Stand: 07.05.2020 10:17 Uhr

Stunde Null in der klassischen Musik

Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vom Nationalsozialismus befreit. Das Ende des Hitler-Regimes eröffnet die Möglichkeit zu einem Neuanfang, auch in der Kultur. Wie die Stunde Null damals in der Neuen Musik geklungen hat, daran erinnert Marcus Stäbler.

Karlheinz Stockhausen bei Versuchen im Studio fuer Elektronische Musik des WDR in Köln.  Foto, um 1960. © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images
Karlheinz Stockhausen bei Versuchen im Studio für Elektronische Musik des WDR in Köln um 1960.

Wie viele Diktatoren, hat auch Adolf Hitler die Musik gern zu Inszenierung von Macht genutzt und missbraucht. Das gilt vor allem für die groß besetzten Werke der Romantik. Deren Bombast war vielen Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg suspekt oder zuwider. Aus guten Gründen wollte man nicht mehr überwältigt werden. Auch deshalb schlugen die Komponisten der Nachkriegsavantgarde einen radikal anderen Ton an.

Die Kranichsteiner Ferienkurse machten Darmstadt zu einem Zentrum der Neuen Musik, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und darüber hinaus. Nachdem zunächst noch die Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit und dem Schaffen von Schönberg, Webern, Strawinsky und Hindemith im Zentrum stand, entwickelte sich in Darmstadt bald eine eigene Sprache mit eigenen Regeln.

Neue Sprache, neue Eigenschaften

Theodor W. Adorno © picture-alliance / akg-images
Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 geboren, ein gutes Vierteljahrzehnt vor Karheinz Stockhausen.

Diese neue Sprache war selbst den Vertretern der klassischen Moderne fremd. Nach der Aufführung einer Sonate des belgischen Komponisten Karel Goeyvaerts für zwei Klaviere fragte der Schönberg-Schüler Theodor W. Adorno den jungen Kollegen nach dem zweiten Teil des Themas. Daraufhin antwortete ihm der damals 22-jährige Karlheinz Stockhausen, der das neue Stück am zweiten Klavier mit aufgeführt hatte: Herr Professor, Sie suchen ein Huhn auf einem abstrakten Bild!

Ein entscheidender Moment der Damstädter Ferienkurse war die Aufführung von Olivier Messiaens Klavieretüde "Mode de valeurs et d'intensité" im Jahr 1952: ein Stück, in dem die Töne an feste Eigenschaften gekoppelt sind. Jeder Ton erklingt immer, wenn er wieder auftaucht, mit derselben Lautstärke und derselben Anschlagsart.

Mathematik als strenge Basis

Die Begegnung mit Messiaens Stück elektrisierte die einflussreichen Komponisten der jungen Generation - darunter Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono. Sie waren nicht nur von der Klangwelt, sondern auch von den Gedanken Messiaens gebannt. Hatte er doch alle Töne einer strengen mathematischen Organisation unterworfen.

Fasziniert von Messiaens durchkalkulierter Tonsprache in diesem Stück, gingen Stockhausen und Co. noch einen Schritt weiter. Sie entwarfen die Idee einer Musik, deren Eigenschaften komplett von Zahlrenreihen bestimmt werden: die so genannte serielle, oder auch punktuelle Musik. Punktuell deshalb, weil das Ausrechnen der Klänge dazu führt, dass die Töne wie einzelne Punkte wirken, die beim Hören kaum einen Zusammenhang erkennen lassen.

Die serielle Art der Komposition war nicht der einzige, aber ein sehr einflussreicher Weg. Mit diesem abstrakten, von emotionalen Botschaften weitgehend bereinigten Stil hatte sich die Nachkriegsavantgarde denkbar weit von der Überwältigungsästhetik der Romantik entfernt. Ein echter Neustart. Aber die Befreiung vom Ballast der Tradition trug mitunter dogmatische Züge - und grenzte viele jener Komponisten aus, deren Karriere durch die Nazizeit unterbrochen oder vernichtet worden war. Wer die Vorstellungen der Avantgarde nicht teilte, galt schnell als überholt.

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NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 08.05.2020 | 14:20 Uhr

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