Stand: 07.05.2020 06:25 Uhr

Stunde Null? Der deutsche Film nach 1945

Das Kino gehörte zu den wichtigsten Propagandainstrumenten des Nationalsozialismus - man denke an den 1942 entstandenen Film "Die große Liebe“ mit Zara Leander, in dem das Liebespaar am Ende hoffnungsvoll auf ein deutsches Bombergeschwarder am Himmel blickt. Die Stunde Null kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche. Wie zeichnet sich dieser Umbruch im deutschen Kino ab? Filmkritikerin Katja Nicodemus taucht im Interview in die deutsche Filmgeschichte ein.

Katja Nicodemus, gab es einen Bruch, einen Neuanfang, eine Stunde Null des deutschen Kinos?

Filmszene "A Foreign Affair" © picture alliance Foto: picture alliance / United Archives
"A Foreign Affair" (in Deutschland unter dem Namen "Eine auswärtige Affäre" erschienen) wurde 1949 zweifach für einen Oscar nominiert.

Katja Nicodemus: Es gab insofern eine Zäsur als gewissen Protagonisten der Nazifilm-Maschinerie zunächst von den Alliierten die Berufsausübung untersagt wurde. Dazu gehörte zum Beispiel auch Alfred Bauer, der in der Reichsfilmintendanz tätig war, der aber 1951 erster Leiter der Berliner Filmfestspiele wurde. Also soviel zur Effizienz der Entnazifizierungskommitees. Und selbst die Propagandafilmemacherin Leni Riefenstahl wurde nur als Mitläuferin eingestuft. Oder auch Veit Harlan, Regisseur des 1940 entstandenen Propagandafilms "Jud Süß“ kam nahezu ungeschoren davon. Und natürlich war nun auch ein großes Vakuum zu spüren, die Tatsache nämlich, dass die Nazis jüdische und antifaschistische Filmschaffende ermordet oder ins Exil getrieben hatten. Nach Kriegsende war spürbar, dass eine künstlerische Linie und Tradition abgebrochen war. Also Fritz Lang, Erich Pommer, Marlene Dietrich, Billie Wilder, Ernst Lubitsch waren nicht mehr da.

Welche Filme entstanden dann in dieser Zeit?

Nicodemus: Billie Wilder drehte 1947 mit Marlene Dietrich in Berlin den Film "A Foreign Affair“ - eine Mischung aus Millitärkomödie und Nachtclubfilm. Dietrich und Wilder kehrten damals als Exilanten nach Berlin zurück. Und dieser Film vermittelt ein authentisch wirkendes Bild der Lage in der Hauptstadt mit Schwarzmarkt, Korruption und Prostituition. Die von Wilder zuvor gefilmten Trümmerlandschaften sind darin zu sehen. "Eine auswärtige Affäre“ ist übrigens der deutsche Titel.

Gibt es einen weiteren Film, der zur Stunde Null Erwähnung finden sollte?

Ein weiterer wichtiger Film dieser Zeit ist "Deutschland im Jahre Null" von Roberto Rossellini. Dieser Film wurde 1947 auf Deutsch und mit deutschen Darstellerinnen und Darstellerin gedreht. Es geht um den kleinen Jungen Edmund Meschke, der sich in Berlin durchschlägt. Der Film macht deutlich, wie sehr der Nationalsozialismus noch in den deutschen Köpfen verankert gewesen ist. Dieser kleine Junge vergiftet seinen kranken Vater, weil ihm eingeredet wird, der sei schwach und nicht wert zu leben. Dieser Film ist ein eindrückliches Dokument der Stunde Null. Er beginnt auch mit einem ganz langen Schwenk über die zerstörte Hauptstadt, der dann am Reichstag endet.

Sie haben Billie Wilder und Roberto Rossellini erwähnt. Welche deutschen Regisseure wären zu erwähnen in Zusammenhang mit der Stunde Null?

Nicodemus: Wolfgang Staudtes Film "Die Mörder sind unter uns" mit der jungen Hildegard Knef erzählt die Geschichte einer KZ-Überlebenden und eines traumatisierten Kriegsheimkehrers, die notgedrungen in einer Unterkunft in der zerstörten Hauptstadt zusammenleben müssen. Es ist ein ganz düsterer, komplexer Film im apokalyptischen Berlin. Mit diesem Film erschien kurz die Idee eines deutschen Neo-Realismus am Horizont. Da gehörten noch einige andere Filme dazu: "Irgendwo in Berlin“ von Gerd Lamprecht und "Liebe 47" von Wolfgang Liebeneiner. Und dann kam aber das Wirtschaftswunder und setzte auf Heimatidyll, auf Verdrängung und auf Unterhaltung. Nun wollte niemand mehr realistische Filme sehen oder Filme, die gar von Schuld und deren Verdrängung handeln.

Würden Sie sagen, dass die Stunde Null des deutschen Kinos unter Bildern des Heimatfilms verschwand?

Die Ehe der Maria Braun © dpa - Bildfunk Foto: Istvan Bajzat
Hanna Schygulla als Maria Braun in "Die Ehe der Maria Braun".

Nicodemus: Auf jeden Fall! Und man kann auch noch sagen, dass es deshalb zu einer zweiten Stunde Null kam, und kommen musste. Im Zuge der 1968er-Bewegung kam es auch zu einer Gegenbewegung durch den neuen deutschen Film. Edgar Reitz’ Film "Stunde Null" von 1977 zum Beispiel beschreibt das anarchische, auch utopische Vakuum der letzten Kriegstage in einem stillgelegten Leipziger Bahnhof. Reiner Werner Fassbinder erzählt 1978 in "Die Ehe der Maria Braun" mit Hanna Schygulla von einer jungen Frau, die nach Kriegsende ihr Schicksal in die Hand nimmt und Geschäftsfrau wird. "Die Ehe der Maria Braun" zeigt den vertanen Neuanfang der Bundesrepublik. Der neue deutsche Film war in den beginnenden 1970er-Jahren so etwas wie die Stunde Null des deutschen Kinos - reloaded.

Wie verlief das deutsche Nachkriegskino im Osten?

Nicodemus: Im Mai 1946 wurde in Babelsberg die DEFA (Die Deutsche Film-AG) gegründet. Mit diesem Unternehmen begann der Einfluss der SED auf die ostdeutsche Filmproduktion. Und unter den DDR-Filmen, die auf die Stunde Null, also wirklich auf die unmittelbare Nachkriegszeit blickten, ist "Ich war 19“ einer der bedeutendsten Filme, 1968 von Konrad Wolf gedreht. Das ist ein Film über einen jungen Deutschen, dessen Eltern vor den Nazis nach Moskau geflüchtet waren und der als Leutnant der Roten Armee zurückkehrt. Das ist ein ganz ergreifender, subtiler Film, der einen ungemein präzisen Blick auf seine Figuren wirft. Und das ist auch ein großes Stimmungsbild des zerstörten Deutschlands - letztlich ein Road Movie der letzten Kriegstage. 

Das Interview führte Raliza Nikolov

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 08.05.2020 | 16:20 Uhr

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