Sturmflut 1962 revolutioniert den Küstenschutz
Das Land Schleswig-Holstein feiert am kommenden Wochenende in Eutin sein 70-jähriges Bestehen. In dieser Woche berichten wir im Schleswig-Holstein Magazin, auf NDR 1 Welle Nord und bei NDR.de/SH über die Geschichte des nördlichsten Bundeslandes. Was waren die Wendepunkte im Leben der Schleswig-Holsteiner? Welche Ereignisse haben das Land und vor allem die Menschen verändert?
Die Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 ist eine Nacht, an die sich alle Schleswig-Holsteiner erinnern können, die dabei waren. Es ist die Nacht einer schweren Sturmflut. In Hamburg sterben 317 Menschen. In Schleswig-Holstein sind keine Todesopfer zu beklagen, aber die Schäden zwischen Elbe und Sylt sind gewaltig. "Mich hat am meisten der Tag danach beeindruckt", sagt Dietmar Wienholdt, oberster Küstenschützer des Landes, im Interview mit NDR 1 Welle Nord. Am Tag danach fährt er mit seinen Eltern nach Büsum (Kreis Dithmarschen). "Es war fast kein Deich mehr da", erinnert sich Wienholdt. "Nur noch kümmerliche Reste."
Verheerende Schäden an der Westküste
Auch der Deich des Tümlauer Kooges hält in dieser Nacht, obwohl am Ende nur noch eine mauerdicke Kleischicht die Nordsee aufhält. Itzehoe im Kreis Steinburg wird vom Rückstau überschwemmt. An der Krückau und der Pinnau gibt es keinen Deichschutz. Das Wasser läuft in die Straßen und Keller von Elmshorn und Uetersen. Im Kreis Nordfriesland brechen die Deiche des Uelvesbüller Koogs und des Dockkoogs vor Husum. Die Halligen und viele Köge auf dem Festland stehen unter Wasser. Menschen sind auf ihren Höfen eingeschlossen. Auf Sylt frisst sich die Sturmflut bis zu 16 Meter tief in die Dünen.
Katastrophal fällt die Deichschau nach der Sturmflut aus: Für die Deichgrafen, Bürgermeister und Wasserbauer ist es ein Horrortrip. Von den 560 Kilometern Seedeichen auf dem Festland Schleswig-Holsteins sind 70 Kilometer zerstört, 80 Kilometer erheblich beschädigt und weitere 120 Kilometer müssen repariert werden.
Ein neuer Querschnitt für die Deiche
Die Februarflut von 1962 löst das größte Deichbauprogramm in der Geschichte Schleswig-Holsteins aus. 22 Monate lang wird gerechnet, projektiert und verworfen. Am 20. Dezember 1963 liegt der "Generalplan Deichverstärkung, Deichverkürzung und Küstenschutz in Schleswig-Holstein" vor. Die Deiche müssen erhöht werden. Dafür genügt es nicht, einfach oben ein Stück draufzusetzen. Der alte Typ war nicht nur zu niedrig für die zu erwartenden Sturmfluten, er war auch zu steil. Der Querschnitt der Deiche - das so genannte "Bestick" - muss geändert werden. Zur See hin werden sie so abgeflacht, dass anstürmendes Wasser sich tot läuft, die Wellen ihre Kraft verlieren. Auch die Binnenseite muss flacher werden, damit Wasser überlaufen kann - ohne die Krone des Deiches zu brechen.
Um solche Deiche zu bauen, brauchen die Wasserbauer mehr als das Doppelte des bis dahin notwendigen Materials. Der Stoff, aus dem die Deiche bis 1962 fast ausschließlich bestehen, ist der schwere tonige, bläulich braune Marschboden: der Klei. Er wurde traditionell in direkter Nähe zum Deich entnommen. Für die neuen Deiche gibt es davon nicht mehr genug. Deshalb werden die alten Deiche geschlitzt, ein neuer hoher Kern aus Sand eingespült und der Fuß des Deiches auf der Wasserseite, die sogenannte Außenberme, mit etwa einem Meter Klei abgedeckt. Die Binnenberme auf der landzugekehrten Seite bekommt einen halben Meter Klei als Verstärkung.
1976: Nur alte Deiche brechen
Mitte der 1970er Jahre schon sind die wichtigsten Dinge zum Schutz der Menschen geleistet. Das zeigt sich am 3. Januar 1976. Die durch den Capella-Orkan ausgelöste Sturmflut ist die höchste an der Westküste im 20. Jahrhundert. Die Deiche brechen im Christianskoog in Dithmarschen, im Kehdinger Land und der Haseldorfer Marsch - alles Bereiche, die noch nicht verstärkt sind. Wo der Generalplan umgesetzt ist, bleibt die Flut draußen. Ein großer Erfolg - vor allem für die Wasserbauer des Landes.
60 Millionen für den Küstenschutz
Inzwischen ist für die Menschen hinter den Deichen, auf Inseln und Halligen ein Sicherheitsstandard erreicht, den sich 1962 so niemand hätte vorstellen können. Heute sind Deichschauen an der schleswig-holsteinischen Westküste fast ein nettes Ritual. Immer noch geht es um Zustand, notwendige Arbeiten und Projekte, doch am Ende wird fast stereotyp festgestellt: "Die Deiche sind sicher und in einem wehrhaften Zustand." Das Land gibt jährlich etwa 60 Millionen Euro für den Küstenschutz aus, davon 20 Millionen für die Instandhaltung der Deiche. "Deshalb haben wir sehr gute Deiche an unseren Küsten", sagt Wienholdt. "Aber wir müssen uns auf größere Gefahren in der Zukunft einstellen." Der Klimawandel ist in vollem Gange, und damit kommt es schon jetzt zu mehr Sturmfluten. Auch steigt der Wasserspiegel der Nordsee.
Vor zwei Jahren ist Wienholdt wieder in Büsum gewesen - zur Abnahme eines der ersten sogenannten Klimadeiche. Das Besondere: Er ist so konzipiert, dass er sich relativ leicht und damit kostengünstig erhöhen lässt - mit einer breiten Deichkrone und einer flachen Außenböschung. Für Wienholdt war es aber auch ein sehr persönlicher Moment. "Ich war gerührt", erinnert er sich. Denn dort in Büsum stand an der gleichen Stelle, an der er 1962 nach der Sturmflut mit seinen Eltern schon gestanden hatte.