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Guillaume-Affäre: DDR-Spion bringt Willy Brandt zu Fall

Stand: 08.08.2024 10:30 Uhr

Am 24. April 1974 wird Willy Brandts persönlicher Referent Günter Guillaume verhaftet. Er ist als DDR-Spion enttarnt worden. Der folgenden Medienkampagne ist der Kanzler nicht gewachsen. Er tritt am 6. Mai desselben Jahres zurück.

von Dirk Hempel

Als Willy Brandt am Mittag des 24. April 1974 von einem Staatsbesuch in Kairo zurückkehrt, erwartet ihn Innenminister Hans-Dietrich Genscher bereits am Flughafen. Kanzlerreferent Günter Guillaume ist als Spion verhaftet worden. Um 6.32 Uhr sind Beamte des Bundeskriminalamts in dessen Haus in Bad Godesberg eingedrungen, mit vorgehaltenen Maschinenpistolen. Bei seiner Festnahme hat Guillaume feierlich erklärt: "Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren."

Einer der bedeutendsten Spionage-Skandale der Bundesrepublik nimmt seinen Lauf. Willy Brandt erkennt die Dimensionen zu spät. Zwei Wochen später wird er als Bundeskanzler zurücktreten.

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Günter Guillaume sitzt hinter Willy Brandt im Jahr 1974 © Imago Foto: Rust

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Die Stasi schickt Günter Guillaume in den Westen

Günter Guillaume, ehemaliger Redakteur des Verlags "Volk und Wissen", und seine Frau Christel, die später wieder ihren Mädchennamen Boom annimmt, kommen im Mai 1956 nach Westdeutschland. Als Flüchtlinge, wie sie behaupten. Tatsächlich aber hat sie die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geschickt. Nach einer Zwischenstation im Notaufnahmelager Gießen lassen sie sich in Frankfurt am Main nieder. Das SED-Mitglied Guillaume eröffnet ein Schreib- und Kopierbüro, dann auf Befehl des MfS eine Kaffeestube. Er soll die SPD ausspähen, sucht Kontakt zu Genossen und liefert schon bald Berichte, die für die DDR-Sicherheitspolitik ergiebig sind.

Guillaume macht Karriere in der SPD

Er tritt in die SPD ein, macht in Frankfurt eine kleine Partei-Karriere, steigt vom stellvertretenden Ortsvereinsvorsitzenden zum Unterbezirkssekretär auf, wird Geschäftsführer der Frankfurter SPD-Stadtratsfraktion. Seine Frau arbeitet als Sekretärin im Parteibüro Hessen-Süd.

Dann ernennt ihn Georg Leber, SPD-Bundesverkehrsminister im Kabinett der Großen Koalition, zum Wahlkampf-Manager. Dessen Berichte aus der Kiesinger/Brandt-Regierung meldet Guillaume nach Ost-Berlin, über Funk und tote Briefkästen. Für die Stasi ist er bald unentbehrlich. Spionagechef Markus Wolf gibt ihm dem Rat: "Niemanden drängen, alles auf sich zukommen lassen."

Günter Guillaume - Der Spion im Kanzleramt

Bundeskanzler Willy Brandt (l.) und sein Referent Günter Guillaume 1973 beim SPD-Bundesparteitag in Hannover. © picture-alliance Foto: Sven Simon
1970 gelingt Guillaume (r.) der Schritt ins Zentrum der Macht. Er wird Referent im Kanzleramt.

Und die Gelegenheit kommt. Nach Brandts Wahlsieg 1969 und der Bildung einer sozial-liberalen Koalition mit der FDP empfiehlt ihn ein Parteifreund dem Personalchef des Kanzleramts. Der sucht angesichts zahlreicher konservativer Mitarbeiter im Palais Schaumburg, nach 20 Jahren CDU-Regierung, loyale Mitstreiter für den neuen Kanzler. Der 42-jährige Guillaume wird als Referent in der Abteilung für Wirtschaftspolitik angestellt. Die DDR hat nun einen Spion im Zentrum der Macht.

Brandt und sein engster Mitarbeiter Egon Bahr gelten zwar als Garanten einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik. Sie setzen gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts auf Entspannung, auf "Wandel durch Annäherung". Tatsächlich werden sie in den kommenden Jahren auch Transit- und Verkehrsabkommen mit der DDR aushandeln, einen Grundlagenvertrag schließen, der die Beziehungen der beiden deutschen Staaten regeln soll.

Auch wird die DDR im April 1972 das konstruktive Misstrauensvotum gegen Brandt durch Stimmenkauf verhindern. Dennoch bleibt Brandt ein Regierungschef des "imperialistischen Auslands", wie der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker die Bundesrepublik nennt. Und während die DDR mit der SPD-Regierung verhandelt, bekämpft sie Reformforderungen im Land als "Sozialdemokratismus". Ein Spion im Kanzleramt kommt der Stasi da gerade recht.

Die Sicherheitsdienste versagen

Aber Guillaume schafft es nur an die Spitze, weil die westdeutschen Sicherheitsdienste versagen. Weder dem Sicherheitsreferenten des Kanzleramts noch den Verfassungsschutzbeamten, die Guillaumes Einstellungspapiere prüfen, fallen die Ungereimtheiten in seiner Fluchtgeschichte auf. Erst als Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesnachrichtendienst (BND) Verdachtsmomente gegen Guillaume finden, die vage auf eine frühere Agententätigkeit deuten, lässt der Sicherheitsreferent das Einstellungsverfahren vorläufig anhalten und informiert den Kanzleramtsminister Horst Ehmke.

Gespräch bei Horst Ehmke

Anfang Januar 1970 bestellt er Guillaume zum Gespräch. Als dieser die Vorwürfe abstreitet, reicht Ehmke die Einstellungspapiere an den Verfassungsschutz weiter. Dort versäumt man allerdings, die Abteilung für Spionageabwehr einzuschalten. So erfahren die prüfenden Beamten nicht, was die Abwehr schon seit Jahren weiß: Guillaumes einstiger DDR-Arbeitgeber, der Verlag "Volk und Wissen", gilt als Anwerbestelle für Agenten. Und seit Ende der 50er-Jahre fahndet die Abwehr nach einem Spion "G", der in der Bundesrepublik die SPD ausspäht.

Guillaume bekommt Einblick in Brandts Privatleben

So kommen die Verfassungsschützer zu dem abschließenden Urteil, es gebe keine Erkenntnisse, die gegen eine Einstellung und gegen den Umgang mit Geheimakten sprächen. Nachdem auch Georg Leber für seinen ehemaligen Wahlkampforganisator "die Hand ins Feuer" legt, wird Guillaume Ende Januar eingestellt. Er hat Verbindungen zu Unternehmerverbänden und Gewerkschaften zu halten, später Kontakte zu Parlament, Parteien, Kirchen und Verbänden. Er macht auch hier Karriere, wird im Dezember 1972, nach Brandts gewonnener Wiederwahl, dessen Referent für Parteifragen. Arbeitet jetzt eng mit dem Kanzler zusammen, unterstützt ihn bei Gesprächen im Amt, auf Sitzungen des SPD-Vorstandes, der Fraktion. Und erhält Einblicke in Brandts Privatleben.

Nixon-Brief im Norwegen-Urlaub

Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) mit seinem zwölfjährigen Sohn Mathias vor seinem Ferienhaus in Hamar (Norwegen) im Juli 1973. © picture-alliance / dpa Foto: NTB
Als Brandt im Sommer 1973 Urlaub in Norwegen macht, weiß er bereits von dem Verdacht gegen Guillaume.

Im Sommer 1973 begleitet er die Familie des Kanzlers in den vierwöchigen Norwegen-Urlaub. Das Blockhaus liegt mitten im Wald. Brandt angelt, sammelt Pilze. Die Fernschreibzentrale ist in einiger Entfernung in einer Jugendherberge untergebracht, von wo Guillaume die entschlüsselten Meldungen abholt und dem Kanzler bringt. Kopien verbirgt er in seinem Wäscheschrank. Hier bekommt er das wohl bedeutendste Geheimdokument seiner Agententätigkeit in die Hände, ein Schreiben des US-Präsidenten Richard Nixon an den Kanzler.

Dem Verdacht folgt die Enttarnung Guillaumes

Ausgerechnet die in der Fernschreibzentrale beschäftigten BND-Beamten händigen es ihm aus, loben hinterher in einem Bericht die gute Zusammenarbeit mit dem Parteireferenten. Sie wissen nichts von Guillaumes Doppelleben. Aber der Kanzler ahnt es längst. Sein angeblich so loyaler Referent steht vermutlich im Sold der Staatssicherheit der DDR. Durch einen Zufall ist er einige Monate zuvor unter Verdacht geraten. Im März 1973 ist sein Name mehrfach in Zusammenhang mit verhafteten DDR-Spionen aufgetaucht. Vielleicht ist Guillaume doch "ein krummer Hund", wie ein aufmerksamer Verfassungsschützer nun mutmaßt, gar der seit Jahren gesuchte "G", der auf die SPD angesetzt ist?

Den aufkeimenden Verdacht bestätigt die Stasi selbst, durch eine Unvorsichtigkeit: Jahre zuvor hat sie jeweils am 1. Februar verschlüsselte Geburtstagsglückwünsche an "G." geschickt. Was die Agenten nicht ahnen: Die westdeutsche Spionageabwehr hat den Zahlencode geknackt und die Nachrichten archiviert. Als die Verfassungsschützer die Akte Guillaume nun noch einmal prüfen, fällt ihr Blick als erstes auf das Geburtsdatum: Es ist der 1. Februar 1927. Nach weiteren Ermittlungen scheint im Mai 1973 festzustehen: "Guillaume ist ein Agent."

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Ein Mann im Anzug zielt mit einer Pistole © picture alliance Foto: Bert Reisfeld

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Willy Brandt als Lockvogel

Nun informiert der Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau seinen Dienstherrn, den Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Der unterrichtet den Bundeskanzler am Abend des 29. Mai 1973 am Rand eines Koalitionsessens, schwächt den Verdacht jedoch offenbar ab und gibt Nollaus Rat weiter: Der Regierungschef solle sich nichts anmerken lassen und Guillaume auf seinem Posten halten. Weil die Beweise nicht ausreichen, wird der Bundeskanzler zum Lockvogel der Spionageabwehr. Auch im Norwegen-Urlaub im Sommer muss er dann diese Rolle spielen, selbst wenn dort, wie später im Kanzleramt, auf eine Überwachung des Referenten verzichtet wird. Brandt soll nicht selbst ins Visier des Verfassungsschutzes geraten.

Beobachtung nur nach Dienstschluss

Deshalb wird Guillaume in Bonn auch nur nach Dienstschluss beobachtet. So ziehen sich die Ermittlungen noch weitere acht Monate hin. Erst am 1. März 1974 legt der Verfassungsschutz einen Abschlussbericht vor, überzeugt jedoch weder den Kanzler völlig von der Schuld seines Mitarbeiters noch den Generalbundesanwalt. Der stellt erst sechs Wochen später einen Haftbefehl aus, als eine Flucht des mutmaßlichen Spions befürchtet wird. Dass sich Guillaume bei seiner Verhaftung sofort als Stasi-Agent zu erkennen gibt, beseitigt endlich die letzten Zweifel der Ermittler. Das Beweismaterial allein hätte für einen Prozess noch immer nicht ausgereicht.

Enthüllungen über Brandt

Die Empörung in der Öffentlichkeit ist groß. 18 Jahre haben Guillaume und seine Frau unerkannt für die DDR spioniert. Brandt verkennt allerdings zunächst den Ernst der Lage, verfolgt weiter seine üblichen Termine: Eröffnung der Hannover-Messe, Geburtstagsgrüße für Altkanzler Kiesinger. Die Oppositionsparteien versuchen nun auch, die Ostverträge mit Guillaume in Verbindung zu bringen. Und der Skandal ist perfekt, als die Zeitungen Enthüllungen über Brandts Privatleben veröffentlichen. Legendenbildung setzt ein, über Liebesaffären und Alkoholkonsum. Guillaume, so heißt es, habe Brandt Frauen "zugeführt".

Ermittlungsbeamte sammeln nun auch Informationen über Brandt. Denn Verfassungsschützer Nollau und BKA-Präsident Horst Herold befürchten, Guillaumes Wissen könne die Bundesrepublik durch die DDR erpressbar machen. Brandt ist deprimiert, leidet an Zahnschmerzen. Für die niedersächsische SPD muss er in diesen Tagen in den Wahlkampf ziehen. An einem eisigen Frühlingstag besucht er Helgoland, wo die Genossen endlich einmal mit dem Kanzler diskutieren und feiern wollen.

Guillaume-Affäre führt zum Rücktritt Willy Brandts

In Bonn drängt Nollau anscheinend auf den Rücktritt des Regierungschefs. Herbert Wehner, SPD-Fraktionsvorsitzender und Nollau verbunden, soll ihn organisieren. Die FDP aber steht zu Brandt. "Das reiten wir auf einer Backe ab", versichert deren Vorsitzender Walter Scheel dem Kanzler. Doch plötzlich geht alles sehr schnell.

Willy Brandt nach seinem Rücktritt 1974 © imago Foto: Sven Simon
Willy Brandt übernimmt die Verantwortung für den Fall Guillaume und gibt im Mai 1974 seinen Rücktritt bekannt.

Seit dem 4. Mai beraten SPD-Spitze und Gewerkschaften in der Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel über Wirtschaftsfragen. Brandt und Wehner führen dort ein intensives Gespräch unter vier Augen. Am Abend des 6. Mai 1974 tritt Brandt als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zurück. Wegen "Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume", wie er dem Bundespräsidenten schreibt.

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Helmut Schmidt wird Bundeskanzler

Zehn Tage später wählt der Bundestag Helmut Schmidt als Nachfolger zum Regierungschef. Im Juni setzt das Parlament einen Untersuchungsausschuss der Affäre ein. Günter und Christel Guillaume werden wegen schweren Landesverrats im Dezember 1975 zu hohen Haftstrafen verurteilt, im Rahmen eines Agentenaustauschs sechs Jahre später in die DDR abgeschoben. Das MfS befördert seine verdienten Offiziere und zeichnet sie mit Orden aus.

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Brandts wahre Gründe für seinen Rücktritt bleibeb ungeklärt. War es die fehlende Unterstützung der SPD-Führungsriege um Wehner und Schmidt? Oder waren es gesundheitliche Probleme, Depressionen, die Brandt den Mut zum Kampf gegen die Medienkampagne raubten? Er wird später behaupten, den letzten Ausschlag habe eine Äußerung seiner Frau gegeben, einer müsse schließlich die Verantwortung übernehmen.

Dieses Thema im Programm:

Doku & Reportage | 24.04.2024 | 16:00 Uhr

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