Ein Prozess ohne Urteil
Nach dem Zugunglück bei Eschede am 3. Juni 1998 kommt 2002 eines der umfangreichsten Verfahren in der deutschen Nachkriegsgeschichte in Gang. Hinterbliebene kämpfen jahrelang um Aufklärung und Gerechtigkeit.
Dass der Bruch eines Radreifens das Unglück ausgelöst hat, steht bereits wenige Monate nach der Katastrophe mit 101 Toten und mehr als 100 Verletzten endgültig fest - doch warum das passierten konnte, ist die zentrale Frage in dem Gerichtsprozess.
186 Seiten lange Anklageschrift gegen drei Ingenieure
Kurz nach dem Unglück leiten Staatsanwälte aus Lüneburg ein Verfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung ein. Am 7. November 2001 liegt die Anklageschrift vor - sie ist 186 Seiten dick. Beschuldigt werden zwei Ingenieure des ehemaligen Bundesbahn-Zentralamtes in Minden und ein Ingenieur des Radreifenherstellers Vereinigte Schmiedewerke in Bochum. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, die damals neu entwickelten gummigefederten Räder nicht ausreichend auf ihre Belastbarkeit geprüft zu haben. Außerdem hätten sie versäumt, regelmäßige Kontrollen der Räder zu veranlassen. Im Falle eines Schuldspruchs müssen die drei Männer mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen.
Angeklagte weisen alle Schuld von sich
Die Erste Große Strafkammer des Landgerichts in Lüneburg eröffnet am 13. Juni 2002 das Hauptverfahren, es werden 22 Verhandlungstage angesetzt. Der Prozess beginnt am 28. August in Celle, Michael Dölp ist der Vorsitzende Richter. "Das Gericht ist sich darüber bewusst, dass die Erwartung immens groß ist, das Verfahren in überschaubarer Zeit zum Abschluss zu bringen", so der Richter. Die Angeklagten schweigen, weisen aber über ihre Anwälte alle Schuld von sich. Während die Bahn aufgrund eigens initiierten Gegengutachtens überzeugt ist, dass die Angeklagten keine Schuld trifft, sieht das der Anwalt der Hinterbliebenen, Reiner Geulen, anders: Schon 100.000 Kilometer vor dem Unglück habe der bei Eschede gebrochene Radreifen Risse aufgewiesen, die mit dem bloßen Auge erkennbar gewesen seien. Zudem gebe es eindeutige Hinweise, dass das Management der Bahn Druck ausgeübt habe, als die neuen Radreifen entwickelt wurden.
Opfer-Vertreter: "Die Angeklagten sind nur Bauernopfer"
Die Hinterbliebenen des Unglücks, die sich in einer Selbsthilfegruppe organisiert haben, schöpfen Hoffnung: Vielleicht bekommen sie mehr als vier Jahre nach der Tragödie Antworten auf die Fragen, die sie seit Langem quälen. Der Sprecher der Hinterbliebenen, Heinrich Löwen, ist einer von insgesamt 37 zugelassenen Nebenklägern im Prozess. Er hat durch das Unglück seine Frau und seine älteste Tochter verloren. Noch vor Prozessbeginn macht Löwen deutlich, dass er sich eigentlich Mitglieder des Bahnvorstandes auf der Anklagebank gewünscht hätte: "Die Angeklagten sind nur Bauernopfer. Es geht mir nicht darum, dass diese drei Männer langjährige Haftstrafen bekommen. Schließlich hat die Bahn als ganzes Unternehmen versagt. Unser Leid kann dieser Prozess ohnehin nicht lindern. Wir wünschen uns nur Gerechtigkeit." Die Beweisaufnahme beginnt: Unter anderem werden Ermittlungsbeamte, Bahn-Mitarbeiter, der Lokführer und Zugbegleiter des Unglückszuges, weitere Überlebende und Augenzeugen in den Zeugenstand gerufen.
Gutachter streiten über den Reifenbruch
Aus Platzmangel wird der Prozess nach Hannover verlegt und geht im Januar 2003 in die entscheidende Phase: Gutachter aus der ganzen Welt stehen auf der Zeugenliste. Sie sollen endlich die Frage klären, warum der Radreifen brechen konnte. Die bisherigen Aussagen von Ermittlern hatten bisher nur gezeigt, dass es bei der Überprüfung der Radreifen Unregelmäßigkeiten und Versäumnisse gegeben hatte.
Gerhard Fischer vom Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit sagt als erstes aus. Seinen Erkenntnissen nach ist das Unglück durch einen Ermüdungsbruch des Radreifens ausgelöst worden. Sicheres Indiz dafür sei das Erscheinungsbild der Risse im Radreifen. "Dies war ein Ermüdungsriss, der ein langsames Wachsen aufwies", erläutert Fischer. Vatroslav Grubisic vom selben Institut bemängelt Versäumnisse bei der Kontrolle des betroffenen Rades und kommt zu dem Schluss: Aufgrund des starken Verschleißes des Reifens seien Risse und ein Bruch nur eine Frage der Zeit gewesen.
Gutachter-Streit zieht Verfahren in die Länge
Tage später liefern die von der Bahn beauftragten Gutachter ein ganz anderes Bild: Der Bruch des Radreifens sei nicht vorhersehbar gewesen, sagt Bengt Akesson, Leiter des schwedischen nationalen Kompetenzzentrums für Eisenbahnmechanik an der Universität Göteborg. Nach damaligen Erkenntnissen im Jahre 1998 sei das Rad zu Recht zum Einsatz gekommen, die Rissbildung habe keiner vorhersehen können. Im Gerichtssaal entbrennt ein Streit der Experten. Der Vorsitzende Richter Michael Dölp muss alle Beteiligten ermahnen, gezielte Fragen zu stellen und auf den Zeitplan zu achten, der schon längst überschritten ist. Bis zu 70 Zeugen stehen noch auf der Zeugenliste, eine mögliche Urteilsverkündung wird im Sommer erwartet.
Richter Dölp: "Angeklagte tragen keine schwere Schuld"
Doch dann steht der Prozess vor dem Aus: Am 28. April 2003 schlägt das Lüneburger Landgericht vor, gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 Euro den Prozess einzustellen. Es habe sich herausgestellt, dass die drei Angeklagten keine schwere Schuld an dem Zugunglück trügen, sagt Richter Dölp. Trotz fortgeschrittener Computertechnik sei es noch schwer, die Belastungen von Radreifen zu messen. Den Angeklagten könne nicht nachgewiesen werden, dass sie verantwortlich für das Unglück seien. Vor dieser Erklärung hatten die Nebenkläger einen Befangenheitsantrag gegen den Richter gestellt, um die Einstellung des Prozesses zu verhindern. Doch der Antrag wird abgewiesen. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung stimmen der Einstellung zu, und der Richter gibt sie am 8. Mai nach mehr als einer Stunde Beratung nur noch kurz bekannt. Der Prozess ist zu Ende - nach 53 Verhandlungstagen.
"Klägliches Ende": Hinterbliebene maßlos enttäuscht
Die Hinterbliebenen und ihr Anwalt Reiner Geulen reagieren mit großer Enttäuschung und heftiger Kritik. Geulen spricht von der "Unfähigkeit des Staates im Umgang mit den Opfern eines schweren Unfalls". Es sei den Opfern des Eschede-Unglücks ein zweites Unrecht zugefügt worden. Er kündigt eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an. Der Prozess habe ein "klägliches Ende" genommen, sagt Hinterbliebenen-Sprecher Löwen. "Ich fühle mich hintergangen. Wir sind maßlos enttäuscht." Als die Angeklagten ihre Geldbuße bezahlen, wird das Verfahren endgültig eingestellt - die Entscheidung ist nicht anfechtbar. Auch die letzte Hoffnung der Nebenkläger wird danach zerstört: Das Bundesverfassungsgericht weist ihre Beschwerde ab mit der Begründung, keinerlei Verstöße gegen Grundrechte erkannt zu haben.
Machtlosigkeit gegenüber eines Großunternehmens?
Nur schwer können sich die Hinterbliebenen und ihr Sprecher damit abfinden, dass mehr als fünf Jahre nach dem Zugunglück keine Schuldigen gefunden werden konnten. Sie sehen sich mit der Deutschen Bahn einem Großunternehmen gegenüber, gegen das sie keinerlei Macht haben. "Es ist unfassbar, dass die Betroffenen in dieser Weise abgefertigt werden, nur weil genügend Macht und Interesse eines Staatsunternehmens im Spiel sind", sagt Löwen im September 2003.