Volkswerft Stralsund: Am Anfang war der Fischkutter
Am 7. Juni 1948 fällt der Startschuss für die Volkswerft - per Befehl. Zu DDR-Zeiten werden am Strelasund in erster Linie Fischereischiffe gebaut, nach der Wende Containerfrachter, Spezialbauten sowie Kreuzfahrtschiffe. Inzwischen ist die Werft Geschichte - fast.
Fotografieren streng verboten! Diese deutliche Warnung gilt jahrelang für das gesamte Gelände der Volkswerft in Stralsund. Aus gutem Grund: Die Rüstungsaufträge der Werft sollen geheim bleiben. Anfang der 1950er-Jahre rangieren die Sicherheitsinteressen der DDR und der Sowjetunion aufgrund des Kalten und des Korea-Krieges zeitweise vor den ursprünglichen Kernaufgaben: dem Fischereischiffbau. Die ersten Minenleg- und -räumschiffe produziert die Volkswerft zwischen 1952 und 1954. Sie sind knapp 60 Meter lang und unter anderem mit einem 37-Millimeter-Geschütz sowie Wasserbombenwerfern bestückt. Die Schiffe, für 38 Mann Besatzung ausgelegt, haben im Marinedeutsch den Namen "Habicht". Sie kommen bei den Seestreitkräften der DDR zum Einsatz.
Sechs Monate Zeit für eine funktionierende Werft
Die Anfänge der Werft gehen zurück auf das Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Sowjetunion ist eine Großmacht ohne Flotte. Zudem sind ihre schlecht ausgestatteten Fischerboote nicht in der Lage, genug zu fangen, um die Not im Land zu lindern. Deshalb erteilt die Sowjetische Militäradministration in Deutschland am 7. Juni 1948 den Befehl Nr. 103. Dieser regelt im Rahmen der Reparationsforderungen den generalstabsmäßigen Bau einer Werft. Die bereits seit 1945 in Stralsund ansässige Ingenieurbau GmbH geht in das Eigentum des Volkes über. Sie bildet die Grundlage für die neue Volkswerft. Der Befehl sieht vor, die Werft ab dem 1. Januar 1949 in Betrieb zu bringen - in nur sechs Monaten. Diese Vorgabe erfordert eine Abkehr vom traditionellen Schiffbau. Nun sind industrielle Fertigungsmethoden und Serienbau gefragt. Der vollständig geschweißte Schiffskörper wird Standard.
U-Boot-Pläne ins Wasser gefallen
1952 plant die DDR, eine eigene U-Boot-Flotte aufzubauen. Ein während des Zweiten Weltkriegs vor Warnemünde gesunkenes deutsches Unterwasserboot soll zunächst gehoben werden und nach einer Rekonstruktion als Vorlage dienen. Doch nach der Überführung nach Stralsund kommt es in der Werft im November 1952 zu einer Havarie: Das Wrack löst sich aus seiner Verankerung und fällt auf die Schienenanlage der Werft. Ein Unfall mit Folgen: Knapp einen Monat lang ruht die gesamte Produktion der Volkswerft. Die Polizei verhaftet Projektleiter Rudolf Gellert wegen des Vorwurfs der Sabotage. Erst nach fünf Monaten Haft kommt Gellert frei. Obwohl die DDR eine eigene U-Boot-Lehranstalt unterhält und die geheimen Vorgaben den Bau von 14 U-Booten und 55 sogenannten U-Boot-Jägern in der Zeit von 1954 bis 1957 vorsehen, bedeutet der Unfall das vorzeitige Ende der U-Boot-Pläne in der Volkswerft.
Spezialist für Fischkutter
1958 übernimmt die Volkswerft die Schiffbau- und Reparaturwerft Stralsund (SRS). Schwerpunkt der SRS nach dem Zusammenschluss sind Schiffsreparaturen. Spezialschiffe für den Fischfang - etwa Gefrier- und Fabriktrawler - bilden bis in die 1980er-Jahre das Hauptgeschäft der Mutterwerft. Sie sind deren Aushängeschilder. Mitte der 70er gilt der Standort als modernste ostdeutsche Schiffbauanlage. Zwischen 1975 und 1989 belegen die Stralsunder - gemessen an der Tonnage - neun Mal den ersten Platz unter allen Werften weltweit, die Fischereischiffe bauen. Ihr Tonnage-Anteil an der Weltproduktion dieser Schiffe steigt bis auf 33 Prozent. Die Volkswerft zeichnet aber auch für Schwimmkräne, Transport-, Forschungs- und Schulschiffe verantwortlich. Bis auf wenige Ausnahmen fahren alle gebauten Schiffe bis zum Ende der DDR unter sowjetischer Flagge. Weitere Abnehmer sind Bulgarien, Rumänien und Kuba. Nach der Wende erschließt sich die Volkswerft neue Geschäftsfelder. Das erste Containerschiff mit dem Namen "Alexandra" läuft im Dezember 1992 vom Stapel. Im Jahr darauf liefern die Stralsunder Schiffbauer erstmals ein kombiniertes Passagier-Frachtschiff ab. Zu den Kunden zählen nun unter anderem Norwegen, Indonesien und China.
Turbulenzen nach der Wende
Nach dem Fall der Mauer wird die volkseigene Werft im Juni 1990 in die Kapitalgesellschaft Volkswerft GmbH umgewandelt. Sie wird zum Tochterunternehmen der Deutschen Maschinen- und Schiffbau AG in Rostock. Die Volkswerft soll eigentlich noch bis 1995 45 Trawler für die Sowjetunion bauen und abliefern. Doch dazu kommt es nicht, die Auftraggeber sind zahlungsunfähig. Ein Baustopp sorgt dafür, dass fast die Hälfte der rund 7.000 Schiffbauer ihre Jobs verliert. 1993 stimmt der Treuhand-Verwaltungsrat der Privatisierung der Volkswerft GmbH zu. Sie ist die letzte ostdeutsche Werft, die diese Umwandlung erfährt. Eine Bietergemeinschaft unter der Leitung des Bremer Vulkan-Verbundes übernimmt die Werft für eine Million Mark, also gut 510.000 Euro. Es erfolgt der Umbau zur Kompaktwerft - ein notwendiger Schritt, um die traditionsreiche Werft zu erhalten.
Nach Vulkan-Pleite knapp am Konkurs vorbei
1996 meldet Vulkan jedoch wegen Zahlungsunfähigkeit ein gerichtliches Vergleichsverfahren an. Vorgesehene Gelder für Stralsund in Höhe von 850 Millionen D-Mark - knapp 435 Millionen Euro - sind nicht mehr verfügbar. Der Standort ist in Gefahr. Nicht zuletzt dank des großen Engagements der Stralsunder Bürger, Politiker und Schiffbauer kann sich die Volkswerft schließlich abkoppeln und schrammt nur knapp am Konkurs vorbei. Die Anteile liegen nun beim Bund, beim Land Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Stralsund.
Neue Eigner, neue Ausrichtung, neue Sorgen
Anfang 1998 übernimmt die dänische Unternehmensgruppe A. P. Møller die Werft, Mitte August 2007 dann die Bremer Hegemann-Gruppe. Sie steigt mit ihr in den Bau großer Containerschiffe ein. Zur Gruppe gehören auch die Peene-Werft in Wolgast und die Rolandwerft im niedersächsischen Berne. Eigner Detlef Hegemann erwägt zwischenzeitlich eine Umbenennung von Volkswerft in Hansewerft, da dieser Name doch gut zur Hansestadt passe. Mit Rücksicht auf die protestierende Belegschaft verzichtet er letztlich auf diesen Schritt.
Mitte 2010 verschmilzt die Volkswerft mit der Wolgaster Peene-Werft. Neuer Name: P+S Werften. Containerfrachter stehen nicht mehr im Mittelpunkt, denn die Nachfrage sinkt. Der Spezialschiffbau, zum Beispiel mit Flusskreuzfahrtschiffen, wird die neue Ausrichtung. 1.925 Mitarbeiter sind an den beiden Standorten Wolgast und Stralsund beschäftigt.
Ende der Tradition: Werft bekommt neue Namen
Die P+S-Gruppe muss im August 2012 Insolvenz anmelden. Die Beschäftigten bekommen zunächst das sogenannte Insolvenzausfallgeld, eine Auffanggesellschaft wird gegründet. Die Wolgaster Werft geht im Mai 2013 an die Bremer Lürssen-Gruppe. 750 Mitarbeiter in Stralsund werden im November 2013 arbeitslos. Nur noch 200 Mitarbeiter sind bei der Volkswerft beschäftigt. Ein Käufer für das Traditionsunternehmen wird lange gesucht. Im April 2014 wird bekannt, dass die Nordic-Werften die Stralsunder Schiffbaufirma zum 1. Juni 2014 übernimmt - für 6,5 Millionen Euro. Der russische Nordic-Yards-Eigner Witali Jussufow will Anlagen für Windparks auf See bauen lassen. Auch eine Nutzung für den Schiffbau ist nicht ausgeschlossen. Fast schon beiläufig fällt den Veränderungen noch etwas zum Opfer: Der traditionelle Name "Volkswerft" wird ersetzt durch "Nordic Yards Stralsund".
Genting setzt auf Kreuzfahrtschiffe - und scheitert
Anfang März 2016 kauft der asiatische Misch-Konzern Genting die drei Nordic-Werften in Wismar, Warnemünde und Stralsund - für rund 230 Millionen Euro. Der Konzern will seine Kreuzfahrt-Branche ausbauen. Die MV-Werften kommen aber weiter nicht in ruhiges Fahrwasser. Im Januar 2022 meldet der Genting-Konzern Insolvenz an. Die Schiffbau-Standorte in Mecklenburg-Vorpommern sollen zwar erhalten bleiben, dennoch machen sich 2.000 Mitarbeiter Sorgen um ihre Zukunft. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) spricht von einer "bitteren Nachricht" für das ganze Land. Nach dem Ende zweier Transfergesellschaft am Stralsunder Standort werden Hunderte Mitarbeitende arbeitslos.
Stralsund entwickelt maritimen Industrie- und Gewerbepark
Die Stadt Stralsund kauft das 34 Hektar große Grundstück der ehemaligen Volkswerft und will dort einen maritimen Industrie- und Gewerbepark entwickeln. Außerdem soll der alte Name zurückkommen. In sechs Meter hohen Buchstaben soll spätestens Anfang Juli 2024 wieder "Volkswerft Stralsund" an der hellblauen Halle stehen. 1990 war der Name an der Fassade verschwunden.
Große Hoffnungen ruhen auf der norwegischen Fosen Werft als Hauptinvestor, der die Schiffsbau-Tradition hochhalten soll. Deren Stralsunder Tochter setzt dort das Segelschulschiff "Gorch Fock I" instand und sorgt so für dringend benötigte Beschäftigung. Die Hansestadt hat das Schiff im Februar 2023 gekauft. Der Dreimaster soll als Kulturerbe und Denkmal bewahrt werden. Anders als früher ist das Fotografieren dann erlaubt.