Augenzeuge: "Horror in gleißender Sonne"
Sebastian Theby ist am 3. Juni 1998 als Zivildienstleistender aus Celle an der Unfallstelle des ICE-Unglücks in Eschede. Zehn Jahre später hat sich der damalige Mitarbeiter des NDR anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe an die Geschehnisse vor Ort erinnert.
Essen auf Rädern, "Tour 3". Alles beginnt wie immer an diesem 3. Juni 1998: Losfahren morgens um 7 Uhr, fertig gegen 13 Uhr, danach Feierabend. Als Zivildienstleistender bei den Johannitern in Celle ist das Ausliefern von Mittagessen an diesem Tag meine eigentliche Aufgabe. Doch es sollte alles ganz anders kommen.
"Es gab einen Unfall!"
Ich komme bei herrlichem Wetter und strahlendem Sonnenschein gerade aus der Wohnung einer alten Frau und bin im Begriff, mich wieder ins Auto zu setzen und meine Tour fortzusetzen, als plötzlich ein Zivi-Kollege auftaucht, der frei hat. "Hey, weißt du schon, was passiert ist?", fragt er. "Ähm... nein", antworte ich. "Es gab einen Unfall!" - "Flugzeug?" - "Nee, ein Zug, bei Eschede, kam eben im Radio." Ich vermute, dass lediglich ein Güterzug entgleist und die Meldung nur deshalb im Radio gelaufen ist, weil das Nachrichten-"Sommerloch" in der Südheide immer besonders stark zu spüren ist. Doch gleichzeitig schwant mir Übles. Zu diesem Zeitpunkt in erster Linie aus egoistischen Gründen: Mir steht der Sinn nicht gerade nach Überstunden. Wie wenig angemessen diese Gedanken sind, sollte mir später klar werden.
Helle Aufregung in der Zentrale
Zurück in der Johanniter-Zentrale stelle ich fest, dass alle in heller Aufregung sind. Bei dem entgleisten Zug handelt es sich nicht um einen Güter-, sondern einen Personenzug. Die tatsächlichen Ausmaße des Unglückes sind aber nach wie vor unklar. Viele Kollegen sind bereits vor Ort - das Unglück hat sich gegen 11 Uhr zugetragen, jetzt ist es 13 Uhr. Auch ich werde mit zwei Kollegen zur Unfallstelle geschickt. Unsere Aufgabe ist simpel: den Transporter mit Mineralwasser beladen und es vor Ort an Hilfskräfte verteilen.
Eschede liegt etwa 20 Kilometer von Celle entfernt. Normalerweise dauert die Fahrt mit dem Auto ungefähr eine halbe Stunde - nicht aber an diesem Tag. Unser Fahrer gibt Gas. Ohnehin viel zu schnell unterwegs, werden wir noch von einem Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn überholt, an den wir uns dranhängen. Ausnahmezustand auf der Landstraße und im Ort: Rote Ampeln und der restliche Verkehr sind für uns nicht relevant.
"Lass' das nicht die Leichen sein"
In Eschede angekommen fahren wir auf der Dorfstraße geradeaus, dann nach links. Richtung Rebberlah, Richtung Brücke, Richtung Unheil. Ungefähr 100 Meter vor der Brücke halten wir, näher kommen wir mit unserem Fahrzeug nicht an die Unglücksstelle heran. Da wir nicht wissen, wo genau wir gebraucht werden, marschieren wir zur Brücke, um uns genauere Instruktionen zu holen. Viele Menschen hetzen um uns herum, es herrscht großes Durcheinander. Plötzlich stößt unser Fahrer gepresst hervor: "Oh Gott, lass' das nicht die Leichen sein." Es sind Leichen: in einer Reihe auf den Asphalt der rechten Fahrbahnseite gelegt, nur vereinzelt mit bereits durchgebluteten Tüchern abgedeckt. Leblose Körper. Männer, Frauen, Kinder. Die Reihe ist lang - blanker Horror in der gleißenden Sonne.
"Das Gleisbett ist mit Trümmerteilen bedeckt"
Wir werden auf die andere Seite der Gleise geschickt. Also zurück zum Transporter und wieder auf die Dorfstraße. Das Chaos umfahren wir über einen etwas weiter nördlich gelegenen Bahnübergang. Am Bahnhof von Eschede prangt ein Plakat mit der Aufschrift "Es bahnt sich was an in Eschede". In dieser Situation eine makabere Anmutung. Auf dem kurzen Weg nach Süden in Richtung Brücke sehen wir drei Waggons, die halb auf den Schienen und halb im Schotter stehen. Von dem dritten ist nur noch eine Hälfte übrig. Ein vierter Waggon liegt ein paar Meter weiter südlich zwischen Bäumen, dann folgt die zweite Hälfte des dritten Waggons. Das Gleisbett ist mit Trümmerteilen bedeckt. Wir parken unseren Transporter auf dem Feld neben der Bahnstrecke, etwa an der Stelle, wo sich heute die Gedenkstätte befindet.
Verzweifelt wirkende Helfer auf einem riesigen Schrottberg
Zurück auf Höhe der Brücke offenbart sich das Ausmaß des Unglückes in seiner gesamten grauenvollen Tragweite. Zwei Drittel des Zuges liegen grotesk zusammengefaltet am östlichen Brückenkopf. Unfassbar, wie wenig vom dem ehemals rund 230 Meter langen Metallkoloss durch den Aufprall und die eingestürzte Brücke übrig geblieben ist. Auf dem gigantischen Schrottberg sehen wir verzweifelt wirkende Helfer. Drumherum stehen vereinzelt olivgrüne Zelte der Hilfsorganisationen. Als ein Mann aus einem herauskommt, kann ich einen kurzen Blick ins Innere des Zeltes werfen. Links und rechts Feldbetten aufgereiht bis an die hintere Wand, doch von den Menschen, die dort liegen, kommt kein Laut. Zu diesem Zeitpunkt sind die Verletzten schon abtransportiert worden.
Unser Auftrag - das Verteilen von Wasser an die Helfer - stellt sich als gut gemeint, aber überflüssig heraus. Als wir kommen, gibt es zum einen bereits ausreichend Wasser. Zum anderen sind die Helfer so sehr im Stress, dass sie nicht ans Trinken denken. So bleibt meine Rolle beim schwersten Zugunglück in der Geschichte der deutschen Eisenbahn größtenteils auf die des Beobachters beschränkt. Die Eindrücke dieses Tages sind auch nach Jahren noch sehr bedrückend.