ICE-Unglück in Eschede: Eine Katastrophe und ihre Folgen
Am 3. Juni 1998 kommt es in Eschede zum bisher schwersten Zugunglück in der Bundesrepublik mit 101 Toten und 105 Verletzten. Die Rekonstruktion einer Katastrophe - und wie die damals Verantwortlichen ihr Verhalten heute bewerten.
Der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" startet am Morgen des 3. Juni in München. Gegen 10.30 Uhr hält der Zug ein letztes Mal planmäßig in Hannover. Als der Intercity-Express an diesem Mittwoch um 10.33 Uhr in Richtung Hamburg abfährt, befinden sich fast 300 Menschen in dem Zug. 25 Minuten später bricht unweit der Kreisstadt Celle an der dritten Achse des ersten Wagens ein Radreifen - bei einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern.
Gebrochener Radreifen löst verheerende Kettenreaktion aus
Wie der Gummireifen eines Autos ist dieser Eisenring auf das Rad aufgezogen. Er soll den Fahrkomfort erhöhen und die Wartungskosten gering halten. Nachdem der Radreifen bei Tempo 200 gebrochen ist, wickelt sich die weiche Eisenlegierung in Sekundenbruchteilen vom Rad, bohrt sich durch den Boden des Hochgeschwindigkeitszuges ins Innere des Waggons und verkeilt sich zwischen den Sitzreihen und dem Drehrahmengestell des Waggons. Ein Ende des gebrochenen und aufgebogenen Metallringes ragt aus der Unterseite des Zuges und schlägt immer wieder auf das Gleisbett. Bereits ab Streckenkilometer 56,4 hinterlässt das Metall deutliche Spuren auf den Betonschwellen.
Kurz vor Eschede hören Fahrgäste ein Rumpeln im ICE
Überlebende geben nach dem Unglück an, sie hätten vor dem Zusammenprall mit der Brücke ein anhaltendes Rumpeln bemerkt. Als der Zug schließlich rund 200 Meter vor der Brücke über die erste von zwei Weichen fährt, reißt der immer noch verkeilte Radreifen einen Teil der Weiche von den Schwellen. Es bohrt sich durch den Waggon und hebt ihn aus den Gleisen. Die Kollision mit der zweiten Weiche stellt diese um, der hintere Waggonteil rast auf ein Nebengleis. Mit hohem Tempo stellt sich der Waggon quer und springt schließlich aus den Gleisen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Waggon kurz vor einer Straßenbrücke, die über die Schienen führt.
Aus dem Schnellzug wird ein Trümmerhaufen
Das herumgewirbelte Ende des Waggons prallt gegen einen Pfeiler der Beton-Brücke und bringt sie zum Einsturz. Während der vierte Waggon noch unter der einstürzenden Brücke hindurchschießt und schließlich in der Böschung rechts der Gleise landet, wird der fünfte Waggon von der einstürzenden Brücke begraben. Die folgenden Waggons schieben sich wie eine Ziehharmonika zusammen. Nur 3,6 Sekunden nach dem Einsturz der Brücke steht ICE 884 still. Aus dem High-Tech-Flaggschiff der Deutschen Bahn ist ein todbringender Trümmerhaufen geworden. Das ICE-Unglück von Eschede zählt bis heute zu den weltweit schwersten Unglücken, die es mit Hochgeschwindigkeitszügen gegeben hat.
Anwohner aus Eschede sind als erste am Unglücksort
Die ersten Helfer am Unglücksort sind Anwohner, die vom Lärm der Katastrophe aufgeschreckt werden. "Es klang, als ob in einiger Entfernung ein Lastwagen Steine abkippt", beschreibt ein Anwohner später das Geräusch. Zehn Minuten nach dem Unfall lösen die Einsatzkräfte Großalarm aus. Der Bundesgrenzschutz und die Sanitätsorganisation des Deutschen Roten Kreuzes werden alarmiert.
Binnen der nächsten 120 Minuten läuft ein verzweifelter Rettungseinsatz an. Der Ambulanzflugdienst wird angefordert, das Technische Hilfswerk hinzugerufen. Der Landkreis Celle löst Katastrophenalarm aus. Notärzte aus dem Krankenhaus Celle werden angefordert. Ihnen kommen später Kollegen zu Hilfe, die an diesem Tag zufällig an einem Unfallchirurgen-Kongress in der Medizinischen Hochschule Hannover teilnehmen.
Großalarm: 1.000 Helfer nach kurzer Zeit vor Ort
Aus einer benachbarten Kaserne rücken britische Soldaten an, um bei der Rettung zu helfen. Zwei Verletzten-Sammelstellen werden eingerichtet. Gegen 13 Uhr sind alle geborgenen Schwerverletzten abtransportiert. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich bereits mehr als 1.000 Helfer am Unglücksort. Die Bedingungen für die Rettung werden im Nachhinein als gut beschrieben. Es ist hell und die räumlichen Gegebenheiten bieten ausreichend Platz für den Einsatz von Rettungshubschraubern und schwerem Bergungsgerät. "Wir hätten kein einziges Leben zusätzlich retten können", resümiert einer der Notärzte nach dem Einsatz. Dennoch steigt die Zahl der Todesopfer unaufhörlich. Bis zum Ende der Woche sind 98 Leichen geborgen.
Die Hoffnung, Überlebende zu finden, schwindet
Insgesamt werden es fast 2.000 Helfer, die drei Tage und Nächte verbissen am Unglücksort arbeiten. Doch bereits in der ersten Nacht nach der Katastrophe gibt es kaum noch Hoffnung, Überlebende aus den Trümmern zu retten. Der Einsatz konzentriert sich immer mehr auf das Bergen von Toten. Leichenspürhunde sollen Körperteile aufspüren. Ein 120-köpfiges Expertenteam aus Rechtsmedizinern ist wochenlang mit der Zuordnung von Leichenteilen und der Identifizierung der Opfer beschäftigt.
Bergung und Spurensuche: Puzzle für Helfer und Ermittler
Gleichzeitig suchen Helfer nach persönlichen Gegenständen wie Geldbörsen oder Notizbüchern, um herauszufinden, wer überhaupt in dem Zug saß. Mitarbeiter von Staatsanwaltschaft, Polizei und Eisenbahnbundesamt nehmen die Ermittlungen auf. Nach dem Unglück wird zunächst über die Unfallursache spekuliert. Zwei Signalarbeiter, die ebenfalls getötet wurden, hatten ihren Wagen auf der Brücke geparkt, in die der Schnellzug rast. Nach dem Zusammenprall wird das Auto in den Trümmern von Zug und Brücke entdeckt. Hat ein Pkw auf den Gleisen den ICE zum Entgleisen gebracht? Tatsächlich finden sich bereits rund sechs Kilometer vor der Unfallstelle erste Hinweise auf die Katastrophe.
Die Katastrophe bahnt sich Kilometer vor Eschede an
Bei Streckenkilometer 55,1 markiert eine etwa 20 Zentimeter lange und rund vier Zentimeter tiefe Kerbe in einer Betonschwelle die Stelle, an der der Radreifen gebrochen ist, der die Katastrophe auslöste. Auf den folgenden Kilometern bis zur Unfallstelle zeigen Beschädigungen der Schwellen, wo das untere Ende des aufgebogenen Radreifens immer wieder aufgeschlagen ist, bevor es schließlich an der Weiche kurz vor der Straßenbrücke zur Katastrophe kam.
Schicksalhafte Verspätung lässt zweiten ICE passieren
Nur knapp zwei Minuten, bevor der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" entgleist und gegen die Brücke prallt, hat der ICE 787 "Werdenfelser Land" die Unglücksstelle in der Gegenrichtung passiert. Während der aus Hamburg kommende ICE 787 eine Minute vor dem Plan fährt, hat der Unglückszug eine Minute Verspätung. Nach dem Fahrplan wären sich die beiden Hochgeschwindigkeitszüge am Unglücksort in Eschede begegnet. Wäre diese kleine Unpünktlichkeit nicht gewesen - das Ausmaß der Katastrophe wäre noch schlimmer ausgefallen.
Jahrelange Belastung und Qual für die Einsatzkräfte
Doch auch so ist es ein Unglück, das die Unfall-Opfer und Hinterbliebenen an den Rand des Erträglichen bringt - und auch die Einsatzkräfte. "Zuhause habe ich erstmal ganz doll meine Kinder in den Arm genommen, meine Frau auch", berichtet ein Helfer kurz nach seinem Einsatz mit brüchiger Stimme. "Und dann versucht zu schlafen - aber es ging nicht." Viele fragen sich, ob sie genug getan haben - Schlafstörungen, Angstzustände und Depressionen sind die Folge.
Die Bilder des Unglücks brennen sich den Helfern tief ins Gedächtnis ein - bis heute. "Wir sind bei der Suche nach Opfern die ganzen Waggons nochmal durchgegangen", erinnert sich Feuerwehrmann Michael Besoke im NDR Doku-Talkformat "Die Narbe". Er ist einer der ersten Helfer vor Ort, wohnt nur 200 Meter von der Unfallstelle entfernt. Und stößt bei seiner Suche nach weiteren Opfern auf eine Frau und ihr Kind. "Sie waren schon tot. Die Frau war eingequetscht zwischen diesen ganzen Waggon-Teilen. Und das Kind, das war, ich weiß nicht, in einem anderen Abteil oder einer Toilette - jedenfalls griff die Frau da rein, griff nach diesem Kind. Dieses Bild habe ich immer wieder vor Augen. Das geht auch nicht aus dem Kopf raus."
"Dieser Unfall hätte verhindert werden können"
Annette Angermann hat ihren Bruder bei dem Zugunglück verloren. Noch heute schaut sie sich Video-Aufnahmen mit ihrem Bruder an. Eine hat für sie eine ganz besondere Bedeutung: "Weil es das einzige ist, wo ich meinen Bruder quasi noch in Bewegung sehen kann, bevor er in Eschede getötet wurde", sagt sie. "Getötet, weil ich der Ansicht bin, dass dieser Unfall hätte verhindert werden können. Und die 101 Toten noch hätten weiterleben können."
Strafprozess wird eingestellt
Ob der Unfall hätte verhindert werden können, soll ein Strafprozess gegen drei Ingenieure klären, der vier Jahre nach dem Unglück in Celle eröffnet wird. Die Anklage lautet auf 101-fache fahrlässige Tötung und 105-fache fahrlässige Körperverletzung. "Den Opfern geht es nicht in erster Linie um eine hohe Strafe für die Angeklagten", sagt damals Reiner Geulen, Anwalt der Nebenkläger. "Es geht ihnen darum, die Schuld der Bahn festzustellen. Die Bahn hat das bis heute nicht zugestanden."
Dreh- und Angelpunkt im Prozess sind Beschaffenheit und Wartung des gebrochenen Radreifens. Doch nach acht Monaten und über 50 Prozesstagen stellt das Gericht das Verfahren gegen die Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 Euro ein. Die Staatsanwaltschaft hätte zwar auch lieber einen Urteilsspruch gesehen - allerdings wird das Unglück als nicht aufklärbar bewertet. Den Angeklagten könne keine schwere Schuld nachgewiesen werden.
Die Bahn braucht 15 Jahre für eine Entschuldigung
Opfer und Angehörige sind erschüttert. Ebenso wie über das jahrelange Verhalten der Bahn. Der damalige Bahn-Chef Johannes Ludewig fährt noch am Abend des Unglücks nach Eschede. Doch Worte des Bedauerns oder gar der Entschuldigung kommen von ihm nicht. Auch am fünften, selbst am zehnten Jahrestag des Unglücks gibt es keine Entschuldigung der Bahn. Bei einigen Angehörigen schlägt die Trauer in Wut um. Das Verhalten der Bahn halte die Wunden der Hinterbliebenen offen, sagen sie. "Eine Chance auf Aussöhnung, Befriedung wurde damit verschenkt", so Angehörigen-Sprecher Heinrich Löwen bei der Gedenkfeier im Jahr 2008.
Erst 15 Jahre nach der Katastrophe gelingt Rüdiger Grube, was zwei Bahn-Chefs vor ihm nicht über sich brachten. "Wir wollen uns für das entstandene menschliche Leid bei Ihnen entschuldigen", so der damalige Bahn-Vorstandsvorsitzende bei der Gedenkfeier im Jahr 2013.
Ludewig lenkt ein: "Würde es heute anders machen"
Und wie beantworten die Verantwortlichen von damals heute die Frage nach dem angemessenen Verhalten angesichts eines Unfalls mit 101 Toten? "Sind Regeln, die damals galten, nicht eingehalten worden? Das musste erstmal geklärt werden. Die Geduld, das erstmal abzuwarten, hatten viele Leute natürlich nicht", erklärt Ex-Bahn-Chef Ludewig das Schweigen der Bahn 1998. "Das war eben eine juristische Einschätzung, dass wenn man eine Entschuldigung aussprechen würde, das als ein Schuldeingeständnis auch im juristischen Sinne interpretiert werden könnte." Doch die moralische Ebene sieht er auch - und würde mit der Situation heute anders umgehen: "Ich glaube schon, dass die Bahn in diesem moralischen Sinne in einer wie auch immer gearteten Verantwortung war. Deswegen wäre das Sich-Entschuldigen schon am Platze gewesen. Das ist sicher eines der Dinge, die ich heute anders machen würde als damals."
Mehdorn bleibt angesichts von Eschede kühl und distanziert
Hartmut Mehdorn folgt Ludewig 1999 als Vorstandsvorsitzender der Bahn. In seiner Verantwortung liegt nun die Aufarbeitung des Unglücks - eine Entschuldigung wird es auch in seiner Amtszeit nicht geben. Im NDR Fernsehen äußert er sich nun erstmals nach seinem Abgang als Bahnchef 2009 zu seiner Haltung. "Den Schmerz anderer Leute nachzuempfinden ist schwer. Das bedrückt einen schon sehr, das ist gar keine Frage", sagt er. Aber auch: "Für mich war immer klar, dass man das Emotionale und das Geschäft auseinander halten muss. Aber das muss man immer, wenn man Verantwortung für ein großes Unternehmen trägt. Da gibt es ständig im Großen und im Kleinen Einzelschicksale - und sie müssen trotzdem sehen, dass sie dabei nicht noch selber verrückt werden oder ihren Schlaf verlieren."
Ob er die Wut der Angehörigen und deren Bedürfnis nach einer Entschuldigung denn aus heutiger Sicht nachvollziehen könne? "Es gab kein direktes Versagen. Wenn es hilft, dass eine Entschuldigung ein Lippenbekenntnis ist, dann ist es aber nicht sehr viel wert. Eine Entschuldigung muss ja vom Herzen kommen."