Gekommen - und geblieben: Die "Gastarbeiter"
Als die westdeutsche Wirtschaft Mitte des 20. Jahrhunderts boomt, fehlen Arbeitskräfte. Auf das erste Anwerbeabkommen mit Italien 1955 folgen weitere in den 60ern, darunter 1961 das mit der Türkei. Anders als geplant, bleiben viele nicht nur für ein paar Jahre.
"In Deutschland bin ich der Ausländer, in Italien bin ich der Deutsche." So beschreibt Calogero Ciulla seine Lebensrealität. Seit mehr als 50 Jahren lebt der gebürtige Sizilianer in Deutschland. Er ist mir einer deutschen Frau verheiratet und hat mit ihr zwei Kinder, er hat sein Leben lang in Lübeck gearbeitet und sich dort ein Haus gebaut, er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. "Ich esse deutsch, ich denke deutsch, ich handle deutsch, ich träume deutsch", sagt er von sich. Aber immer und immer wieder hat er erfahren, dass seine Umgebung ihn anders behandelt hat als in Deutschland Geborene.
Als 17-Jähriger von Sizilien nach Norddeutschland
Calogero Ciulla kommt 1969 als 17-Jähriger nach Deutschland. So will er dem Militärdienst auf einem U-Boot entgehen, zu dem er ungeachtet seiner Platzangst eingezogen werden sollte. Die meisten anderen, die sich zusammen mit ihm zur Arbeit in Deutschland verpflichten, gehen in den Norden, weil sie zu Hause arbeitslos sind oder nicht genug Geld verdienen, um ihre Familie ernähren zu können.
Erhards Perspektive: Aus Arbeitern sollen Fachkräfte werden
Im Dezember 1955 hatte die Bundesrepublik mit Italien das erste Abkommen zur Anwerbung von Arbeitnehmern geschlossen. In den 60er-Jahren nun folgen Abkommen mit vielen weiteren, vor allem südeuropäischen Ländern, 1961 auch das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Der andauernde Wirtschaftsboom schafft immer mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Gleichzeitig aber verlängern sich die Ausbildungszeiten, die Menschen können früher in Rente gehen, und die geburtenschwächeren Kriegsjahrgänge treten in den Arbeitsmarkt ein. Deshalb wirbt die Bundesregierung um Arbeitskräfte im Ausland. Zunächst werden Saisonarbeiter für die Landwirtschaft gesucht, aber Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) hat bereits die Perspektive im Blick, die ungelernten Arbeitskräfte umzuschulen zu den Fachkräften, die die deutsche Industrie benötigt.
Anwerbeabkommen: Voraussetzungen? Hauptsache gesund
Calogero Ciulla besteht die Gesundheitsprüfung der deutschen Anwerbestelle in Verona. Es ist die einzige Voraussetzung, die er für eine Arbeitserlaubnis in Deutschland erfüllen muss. Da er vom Meer kommt, wünscht er sich, auch in Deutschland in einer Stadt am Meer zu leben - und bekommt einen Arbeitsplatz bei den Dräger-Werken in Lübeck zugewiesen. Er fängt als Hilfsarbeiter an. "Ich habe immer gesagt: die schweren, die dreckigen und die Arbeiten, die die anderen nicht machen wollten", dafür seien er uns seine italienischen Kollegen zuständig gewesen.
Kulturen prallen im Alltag aufeinander
In einer Zeit ohne Internet, in der die Fernseh-Ära gerade erst begonnen hat und es noch keinen Massentourismus gibt, gibt es eine Menge kultureller Missverständnisse zwischen Italienern und Deutschen. Ciulla erinnert sich, dass er über die bunt gekleideten Frauen in Lübeck staunte, während die Frauen in Sizilien Schwarz trugen, sobald ein Familienmitglied gestorben war. "Ich war begeistert", sagt er - denn er dachte sich: "Die Männer leben hier länger." Umgekehrt stellt ein Arbeitgeber in einem Filmbericht aus jener Zeit erstaunt fest, dass italienische Gastarbeiter bei der Arbeit singen. Das, so der Mann, sei in Deutschland nicht üblich, denn "man nimmt an, man kann nicht gleichzeitig singen und arbeiten. Aber der Italiener, der bringt das fertig."
Begriff "Gastarbeiter" impliziert den Deal auf Zeit
Allerdings bleibt es nicht bei solch harmlosen Missverständnissen. Calogero Ciulla begegnet Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit. Die Deutschen nennen die ausländischen Arbeitnehmer damals "Gastarbeiter", weil der Begriff "Fremdarbeiter" durch die Zwangsverpflichtung von Ausländern im Nationalsozialismus historisch belastet ist. Der Begriff impliziert, dass die Arbeitskräfte nur für eine befristete Zeit kommen sollen. Mit "Gastfreundschaft" hingegen werden die Ausländer meist nicht empfangen. "Manche Leute haben uns nett behandelt, aber das waren die wenigsten", sagt Ciulla.
"Für Hunde und Italiener ist der Zutritt verboten"
An seiner Arbeitsstelle wird der junge Mann aus Italien gemobbt. "Wenn ich morgens zur Arbeit gegangen bin, habe ich gezittert am ganzen Körper." Sein Freund wird auf der Straße von einem Fremden so niedergeschlagen, dass er seine Zähne verliert - nur weil er dessen Frage verneint, ob er ein Deutscher sei. "Wir mussten jedes Mal aufpassen, mit wem wir geredet haben." Auch dürfen die Italiener nicht in Tanzlokale gehen. "Bei manchen Diskotheken stand tatsächlich: 'Für Hunde und Italiener ist der Zutritt verboten'", erzählt er. Auch solche Erfahrungen führen dazu, dass die ausländischen Arbeitskräfte in einer Parallelgesellschaft leben.
Die Liebe hilft, aber: "Schade, dass du kein Deutscher bist"
Aber Calogero Ciulla lernt über seinen ebenfalls in Norddeutschland lebenden Cousin eine junge Frau kennen, in die er sich verliebt - und mit der er bis heute verheiratet ist. Sie hilft ihm, Deutsch zu lernen, denn Sprachkurse für die Ausländer gibt es nicht. Durch seine Schwiegereltern lernt er deutsche Sitten und Gebräuche. Er besucht die Abendschule und besteht 1973 die Facharbeiterprüfung. Er bemüht sich, sich anzupassen. "Man wollte, dass wir keine Spaghetti mehr essen. Pizza war das Teufelszeug, die 'Mafiatorte' - um Gottes Willen, bloß keine Pizza." Aber so sehr er sich bemüht, wie ein Deutscher in Deutschland zu leben: Immer wieder wird er mit Vorurteilen konfrontiert. Am schmerzhaftesten ist diese Erfahrung für ihn in der eigenen Familie. So erinnert er sich, dass sein Schwiegervater noch auf dem Sterbebett zu ihm sagte: "Du bist so ein guter Kerl, aber schade, dass du kein Deutscher bist."
Fragen von Identität und Zugehörigkeit bleiben
Das Zusammenleben in der Europäischen Union hat vieles verändert. Ciulla hat 2016 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. "Ich bin stolz, ein Italiener, mehr noch, ein Sizilianer zu sein. Aber ich bin auch stolz, in Deutschland zu leben und Deutscher zu sein." Aber er bekommt es schwer in eins. Er frage sich, ob er ein Italiener sei, der schon lange Zeit in Deutschland ist - oder ein Deutscher, der ab und zu italienisch spricht, sagt er. Und, dass das nicht nur ihn betreffe, sondern offenbar das Schicksal der "Gastarbeiter" sei: "Viele Italiener aus der damaligen Zeit haben das gleiche Denken wie ich: Wer sind wir?"