Gedenkstätte Marienborn: Sieben Hektar deutsch-deutsche Geschichte
Der Grenzübergang Helmstedt/Marienborn war einer der größten zwischen Ost und West. Schikanös ging es hier bis 1989 zu, heute erinnert eine Gedenkstätte an die deutsche Teilung.
Wo sich früher die Autos in nicht enden wollenden Kolonnen entlang wälzten, ist heute vergleichsweise gähnende Leere. Der Wind fegt über den riesigen betonierten Hof, im Hintergrund ist leise das immer gleiche Rauschen der Autobahn zu hören. Einige Masten ragen in den Himmel, geduckt stehen unscheinbare Baracken an den Rändern des Areals.
Wer heute hier steht, kann nur ahnen, was vor 1989 hier los war: Denn da war der Grenzübergang Marienborn eins der wenigen Nadelöhre zwischen DDR und Bundesrepublik, zwischen Ost und West - Sachsen-Anhalt und Niedersachsen liegen hier nur einen Steinwurf voneinander entfernt.
Stätte der Erinnerung und Aufarbeitung
Viele, fast sagenumwobene Geschichten ranken sich um die Kontrollstelle. Es sind Geschichten, die von einer anderen, längst vergangenen Zeit erzählen. Doch diese Zeit kann auch heute noch lebendig werden - bei einem Besuch auf der "Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn".
Auf den gut sieben Hektar, die von dem ehemaligen Grenzübergang noch zu sehen sind, hat die Gedenkstätte so viel erhalten wie möglich. Die historischen Abfertigungsbereiche, Zäune und Gebäude wie Wechselstube und Kommandantenturm erinnern an die normalen und an die beinahe unglaublichen Geschichten aus der Zeit der Teilung.
Ein brachialer Fluchtversuch
Eine dieser Geschichten ist die von Hans-Jürgen Fricke: Im November 1983 raste er in einem mit 22.000 Tonnen Treibstoff beladenen Tanklaster auf den Grenzübergang zu und schaffte es, die ersten Schlagbäume zu durchbrechen. Später sollte er aussagen, er habe in diesem Moment eigentlich gar nicht großartig nachgedacht. Sein einziger Gedanke war: Flucht.
Schließlich wurde er gestoppt: Nicht etwa von auf ihn feuernden Grenzern - das wäre wegen der entzündlichen Ladung zu gefährlich gewesen. Ein tonnenschweres Stahlteil schoss auf die Straße und brach dem Lkw die Vorderachse. Fricke flüchtete zu Fuß weiter, doch er erreichte den Westen nicht: DDR-Grenzer konnten ihn stellen und nahmen ihn fest.
"Fiffis" als kaum überwindbares Hindernis in den Westen
Noch heute sind die großen Stahlträger, die Fricke damals aufgehalten haben, zu sehen: Zwar haben die sogenannten Fiffis inzwischen leichten Rost angesetzt, vor allem an den Rädern. Doch sofort wird klar, was sie darstellten: Ein massives, kaum überwindbares Hindernis auf dem Weg in den Westen. Dem 32-Tonner, den Fricke damals fuhr, hielt ein "Fiffi" mühelos stand. Der Stahlträger hieß in der Sprache der DDR-Grenzer so, weil Form und Bewegung entfernt an einen Hund erinnern.
Helmstedt-Marienborn: Vom Grenzübergang zum Bollwerk
Die Grenzübergangsstelle (GüSt) Marienborn, wie sie offiziell hieß, hat eine lange Geschichte. Vom Herbst 1949 an bauten die Sowjets das Gelände nach und nach zu einem "Kontrollpassierpunkt" in die von ihnen besetzte Zone aus. In wenigen Wochen errichteten sie zahlreiche Abfertigungsbaracken und Kasernen. Eine Infrastruktur, die DDR-Grenzer ab Anfang der 50er-Jahre nutzen konnten - die SED-Führung hatte nun offiziell die Kontrolle in Marienborn von den Besatzern übertragen bekommen.
Was zunächst ein Grenzübergang war, wurde nach und nach zu einem Bollwerk ausgebaut. Spätestens Anfang der 70er-Jahre entstand eine regelrechte Festung aus Beton-Sperren, Schranken und Stacheldraht. Die "Fiffis" taten ihr übriges: Viele Fluchtversuche endeten erfolglos, zurück blieben ramponierte Autos und Hunderte Menschen, die deswegen in den Knast mussten.
Grenzübergangsstelle Marienborn: Legendär schikanös
Besonders ausgeklügelt war das Kontrollsystem, das auch jeder Westler, der einmal nach Berlin wollte, kennen lernte. Noch heute ist einiges davon zu sehen: Die gut 50 Meter langen Metallförderbänder, auf die man seinen Pass zur Kontrolle legen musste; die Baracken aus Holz und Metall, in denen Stasi und Grenztruppen die Reisedokumente überprüften; die riesigen Fluchtlichtstrahler, die das ganze Prozedere "schattenfrei und taghell" - so die offizielle Losung - ausleuchteten. Die Sollstärke der "Passkontrolleinheit Marienborn" bestand zu Hochzeiten aus 116 Kontrolleuren und etwa 80 Kontrolleurinnen - pro Schicht. Dazu kamen Hunde, die das Gepäck durchschnüffelten.
Bis zu 1.000 Grenzbeamte taten insgesamt hier Dienst, und die Kontrollen waren fast legendär - sie galten als legendär schikanös. Wer einen Zentimeter zu weit vorrollte, wurde zurück gewunken, wer zu weit links fuhr, musste umdrehen. Richtig machte es eigentlich kaum jemand. Allein zwischen 1985 und 1989 wurden hier fast 35 Millionen Reisende abgefertigt. Manche davon haben noch heute ein mulmiges Gefühl, wenn sie auf der A 2 zwischen Hannover und Berlin hier vorbeikommen.
Zusätzlich zu den normalen Grenztruppen waren in nächster Nähe noch mindestens 100 Soldaten stationiert. Falls der Klassenfeind aus dem Westen angegriffen hätte, wären die über ein unterirdisches Tunnelsystem zur Hilfe geeilt. Auch das ist heute noch zu sehen: Die Ausgänge aus diesem System sind Türen, die in die Fluchtlichtmasten eingelassen sind.
Blick hinter die Kulissen
Wer über das ehemalige Grenzgelände läuft, bekommt schnell einen Eindruck davon, wie das System insgesamt funktionierte: Abschreckung wurde großgeschrieben - doch wer hinter die Kulissen blickt, findet schnell auch die Makel; findet heraus, dass bei weitem nicht alles perfekt war. Was auf den ersten Blick bedrohlich anmutet, sieht beim weiteren Hinschauen schon eher schäbig und billig aus. Natürlich trägt die Zeit eine Mitschuld am langsamen Verfall der Anlage, doch die schnell zusammengezimmerten Baracken etwa oder die brüchigen Sperrholz-Einrichtungen sind schwierig zu erhalten.
Verwirrung kurz nach der Grenzöffnung
Mehr als 150.000 Besucher kommen jedes Jahr hierher, um die Geschichte der innerdeutschen Teilung nachzuvollziehen. Es ist ein Ort, "an dem Deutsche Deutschen ihre Geschichte erzählen", wie es Altbundespräsident Roman Herzog einmal ausgedrückt hat. Zeitzeugen berichten Schulklassen von ihren Erfahrungen, Reisegruppen aus der ganzen Welt gucken sich die alten Baracken an. Wie an vielen anderen Orten herrschte auch hier am 9. November 1989 Verwirrung unter den Grenztruppen. Immer mehr Menschen - vor allem aus Berlin - machten sich auf den Weg nach Marienborn. Zunächst wurden sie nicht durchgelassen.
Die erste, die schließlich gegen 21.15 Uhr einfach passieren konnte, war die Magdeburger Ärztin Annemarie Reffert. Sie hatte in den Nachrichten von der Grenzöffnung gehört und sich mit ihrer Tochter sofort auf dem Weg gemacht. Als sie schließlich im Westen ankam, stand sie im Scheinwerferlicht der Kameras, Reporter umringten sie. Sie bekam, so erzählte Reffert es 20 Jahre später, ein wenig Angst wegen des ganzen Trubels. Doch das Wichtigste war: "Die Grenze ist offen. Man kann reisen. Niemand muss mehr flüchten."