Wie die SPD nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde
Am 19. April 1945 beschließen Kurt Schumacher und andere Sozialdemokraten in Hannover den Wiederaufbau der SPD. Ohne Zustimmung der Besatzer werden schon im Mai erste Parteibücher ausgehändigt. Später wird Schumacher zum Vorsitzenden gewählt.
Anfang Mai 1945 tobt in Deutschland noch vielerorts der Krieg. Doch etliche Städte haben bereits kapituliert. Auf dem Berliner Reichstag haben Soldaten der Roten Armee am 30. April die Sowjet-Fahne gehisst, Adolf Hitler hat sich im Bunker unter der Reichskanzlei das Leben genommen. Gut 270 Kilometer weiter westlich, in Hannover, haben NSDAP, Gestapo und Wehrmacht längst nichts mehr zu sagen. Die Amerikaner hatten die Stadt an der Leine am 10. April praktisch im Handstreich genommen. Unmittelbar nach den US-Truppen erreichte die britische Armee die Stadt. Der britische Stadtkommandant bestimmt mit dem 66 Jahre alten Gustav Bratke, der schon vor 1933 als SPD-Politiker aktiv war, bereits am 11. April einen neuen Oberbürgermeister für Hannover.
Wiederaufbau der SPD bahnt sich an
Hannover ist zu diesem Zeitpunkt eine von zahllosen Luftangriffen schwer gezeichnete Stadt. Das alte Hannover, die Innenstadt, ist zu 90 Prozent zerstört. Oberbürgermeister Bratke soll sich unter Aufsicht der britischen Militärs um den Wiederaufbau der Stadt kümmern. Doch auch ein weiterer Wiederaufbau bahnt sich an - zunächst im Hintergrund. Zwar ist die Einparteienherrschaft der NSDAP in Hannover bereits beendet - allerdings gibt es auch keine anderen Parteien. Die hatte das NS-Regime 1933 verboten. Und die britische Besatzungsmacht macht zu diesem Zeitpunkt noch keine Anstalten, politische Parteien wieder zuzulassen.
Schumachers früher Widerstand gegen das NS-Regime
Kurt Schumacher, SPD-Mitglied seit 1918 und zwischen 1930 und 1933 Abgeordneter im Deutschen Reichstag, setzt sich Anfang der 30er-Jahre in seinen Reden auffallend kritisch und scharf mit der NSDAP auseinander und wird damit zum Feindbild der NS-Funktionäre. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Schumacher verhaftet und verbringt die folgenden zehn Jahre fast ununterbrochen in verschiedenen Konzentrationslagern, unter anderem in Neuengamme. Schwer krank und gezeichnet landet er 1943 in Hannover - und beginnt kurz nach dem Einmarsch der Briten, die sozialdemokratischen Fäden in der Stadt aufzunehmen und zusammenzuführen.
Hannover als Keimzelle der neuen SPD
Nach einem gemeinsamen Beschluss vom 19. April 1945 kommen am 6. Mai rund 130 Sozialdemokraten im Sitzungssaal des Polizeipräsidiums in Hannover zusammen und wählen einen provisorischen Parteivorstand. Am gleichen Tag, fast zwölf Jahre nach dem Verbot der SPD, eröffnet in Hannover-Linden auch das "Büro Dr. Schumacher". Von den Briten zwar noch untersagt, werden hier schon bald die ersten Parteibücher ausgehändigt. Nachdem die Besatzungsmacht die SPD im Sommer in ihrer Zone zulässt, beantragt Schumacher am 20. August auch offiziell die Neugründung der Partei in Hannover.
Offizielle SPD-Neugründung im Oktober 1945 in Wennigsen
Vom 5. bis 7. Oktober 1945 treffen sich die SPD-Funktionäre in Wennigsen zur Neugründung der Partei. Schumacher wird zum politischen Beauftragen für die westlichen Besatzungszonen gewählt und mit der Leitung des Partei-Wiederaufbaus beauftragt.
Schumacher wird mit 244 von 245 Stimmen Vorsitzender
Der erste Nachkriegsparteitag der SPD findet vom 9. bis 11. Mai 1946 im Saal der Hanomag-Werke in Hannover-Linden statt. Kurt Schumacher eröffnet die Veranstaltung und erntet begeisterten Applaus und Bravo-Rufe für seine Rede:
"Ich möchte in dieser Stunde nicht mit dem dröhnenden Pathos der Propaganda zu Ihnen reden, das Sie in den letzten 13 Jahren erleiden mussten. [...] Wir wollen keine großen Gesten machen, wir wollen keine Politik der Überredung und des Zwanges. Wir wollen eine Politik, die von Frauen und Männern aus freier Erkenntnis und aus eigenem Willen getragen wird." Auszug Parteitags-Eröffnungsrede von Kurt Schumacher, Hannover, 9. Mai 1946
Drei Tage lang debattieren die Genossen über die Ehrung der Opfer des Faschismus, Entnazifizierung, sozialistische Wirtschaftpolitik sowie die Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie und beschließen die Gründung eines Parteiprogrammkomitees.
Schumacher wird schließlich zum Parteivorsitzenden in den drei westlichen Besatzungszonen gewählt - mit 244 von 245 Stimmen. Als sozialdemokratischer Widerpart von Konrad Adenauer wird Schumacher in den folgenden Jahren zur Leitfigur der SPD und als Parteivorsitzender bis zu seinem Tod 1952 immer wieder bestätigt.
Schumacher: Ein Glücksfall für die SPD und für Hannover
Dass Schumacher nach jahrelanger Inhaftierung in Konzentrationslagern ausgerechnet nach Hannover entlassen wurde, bewertet Sozialwissenschaftler Stephan Klecha im Nachhinein als Ergebnis einiger glücklicher Umstände für die SPD. Klecha, Vorstandsmitglied im SPD-Bezirk Hannover und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen, sagt, die hannoversche SPD hätte ihre Rolle in die Stadt wohl nicht derart ausbauen und festigen können, wenn Schumacher die Partei nicht dort wieder gegründet hätte. Ganze 73 Jahre lang stellte die Partei den Oberbürgermeister.
Hannover-Linden: Zentrum der Arbeiterschaft mit Strahlkraft
"Auch nicht ganz unwichtig ist: Hannover war bereits vor 1933 der Sitz des Fabrikarbeiterverbands, des Vorläufers der IG Bergbau, Chemie, Energie", so Klecha. Vor allem das "rote" Linden galt damals als eines der Zentren der Arbeiterschaft - weit über die Grenzen Hannovers hinaus. "Linden war mit Sicherheit einer der Orte in Deutschland, in denen die Sozialdemokratie - und zwar ihr reformistischer Teil - eine sehr starke Verankerung hatte und von dem die SPD in weiten Teilen bis heute zehrt. Sowohl hinsichtlich des Mythos, als auch ein Stück weit in Form des Organisationsverständnisses", so Klecha.
"SPD funktionierte als Organisation unglaublich schnell"
Im Frühjahr 1945 liegen Organisation und Strukturen der Partei wie auch das Land noch in Trümmern. "Doch vor allem die Sozialdemokratie, das darf man nicht vergessen, stand 1945 wieder", betont Klecha. "Als Organisation funktionierte die SPD 1945/46 unglaublich schnell. Auch weil sie mit Schumacher eine Führungsperson hatte, die dieses auch zutiefst verkörperte."
Das "Büro Dr. Schumacher" zieht später von Linden in die Odeonstraße in der zerstörten Innenstadt Hannovers und wird dort zur Parteizentrale der Bundes-SPD. Erst 1951 wird die SPD-Zentrale in die neue Hauptstadt nach Bonn verlegt. Heute hat im Kurt-Schumacher-Haus in der Odeonstraße die Geschäftsstelle der SPD Region Hannover ihren Sitz. Das Amt des Oberbürgermeisters übt mit Belit Onay seit 2019 indes ein Grüner aus.