Vom DDR-Flüchtling zum Fluchthelfer
Mit 18 Jahren unternahm Hartmut Richter seinen ersten Fluchtversuch aus der DDR. Er wurde geschnappt und versuchte erneut, sich nach West-Berlin abzusetzen - erfolgreich. Als Fluchthelfer brachte Richter später 33 Menschen in den Westen.
Schon früh zeigt sich bei Hartmut Richter, 1948 in Glindow geboren, der Unwille, dem SED-Regime blind zu folgen. Als die Staatssicherheit versucht, ihn über Mitschüler zu befragen, lehnt der Schüler ab. Als Achtklässler weigert er sich, der kommunistischen Freien Deutschen Jugend (FDJ) beizutreten. Der Bau der Berliner Mauer 1961 grenzt die Möglichkeiten des Jugendlichen, der von der weiten Welt träumt, noch weiter ein.
Leben in der DDR: "Das hältst du hier nicht aus"
Eine Begegnung mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit führt dazu, dass Richter das DDR-Regime endgültig ablehnt. Als Beamte den Schüler zu einem Verhör mitnehmen und ihm ungefragt die Haare kürzen, ist für Richter eine Grenze überschritten. "So gedemütigt zu werden - das hältst du hier nicht aus", schildert Richter seine Gedanken nach diesem Vorfall in der NDR Dokumentation "50 Jahre Transitstrecke - Als die Grenze zur DDR durchlässig wurde". Ab diesem Zeitpunkt habe er ernsthaft überlegt, der DDR den Rücken zuzuwenden.
Flucht durch den Teltowkanal
Im Januar 1966 versucht Richter mit gerade einmal 18 Jahren, über die tschechisch-österreichische Grenze in den Westen zu gelangen. Der Fluchtversuch misslingt: Richter wird festgenommen und im Mai zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Doch sein Wunsch nach Freiheit bleibt ungebrochen. Nur drei Monate später, im August 1966, wagt er einen weiteren Fluchtversuch: Er schwimmt bei Dreilinden nahe Potsdam durch den Teltowkanal nach West-Berlin. Dieses Mal hält ihn niemand auf, obwohl er angesichts der DDR-Wachen lange im Wasser ausharren muss, bevor er schließlich unbemerkt im Westen der geteilten Stadt an Land gehen kann.
In Freiheit die Welt entdecken
In den folgenden Jahren verwirklicht Hartmut Richter das, wovon er geträumt hatte: Als Steward reist er auf Schiffen um die ganze Welt. Bei seiner Rückkehr in die Bundesrepublik 1972 hat sich die Situation in vielerlei Hinsicht verändert. Zum einen darf Richter aufgrund einer Amnestie wieder in die DDR einreisen, was ihm zuvor als "Republikflüchtling" verwehrt worden war. Zum anderen erleichtert das 1972 in Kraft getretene Transitabkommen den Verkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin.
Erster Einsatz als Fluchthelfer: Im Kofferraum nach West-Berlin
Die Frage eines Bekannten gibt Hartmut Richters Leben 1973 eine neue Wendung: Ob er für eine Freundin aus der DDR einen Fluchthelfer suchen könne, will der Bekannte wissen. Richter entscheidet sich, das Anliegen selbst zu übernehmen. Da sein Heimatort Glindow in Brandenburg direkt an der Transit-Autobahn Hannover-Berlin liegt, kann Richter einen Elternbesuch unauffällig mit der Fluchthilfe verbinden. Die Freundin seines Bekannten wartet zum verabredeten Zeitpunkt in einem Schuppen auf dem Grundstück seiner Eltern auf ihn. Dort steigt sie zu Richter in den Kofferraum und überquert so wenig später die Grenze nach West-Berlin.
Richter will anderen helfen
Nach der geglückten Aktion wird Richter wiederholt kontaktiert, wenn DDR-Bürger die Flucht in den Westen wagen wollen. So bringt er mit seinem Auto eine Reihe weiterer Fluchtwilliger nach West-Berlin. "Wenn es einem DDR-Bürger gelingt, unbemerkt in deinen Kofferraum zu gelangen, dann ist der im Westen. Herrlich!", so Richter rückblickend über seine Fluchthilfe. Richter handelt aus dem Motiv, anderen helfen zu wollen. Geld spielt für ihn keine Rolle, wohl aber für den Strippenzieher dieser Fluchtaktionen, der im Hintergrund agiert. Weil Richter missfällt, dass sein Auftraggeber seiner Ansicht nach unverhältnismäßig viel Geld von den Flüchtenden nimmt, organisiert er seine Fluchthilfen bald eigenständig.
Präparierter Kofferraum als Versteck
Hartmut Richter plant seine Aktionen zumeist nach dem gleichen Schema: Er holt die Fluchtwilligen in Glindow oder an einer Bushaltestelle nahe Finkenkrug ab und versteckt sie später an einem abgelegenen Ort im Kofferraum seines Autos. Über den Innenraum krabbeln die Personen in einen Hohlraum, der durch eine Trennwand vom restlichen Kofferraum abgeteilt ist. Damit der Hohlraum mehr Platz bietet, ist die Rückwand der hinteren Sitzlehne entfernt. Vor dem Einsteigen gibt es ein paar Einweisungen, dann muss absolute Ruhe herrschen. Erst nach dem Überschreiten der Grenze können die Geflüchteten wieder auf den Rücksitz, bevor Richter sie irgendwo in West-Berlin absetzt.
Richter: "Ich hatte jedes Mal Herzklopfen"
Der Treffpunkt Bushaltestelle befindet sich damals in unmittelbarer Nähe zu einer sowjetischen Kaserne mit Wachturm. "Und gerade da habe ich es einfach gemacht", so Richter in "50 Jahre Transitabkommen". Denn er habe sich gedacht, dass die Stasi ausgerechnet hier keine Fluchtversuche vermuten würde. "Ich hatte jedes Mal Herzklopfen und habe unheimlich viel geraucht auf diesen Fahrten", berichtet Richter über die Anspannung während der Fluchtaktionen. Denn beide Seiten, Fluchthelfer wie Fluchtwillige, riskieren angesichts der mit Waffen gesicherten Grenze jedes Mal ihr Leben.
33 geglückte Fluchten: "Unbeschreiblich schöne Erlebnisse"
33 Mal geht das gut. Auch, als ein Kind in seinem Kofferraum ausgerechnet an der Grenzübergangsstelle husten muss und so die Aufmerksamkeit des DDR-Grenzbeamten auf Richters Auto lenkt. "Da habe ich im Rückspiegel ein Auto mit Kindern gesehen", erinnert sich Richter. "Der Grenzbeamte kam auf mein Auto zu, guckte, lächelte, ging an den Kofferraum, aber das Kind war jetzt ruhig. Dann guckte er nach hinten. Lieber Gott, lass' ihn denken, dass die Kinder da gehustet haben, dachte ich bei mir. Das muss er dann gedacht haben." Denn Richter darf die Grenze unbehelligt passieren.
Die überschwänglichen Emotionen der Menschen nach einer geglückten Flucht sind für Richter Motivation und Freude zugleich. Auch an das Erlebnis mit einer jungen Frau, die kurz hinter der Grenze in West-Berlin aus dem Kofferraum kroch und ausgelassen jubelte, denkt er gern zurück. "Jedes Mal habe ich mir gesagt: Das war das letzte Mal, du hast die Nerven nicht mehr. Aber es war andererseits so schön, den Menschen geholfen zu haben", beschreibt Richter seine Gefühle als Fluchthelfer. "Das waren unbeschreiblich schöne Erlebnisse."
Aufgeflogen: 15 Jahre Haft wegen Fluchthilfe
Dann, im März 1975, wird Richter am Grenzübergang Drewitz von Mitarbeitern der Staatssicherheit gestoppt. Obwohl er auf sein Recht als Transitreisender zur freien Durchfahrt pocht, wird Richter von der Straße geholt und in eine Garage gelotst. Im Kofferraum finden die Stasi-Mitarbeiter Richters Schwester und ihren Verlobten. Alle drei werden festgenommen. Das Bezirksgericht Potsdam verurteilt den Fluchthelfer wegen "staatsfeindlichen Menschenhandels zum Zwecke, die DDR zu schädigen" am 12. Dezember 1975 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Die Bundesrepublik kauft den Fluchthelfer nach fünf Jahren im Oktober 1980 frei. Richter lebt seitdem in Berlin.
Seit vielen Jahren engagiert sich Hartmut Richter für die Erinnerung an das Unrecht der DDR. Als Zeitzeuge ist er für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur aktiv und führt als Besucherreferent Interessierte durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Als Anerkennung für seine Tätigkeit als Fluchthelfer hat ihm der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.