stern"-Reporter Gerd Heidemann präsentiert im April 1983 die vermientlichen "Hitler-Tagebücher", im Hintergrund das Titelblatt des "Stern" mit der Titelzeile "Hitlers Tagebücher entdeckt" (Montage) © NDR

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Das neue Bild des Fälschers Konrad Kujau

Doch die neuen Recherchen des NDR belegen, dass Kujau ein ideologisches Denken an den Tag legte, das bislang kaum bekannt war. Bei Militaria-Händlern wie Konrad Kujau, der sein Geld auch mit dem Verkauf von NS-Devotionalien verdiente, mögen die Grenzen verschwimmen. Doch mehrere Zeugen schildern, wie sich Kujau damals selbst wiederholt als Neonazi bezeichnet hat. In seiner Stammkneipe soll er regelmäßig den Hitlergruß gezeigt haben und gelegentlich in SS-Kluft erschienen sein. Bei seiner Verhaftung 1983 trug Kujau einen SS-Ring, in den eine Imitation von Himmlers Unterschrift eingraviert war. Selbst bei seinen Besuchen in der DDR habe Kujau das Dritte Reich gelobt, wie das Ministerium für Staatssicherheit in seinen Berichten festhielt.

Kujaus Kontakte zu Neonazis

Offenkundig ist, dass Kujau keine Berührungsängste gegenüber Rechtsextremisten hatte. Eine besonders wichtige Figur dabei: Lothar Zaulich, Pressesprecher der nationalsozialistischen Partei ANS/NA, ein Freund und Geschäftspartner Kujaus. Zaulich stand im Zentrum der westdeutschen Neonazis und hat aus seiner Gesinnung nie ein Hehl gemacht. "Ich würde es begrüßen, wenn nach Wahlkämpfen die NSDAP wieder an die Regierung käme", verkündete er Anfang der 90er-Jahre. Und mehr noch: "Ich glaube von dieser Holocaust-Geschichte nicht ein Wort, weil ich so etwas nicht erlebt habe, weil ich so etwas nie gesehen habe und auch nie davon gehört habe."

Handschrift des Diktators perfektioniert

Die gefälschten "Hitler-Tagebücher", die der "Stern" 1983 veröffentlichte, sind 2018 im Rahmen des "Tages des Journalismus" im Hamburger Redaktionsgebäude zu sehen. © picture alliance/dpa Foto: Markus Scholz
Bei der Fälschung der Schrift arbeitete Konrad Kujau nicht alleine - gemeinsam mit ANS/NA-Sprecher Lothar Zaulich perfektionierte er sein Tun.

Im Zuge der "Tagebuch"-Ermittlungen nahm die Staatsanwaltschaft von Oktober 1983 bis März 1984 auch Zaulich ins Visier. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung am 13. Oktober 1983 fanden die Polizisten ein professionelles Fotolabor, eine Werkstatt zur Herstellung von Reproduktionen und "Das Buch der NSDAP" von 1934 mit "fertigen Bildelementen von bekannten Kujau-Fälschungen". Kujau und Zaulich sollen gemeinsam Hitler-Bilder vervielfältigt und auf Flohmärkten verkauft haben.

Und weil eine Unterschrift Hitlers den Preis erhöhte, perfektionierten sie offenbar gemeinsam die Handschrift des Diktators. Später erinnerte sich ein Kamerad aus dem Neonazi-Umfeld, wie Zaulich für Kujau die Hitler-Schrift auf Papier projiziert habe: "Mittels dieser Projektionen übte dann der spätere 'Hitler-Tagebuch'-Fälscher Konrad Kujau das Autogramm Hitlers stundenlang, bis er es mit äußerster Präzision in jeder Lebenslage aus dem Handgelenk schreiben konnte", so der frühere Nazikader Thomas Brehl in seiner Autobiografie.

War dies der Beginn der großen Fälschung? Zumindest hat Kujau sein Fälscherhandwerk ganz offensichtlich mit tätiger Hilfe eines führenden Neonazis perfektioniert. Doch damit nicht genug: Zaulich hat Kujau offenbar auch ideologisch bearbeitet. Laut Polizeiprotokoll habe Zaulich "im Beisein des Kujau eine Fotomontage hergestellt, um zu beweisen, wie einfach es sei, dokumentarisch mit der Vergasungslüge zu arbeiten."

Narrative der Nazi-Szene in den "Hitler-Tagebüchern"

Kujau hat das alles offenbar umgesetzt. Und so finden sich die zentralen Narrative der westdeutschen Neonazis in den "Hitler-Tagebüchern": der angeblich gute Hitler und die Vertuschung der Gaskammern. Die Partei hinter Kujaus Einflüsterer Lothar Zaulich war die ANS/NA, deren Führer Michael Kühnen war. Er galt in der Szene als Lichtgestalt und hat mit politischen Aktionen immer wieder für Aufsehen gesorgt, etwa im Hamburg der 70er-Jahre. Kühnens Neonazis marschierten mit Eselsmasken auf und hielten Schilder mit der Aufschrift "Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZs Juden vergast wurden".

Das Dritte Reich ohne Gaskammern? Ein Motiv, das auch in den "Hitler-Tagebüchern" auftaucht. Selbst mancher Neonazi rieb sich später die Augen, dass weder Polizei noch Medien Kujaus Verbindungen in die Szene aufgriffen. "Weder Michael Kühnen noch ich verstanden es damals, dass die Verstrickung des Pressechefs der 'neonazistischen ANS/NA' in die 'Stern-Affäre' von den Behörden, zumindest aber von den Medien totgeschwiegen wurde", so Thomas Brehl.

Volltextsuche offenbart erschütterndes Bild

Jetzt liegen die Tagebücher erstmals komplett lesbar vor. Nach 40 Jahren kann sich die Öffentlichkeit ein Bild darüber machen, was ihr damals als historische Wahrheit untergeschoben werden sollte. Und mehr noch: Die "Tagebuch"-Anwendung ermöglicht eine Volltextsuche. Die Ergebnisse sind erschütternd: "Gaskammern" - 0 Treffer. "Deportation" - 0 Treffer. "Auschwitz" - 0 Treffer. Diese "Tagebücher" sollten den Holocaust löschen.

Beim "Stern" hat das damals offenbar niemanden gestört.

Das NDR Projekt über die Wahrheit hinter den "Hitler-Tagebüchern" im Rahmen der Sendung Reschke Fernsehen wurde realisiert von Antonius Kempmann, Julian Feldmann, Malte Herwig, Nadja Hübner, Felix Meschede, Anton Maegerle, John Goetz und Dietmar Schiffermüller.
Die Online-Fassung der Tagebücher und die Website dazu wurden von Christian Westerhove, Marco Carstensen, Simone Rastelli und der Redaktion NDR.de realisiert.

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Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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