Die sexuelle Revolution und der Traum von der freien Liebe
Zur Zeit der Studentenbewegung werden Lebensformen jenseits der traditionellen Familie ausprobiert. Die Pille ermöglicht Sex ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft. Das verändert die Gesellschaft nachhaltiger als manch politische Entscheidung.
"Die Toleranz war da - jeder konnte so leben, wie er wollte." Marita Sperling aus Bremerhaven erinnert sich noch heute gerne an die 60er- und 70er-Jahre, als sie und ihre Freunde mit den rigiden Moralvorstellungen der Elterngeneration brachen und neue Formen des Zusammenlebens ausprobierten: "Körperliche Treue ja - und wenn nicht, dann eben nicht."
Strenge Moral und "Kuppelparagraph" kommen an ihr Ende
Die öffentliche Moral war streng in Deutschland Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre. Es gab tradierte Vorstellungen von einem "Sittengesetz", die sich auch in der Strafgesetzgebung niederschlugen. So wurde Sex außerhalb der Ehe als "Unzucht" bezeichnet und in vielfacher Weise verfolgt. Der sogenannte Kuppelparagraph drohte nicht nur Puffmüttern mit Strafe, sondern ebenso Hoteliers oder Eltern, die unverheiratete Paare in einem Zimmer schlafen ließen. Erst mit der großen Strafrechtsreform 1969 wurde auch das Sexualstrafrecht reformiert und zum Beispiel das Zusammenleben nicht verheirateter Paare oder Homosexualität unter Erwachsenen entkriminalisiert.
Während die Politik noch über die Reform des Strafrechts diskutierte und konservative Moralapostel den Untergang des Abendlands heraufziehen sahen, lebte ein Teil der Jugend längst den Traum von der freien Liebe. Für sie war das Teil der Revolte gegen die etablierte Ordnung. "Am Anfang stand der Gedanke der nötigen Revolutionierung des Privatlebens", beschrieb der linksradikale Aktivist Dieter Kunzelmann den Impuls für die Gründung der "Kommune 1" in Berlin, in der demonstrativ und öffentlichkeitswirksam mit den traditionellen Familienstrukturen gebrochen wurde. "Wir wollten ja uns verändern, wir wollten ja auch andere Menschen werden", so Rainer Langhans, auch er ein prominentes Mitglied der "Kommune 1".
Wilhelm Reich liefert den theoretischen Überbau
Den theoretischen Hintergrund dafür fanden die Kommunarden bei Wilhelm Reich, einem Freud-Schüler, der eine Synthese von Psychoanalyse und Marxismus versuchte. Er hatte seinen psychoanalytischen Ansatz auf Gesellschaft und Politik übertragen und dabei einen Zusammenhang hergestellt zwischen Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie. Eine wichtige Rollte spielte die patriarchalische Familie als Keimzelle des Staates.
Auch Marita Sperling und ihre Freunde in Hamburg haben Reich gelesen und versucht, Schlüsse daraus zu ziehen: "Die Art Liebe, die man leben kann - Eifersucht oder nicht." Nächtelang sei philosophiert und diskutiert worden. Eine besitzergreifende, zerstörerische Liebe habe keiner mehr gewollt. Natürlich habe nicht jeder alles mitgemacht, erzählt sie. Aber man habe sich ausprobieren können. "Es lief alles sehr menschlich, liebevoll und natürlich auch sexuell ab."
"Leichte Beute": Neue Freiheit führt zu Fehlschlüssen
Allerdings erfuhr sie immer wieder, dass es außerhalb ihres Freundeskreises nicht immer so weit her war mit Liberalisierung. Als sie als Jugendliche in ihrer Heimatstadt Bremervörde im kurzen Rock durch die Straßen ging, wurde sie von älteren Damen nicht nur beschimpft, sondern ganz handgreiflich mit dem Regenschirm bedroht. Und ihr Bruder musste Männer vor ihrem Haus mit dem Luftgewehr vertreiben, die falsche Schlüsse aus der modischen Bekleidung seiner Schwester zogen. Als sie nach ihrer Berufsausbildung nach Hamburg ging und dort als Model und auch als Nackt-Model arbeitete, merkte Marita Sperling, dass auch in der Großstadt längst nicht alle tolerant waren gegenüber einer jungen Frau in Minirock und Stiefeln. Immer wieder sei das fehlinterpretiert worden als "Verführung pur - leichte Beute", sagt sie. "Sind schon ganz schön ausgetickt, die Älteren, die das vorher nie gesehen hatten."
Was möglicherweise auch daran lag, dass es zu einer immer stärkeren Sexualisierung des Alltags kam - und mancher brave Bürger den Sponti-Spruch "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" ernster nahm als die Kommunarden, die ihn geprägt hatten.
Alfred Charles Kinsey und Oswalt Kolle klären auf
Schon die Anfang der 50er-Jahre in den USA entstandenen Kinsey-Reports hatten gezeigt, dass es in der Realität nicht nur Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau in der Ehe zur Zeugung von Kindern gab, wie es die öffentliche Moral es wollte. Die Studenten waren in den 60er-Jahren nicht die einzigen, die offen darüber sprachen. Erfolgreichster Sexualaufklärer der Bundesrepublik war Oswalt Kolle mit den 1967 erschienenen Büchern "Dein Mann, das unbekannte Wesen" und "Deine Frau, das unbekannte Wesen". Sein 1968 herausgebrachter Film "Das Wunder der Liebe" wurde weltweit von 140 Millionen Zuschauern gesehen.
Ohne Hemmungen: "Konkret" und "Schulmädchen-Report"
In den Medien wurde deutlich mehr über Sex berichtet, was bei Zeitschriften wie "konkret" durchaus in Richtung Pornografie ging. In der Werbung wurde offen mit sexuellen Anspielungen gearbeitet. Filme wie die "Schulmädchen-Report"-Reihe, die mit dem Gestus der Aufklärungsreportage daherkamen, aber halb-pornografische Produkte waren, fanden ein riesiges Publikum.
Beate Uhse erkennt den Zeitgeist
Und mit Sex ließ sich auf ganz neue Art und Weise Geld verdienen: Beate Uhse, die 1949 eine Aufklärungsbroschüre veröffentlicht hatte, gründete wegen der Nachfrage ihrer Kunden 1951 ein Versandhaus für Sex-Artikel und eröffnete 1962 in Flensburg den ersten Sexshop der Welt. Gegen Ende des Jahrzehnts war ihr Konzern in mehr als einem Dutzend Ländern präsent und machte Umsätze im zweistelligen Millionen-Bereich.
Allerdings musste Beate Uhse feststellen, dass sich Liberalität und Toleranz nicht in der ganzen Gesellschaft durchsetzten: Als sie die Aufnahme im Flensburger Tennisclub beantragte, wurde sie mit 51:49 Stimmen abgelehnt - eine knappe Mehrheit wollte nichts mit ihr zu tun haben, obwohl ihr Unternehmen offensichtlich ein breites gesellschaftliches Bedürfnis befriedigte. Sie baute sich ihren eigenen Tennisplatz.
"Wir haben uns die Freiheit erkämpft"
Und Marita Sperling sagt rückblickend über diejenigen, die glaubten, ihr und ihrer Generation die freie Liebe oder den Minirock verbieten zu müssen: Die seien halt nicht gefragt worden. "Wir haben uns die Freiheit erkämpft."