Innenaufnahme der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Rostock, Aufnahme von 2018. © picture alliance / dpa Foto: Bernd Wüstneck
Innenaufnahme der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Rostock, Aufnahme von 2018. © picture alliance / dpa Foto: Bernd Wüstneck
Innenaufnahme der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Rostock, Aufnahme von 2018. © picture alliance / dpa Foto: Bernd Wüstneck
AUDIO: Die 60er: Flucht und Menschenhandel (2/14) (35 Min)

Sturmflut 1962: DDR-Flucht endet im Stasi-Gefängnis

Stand: 16.02.2022 05:00 Uhr

Februar 1962: Ingeborg Kahl will mit ihren Kindern aus der DDR flüchten. Doch wegen der Sturmflut stoppt ihr Zug - und die Grenzpolizei hat Zeit, die gefälschten Pässe zu prüfen. Der Plan vom Leben in der Bundesrepublik endet vorerst im Stasi-Gefängnis.

von Ulrike Bosse, NDR Info

Wegen des starken Sturms über der Ostsee vom 16. auf den 17. Februar 1962 kann der Zug von Warnemünde nach Dänemark an diesem Tag nicht weiterfahren. Die DDR-Grenzer haben sehr viel Zeit, die Reisenden zu überprüfen. Sie entdecken, dass eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern mit einem gefälschten Pass unterwegs ist. Es folgt eine "typische" DDR-Geschichte: Der Fluchtversuch scheitert, die junge Frau landet im Gefängnis, sie wird von ihren Kindern getrennt - und schließlich von der Bundesrepublik freigekauft.

Sturmflut 1962 führt zu katastrophalen Wende

Ingeborg Kahl © NDR Foto: Katharina Kaufmann
Ingeborg Kahl ist sich sicher, dass die Verhältnisse während der Sturmflut dafür sorgten, dass ihr Fluchtversuch aus der DDR scheiterte.

"Man weiß nicht, woran es lag, es geht aus den Akten nicht hervor", sagt Ingeborg Kahl, während ihre Stasi-Akte vor ihr auf dem Tisch liegt. Aber sie ist sich sicher: Der Sturm, der zur schlimmsten Sturmflut in der Geschichte Hamburgs führte, hat auch ihrem Leben eine katastrophale Wende gebracht. Die Grenzer hätten einfach zu viel Zeit für die Passkontrolle gehabt. Warum sonst hätte die Flucht mit den gefälschten Papieren, die Tausenden gelang, ausgerechnet in ihrem Fall scheitern sollen?

Ingeborg Kahl lebt Anfang der 60er-Jahre mit ihrem Mann in Ostberlin. Sie sind ursprünglich keine Gegner der DDR, aber ab Ende der 50er-Jahre tun sie sich zunehmend schwerer mit dem SED-Regime. Unmittelbar nach dem Mauerbau flieht ihr Mann nach Westberlin - sie selbst ist schwanger und möchte auch ihr zweites Kind noch in der vertrauten Umgebung zur Welt bringen. Danach schickt er ihr Fluchthelfer, um sie nachzuholen.

Fluchthelfer besorgen gefälschte Pässe

"Es waren Studenten aus Hamburg und Lübeck. Die kamen ganz legal über die Ostgrenze und dann zu mir in die Wohnung", erinnert sich Ingeborg Kahl. Später gab es professionelle Fluchthelfer, gerade in der Anfangszeit waren aber viele Idealisten dabei. Fluchthelfer gruben Tunnel von West nach Ost, sie präparierten Autos oder organisierten Boote. Ein in Tausenden von Fällen erfolgreiches Mittel zur Flucht aus der DDR waren gefälschte Pässe. Auf diese Weise sollte auch für Ingeborg Kahl und ihre beiden Kinder eine Ausreisemöglichkeit geschaffen werden.

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An einem Grenzübergang sind ein Minenwarnschild, sowie zwei Maschinengewehre befestigt. © NDR Foto: Hermann Pröhl

Flucht aus der DDR: Geschichten von Risiko und Freiheit

Nach dem Mauerbau war die sogenannte Republikflucht nur noch unter großen Gefahren möglich. Viele haben es dennoch gewagt. mehr

Stasi hatte ihre Spitzel auch in Fluchthelfer-Gruppen

Wenn Fluchtversuche scheiterten, habe es oft daran gelegen, dass sie durch Spitzel der DDR-Staatssicherheit aufflogen, die es auch in den Fluchthelfer-Gruppen gab, beschreibt der ehemalige Fluchthelfer Burkhardt Veigel das Risiko, das auch durch Sorgfalt und Vorsicht nicht ausgeschlossen werden konnte. Oder es gab unglückliche Zufälle, wie Ingeborg Kahl sie in ihrer Biografie vermutet. Sie wurde im Zug festgenommen, kam in Untersuchungshaft. "Dann wurde ich in eine Zelle gesperrt und mir wurden meine Kinder weggenommen. Mein Sohn war in der Tragetasche, ein paar Wochen alt."

Kinder von "Republikflüchtigen" teils zwangsadoptiert

Wer die DDR ohne behördliche Genehmigung verließ, beging aus Sicht der SED-Führung "Republikflucht". Der Paragraph 8 des Passgesetzes der DDR legte fest, dass dies mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden konnte - die Höchststrafe wurde später weiter hochgesetzt. Eltern, die ins Gefängnis kamen, wurden von ihren Kindern getrennt. Vor allem ab den 70er-Jahren konnte es allerdings sein, dass sie diese auch nach ihrer Haftentlassung nicht mehr wiedersahen, weil sie mittlerweile zur Zwangsadoption zu linientreuen Paaren gegeben worden waren. In Ingeborg Kahls Fall durften sich die Großeltern um die Kinder kümmern: Das zweijährige Mädchen nahmen die Schwiegereltern zu sich, das Baby kam zu ihren Eltern.

"In der Einzelzelle bin ich fast verrückt geworden"

Blick durch die Essensluke in eine Einzelzelle in der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, einem ehemaligen Stasi-Gefängnis. Aufnahme von 2018. © picture alliance / Bildagentur-online/Joko Foto: Bildagentur-online/Joko
In Berlin-Hohenschönhausen befand sich die zentrale Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Seit 1994 erinnert dort eine Gedenkstätte an die politisch Verfolgten in der DDR.

Für Ingeborg Kahl begann nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch eine Tour durch verschiedene Haftanstalten. Von Rostock über Berlin-Hohenschönhausen ins Gefängnis "Roter Ochse" in Halle. "In der Einzelzelle bin ich fast verrückt geworden, da habe ich mich mit einer Fliege unterhalten“, erzählt sie. Vernehmungen waren in dieser Situation die einzigen Kontakte. Die Vernehmer wollten wissen, wer ihr geholfen habe. "Ich habe eben gesagt, ich wollte zu meinem Mann mit den Kindern, als Familie." Sie wird in einem Prozess zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Situation im Stasi-Gefängnis eine Frage von Glück und Zufall

Viele ehemalige Häftlinge der Stasi-Gefängnisse haben von psychischer Folter und Misshandlungen erzählt, die dann allerdings meist im Laufe der Zeit abnahmen. Wie sie behandelt wurden, hing oft von der politischen Großwetterlage ab, vom Gefängnis, in dem jemand gelandet war, und von einzelnen Wärtern. Ingeborg Kahl erzählt, dass ihr vor allem das Zusammensein mit Gleichgesinnten geholfen habe, die Haftzeit durchzustehen. "Ich habe noch heute Kontakt zu meinen Haft-Kameradinnen." Man habe sie als Kriminelle bezeichnet, aber alle seien aus politischen Gründen im Gefängnis gewesen.

DDR macht mit politischen Häftlingen einträgliches Geschäft

Im Gefängnis lernte Ingeborg Kahl auch eine gefasste Fluchthelferin kennen, die ihr von der Möglichkeit des Freikaufs durch die Bundesrepublik erzählte. 33.755 politische Häftlinge wurden von 1963 bis 1989 freigekauft, für insgesamt fast 3,5 Milliarden Mark. Anfangs verlangte die DDR etwa 40.000 DM pro Häftling, abhängig von seiner oder ihrer Ausbildung; am Ende wurden pauschal knapp 96.000 DM pro Person bezahlt.

Vogel: "Menschenrechte ohne Gegenleistung nicht zu haben"

DDR-Anwalt Wolfgang Vogel 1986 in Bonn. © picture-alliance / dpa Foto: Heinrich Sanden
Anwalt Wolfgang Vogel, hier 1986 in Bonn, fungierte als DDR-Unterhändler beim sogenannten Häftlingsfreikauf.

Der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der die Verhandlungen auf DDR-Seite führte, analysierte das zynische Geschäft der SED-Führung mit DDR-Bürgern nach dem Mauerfall kühl, "dass von einem Staat der Klassenjustiz Menschenrechte ohne Gegenleistung nicht zu haben sind."

Ingeborg Kahl hatte den Namen von Wolfgang Vogel von ihrer Haft-Kameradin genannt bekommen - und er konnte helfen. Sie und ihre beiden Kinder durften offiziell "ausreisen". Mit dem Umzugswagen fuhren sie zum Grenzübergang. "Auf der anderen Seite stand mein Mann. Und dann sind wir also gelaufen über die Bornholmer Straße."

Noch heute in Sorge um die Kinder

Ingeborg Kahl hatte es geschafft. Wie ihr Mann hat sie dann Chemie studiert, später zog die Familie in den Südwesten Deutschlands, wo es bessere Arbeitsplätze gab. Aber: "Ich hänge heute noch an meinen Kindern. Ich habe jetzt noch Sorge, ob alles in Ordnung ist", sagt sie. Und: Dass das, was die SED-Führung und die Stasi getan haben, nicht vergessen werden dürfe.

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