Das Biggerhus der Schutzstation Wattenmeer auf Hallig Hooge © Schutzstation Wattenmeer

Schutzstation Wattenmeer: Der Weg zum großen Naturschutz-Player

Stand: 04.11.2022 23:30 Uhr

Am 4. November 1962 gründen Naturschützer die Schutzstation Wattenmeer. Ihr Engagement hat Erfolg: 1985 wird das schleswig-holsteinische Wattenmeer zum Nationalpark, 2009 zum Weltnaturerbe. Der Weg dorthin hat den Beteiligten viel abverlangt.

von Janine Kühl

Für Nordsee-Besucher sind sie ein vertrauter Anblick: die Schutzstationen an vielen Orten des schleswig-holsteinischen Wattenmeeres. Sie informieren über die einzigartige Beschaffenheit des Weltnaturerbes, bieten Führungen und Wattwanderungen an und überwachen die Vogelbestände. Was heute eine der größten Umweltschutzorganisationen an der Nordseeküste ist, ist aus den Ideen einer kleinen Gruppe junger Menschen hervorgegangen.

Besiegelt mit einem Protokoll und zwei Flaschen Wein

Das Gründungsprotokoll der Schutzstation Wattenmeer vom 4. November 1962 © Schutzstation Wattenmeer
Das Gründungsprotokoll der Schutzstation Wattenmeer lässt noch nicht erahnen, dass hier eine der wichtigsten Naturschutzorganisationen der Nordseeküste ihren Anfang nimmt.

Am 4. November 1962 treffen sich Gert Oetken, Uwe Dulz, Günter Helm, Rudolf Brommann, Axel Jester, Heiner Lienau, Peter Lübbers und Reinhard Schönfeldt - damals um die 30 Jahre alt - in der Wohnung von Peter Jacobi in Großhansdorf bei Hamburg. Mit einem kurzen Protokoll und zwei Flaschen Rotwein besiegeln sie die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Schutzstation Wattenmeer und wählen Reinhard Schönfeldt zu ihrem Leiter. Die Gründer der Schutzstation Wattenmeer kennen sich aus verschiedenen Naturschutzorganisationen: Einige sind im Verein Jordsand aktiv, viele außerdem im Deutschen Jugendbund für Naturbeobachtung (DJN).

"Pädagogischer Naturschutz" statt Verbote

Reinhard Schönfeldt, seit langem für den Verein Jordsand als Vogelschützer im Einsatz, ist damals die treibende Kraft hinter der neu entstehenden Bewegung. Mit ihrem Konzept wollen die befreundeten Mitglieder der Schutzstation Wattenmeer neue Wege gehen - und zudem die Bevölkerung für den Umweltschutz gewinnen. Die Bewohner der Nordsee-Westküste sollen in die Naturschutzarbeit mit eingebunden werden. Außerdem sollen Besucher an den Schutzstationen über die Vogelwelt und das Wattenmeer informiert werden. Im Rahmen dieses "pädagogischen Naturschutzes" erhoffen sich Gert Oetken und seine Mitstreiter mehr Verständnis und Unterstützung durch die Mitmenschen. Diesen Ansatz lehnen damals viele etablierte Naturschützer ab.

Wachsende Umweltverschmutzung an der Nordsee

Berge von Müll liegen in den 1960er-Jahren am Ufer der Nordseeinsel Pellworm. © Schutzstation Wattenmeer
Berge von Müll liegen in den 1960er-Jahren am Ufer der Nordseeinsel Pellworm. Wilde Deponien wie diese gab es überall an der Küste.

Die Probleme sind offensichtlich: Mit wachsendem Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland ab den späten 50er-Jahren nehmen die Umweltprobleme massiv zu. Auch an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste werden mit dem beginnenden Massentourismus große Hotels gebaut, Autos parken wild in den Dünen. Der Müll wird kaum oder gar nicht entsorgt. All dies birgt Gefahren für das sensible Ökosystem Wattenmeer.

Gert Oetken übernimmt für 47 Jahre den Vereinsvorsitz

Die Arbeit der Schutzstation Wattenmeer nimmt langsam Fahrt auf und wird mit dem Eintrag ist Vereinsregister am 22. Februar 1963 offiziell. Da Gert Oetken mit seiner Rendsburger Wohnung sozusagen die Geschäftsstelle des Vereins stellt, wird der Zahnarzt als Vorsitzender eingetragen - er behält dieses Amt 47 Jahre. Reinhard Schönfeldt hingegen scheidet nach einem Eklat über finanzielle Fragen bereits 1964 aus dem Verein aus. Viele Mitglieder und Förderer kommen zufällig zum Verein. Wie Henning Bunte: 1964 sieht er auf der Fähre nach Amrum ein Schild der Schutzstation. Nach einem Telefonat mit Gert Oetken ist Bunte dabei. "Ich wurde mit offenen Armen aufgenommen", erinnert er sich. Vier Jahre später sitzt Bunte erstmals im Vorstand des Vereins.

Einsatz von früh bis spät: Schutzstation bestimmt das Leben

Teilnehmende eines naturkundlichen Pfingstkurses der Schutzstation Wattenmeer auf Hallig Hooge sitzen auf einer Düne. © Schutzstation Wattenmeer
Seit 1963 finden zur Hauptbrutsaison Pfingstkurse auf Hallig Hooge statt. Besonders Lehrer nutzen das mehrtägige naturkundliche Angebot der Schutzstation Wattenmeer.

Gerade die ersten Jahre verlangen den Vereinsmitgliedern einen enormen Einsatz ab. Um die Stationen besetzen und die Datensammlungen durchführen zu können, opfern sie oft ihre gesamte Freizeit. Den Jahresurlaub verbringen sie am Wattenmeer. Auch im Alltag bestimmt die Schutzstation neben dem Beruf ihr Leben. Wer als Postbeamter umsonst telefonieren kann, übernimmt die vielen Telefonate, ein Berufsschullehrer nutzt in den 70er-Jahren seine Nachmittage, um Bewerbungsgespräche mit Zivildienstleistenden zu führen.

Postkarten-Versand aus dem heimischen Keller

Henning Bunte, langjähriges Mitglied der Schutzstation Wattenmeer © Schutzstation Wattenmeer
Henning Bunte engagiert sich seit 1964 bei der Schutzstation Wattenmeer. Auch mit über 80 Jahren begleitet und berät er den Verein.

Henning Bunte übernimmt für viele Jahre den Verkauf der beliebten Schutzstation-Postkarten. "Das spielte sich im heimischen Keller ab", erinnert sich der passionierte Naturschützer. "Wir haben zwischen 60.000 und 100.000 Postkarten pro Jahr verkauft." Dringend benötigtes Geld spülen außerdem die Broschüre "Zum Watt geführt" und Poster in die klamme Vereinskasse. "1963 hatte der Verein einen Etat von 2.000 DM. Ausgaben mussten zunächst privat vorgeschossen werden", erinnert sich Bunte.

Biggerhus: Erstes Zentrum auf Hallig Hooge

Das erste Zentrum der Schutzstation wird das Biggerhus auf Hallig Hooge. Zusätzlich zu einer Ausstellung finden hier regelmäßig naturkundliche Kurse und Exkursionen statt. Zu der Nutzung des Gebäudes kommt der Verein wie so oft zufällig: Gründungsmitglied Uwe Dulz kennt die Hallig-Bewohner Ernst und Magda Boyens, deren Scheune während der Sturmflut 1962 zerstört worden war. Das Ehepaar erkennt früh die Möglichkeiten des Tourismus. Nach einem von Dulz vermittelten Gespräch mit Gert Oetken bauen sie die Scheune mit einem großen Versammlungsraum wieder auf und überlassen sie der Schutzstation Wattenmeer für Versammlungen und die Pfingst- und Herbstkurse des Vereins.

Erster Erfolg: Wattenmeer wird zum Naturschutzgebiet

1971 besucht Professor Bernhard Grzimek in seiner Funktion als Bundesnaturschutzbeauftragter das Biggerhus auf Hallig Hooge. © Schutzstation Wattenmeer
1971 löst Professor Bernhard Grzimek einen wahren Medienrummel auf der sonst so einsamen Hallig Hooge aus. Er ruft zum Schutz des Wattenmeeres auf.

Ein erster Teilerfolg der Naturschützer stellt sich 1968 ein, als die nordfriesischen Außensände Japsand, Norderoogsand und Süderoogsand zum Naturschutzgebiet erklärt werden. 1971 kommt Prominenz ins Watt: Der durch TV-Dokumentationen bekannte Zoologe Bernhard Grzimek kommt als Bundesnaturschutzbeauftragter nach Hallig Hooge und ruft zum Schutz des Wattenmeers auf. Hier keimt allmählich die Idee eines Nationalparks, an der die Schutzstation in den folgenden Jahren weiterarbeitet. Ihr Drängen führt 1974 zum Erfolg. Das Nordfriesische Wattenmeer wird zum Naturschutzgebiet (NSG) erklärt. Gleichzeitig erhält die Schutzstation den Auftrag, das NSG zu betreuen.

In der Folge eröffnet die Schutzstation Wattenmeer mehrere neue Stationen. Und startet ein Programm, dass bis heute jährlich viele Interessierte an die nordfriesische Küste führt: die internationalen Ringelganstage. Obwohl das Wattenmeer nun einen Schutzstatus genießt, müssen die Naturschützer in den folgenden Jahren mehrmals einschreiten. Sie protestieren Mitte der 70er-Jahre erfolgreich gegen die Nutzung von Luftkissenfahrzeugen sowie gegen Pläne, Kernkraftwerke im Wattenmeer zu errichten. Außerdem ist die Schutzstation 1982 daran beteiligt, 3.000 Hektar Wattfläche vor der Eindeichung zu retten.

Novum: Zivildienst im Umweltschutz

Zivildienstleistende der Schutzstation Wattenmeer posieren vor einem Stacheldrahtzaun © Schutzstation Wattenmeer
Vom Modellversuch zum Erfolgsprojekt: Zivildienstleistende sind ab 1972 fester Bestandteil der Schutzstation-Arbeit.

Die Schutzstation Wattenmeer ist 1972 bundesweit die erste Dienststelle, die Zivildienstleistende im Umweltschutz einsetzen darf. Denn: Ein Netz von Stationen entlang der Küste zu unterhalten, ist mit ausschließlich ehrenamtlichen Mitgliedern nicht machbar. Hier spielt dem Verein der gesellschaftliche Wandel in die Karten. Infolge des Protests gegen den Vietnamkrieg und der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Bundesrepublik nimmt die Zahl der Wehrdienstverweigerer deutlich zu - entsprechend müssen Stellen für "Zivis" geschaffen werden.

Oetken hört damals von einem Modellprojekt mit Zivildienstleistenden im ökologischen Bereich und entwickelt ein Konzept. "Anfang der 70er-Jahre hörten wir vom Gummersbacher Modell. Dass sich Gert Oetken dahintergeklemmt hat - das war ein ganz großer Schritt für den Verein", erzählt Henning Bunte rückblickend. 1972 startet das Modellprojekt - es wird ein durchschlagender Erfolg. Nach dem Ende des Zivildienstes 2011 greift der Verein auf andere Freiwilligendienste zurück: Bis heute sind die jungen Menschen, die ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) oder einen Bundesfreiwilligendienst absolvieren, eine tragende Säule der Vereinsarbeit. "Sie bilden das Fundament des Vereins", sagt Bunte.

Schleswig-holsteinisches Wattenmeer wird Nationalpark

Ein weiterer Meilenstein in den Bemühungen der Schutzstation Wattenmeer zur Bewahrung des einmaligen Naturraums ist die Erklärung des schleswig-holsteinischen Wattenmeers zum Nationalpark 1985. Doch trotz des erhöhten Schutzes bleiben viele Probleme bestehen - etwa die Vermüllung. "Return to sender" heißt etwa die groß angelegte Aktion gegen britischen Schiffsmüll, die Oetken und seine Mitstreiter 1987 nach London zur Internationalen Nordseeschutzkonferenz führt.

Das Seehundsterben von 1988 rückt das Wattenmeer und die Umweltprobleme erneut in den Fokus der Öffentlichkeit und bewegt viele Menschen dazu, sich aktiv oder passiv zu engagieren. In den folgenden Jahren setzt die Schutzstation Wattenmeer zusammen mit anderen Verbänden einen naturverträglichen Plan zur Muschelfischerei durch.

Großer Einsatz bei Ölkatastrophe durch "Pallas"

Der havarierte Frachter "Pallas" liegt vor Amrum auf Grund. © picture-alliance / dpa Foto: Rolf Rick
Einsatz auch für die Schutzstation Wattenmeer: Am ausgelaufenen Öl des havarierten Frachters "Pallas" verenden 1998 Tausende Seevögel.

Erfolgreiche Kämpfe für ein Kleinwal-Schutzgebiet, gegen Windparks direkt vor den Wattenmeer-Inseln und gegen die Verlegung eines Stromkabels durch das Kerngebiet des Nationalparks halten die Umweltschützer auf Trab. Als 1994 zahllose Beutel mit dem Pestizid ApronPlus angeschwemmt werden, leisten die Mitglieder der Schutzstation schnelle Hilfe - ebenso bei der Ölkatastrophe durch den brennenden Holzfrachter "Pallas" 1998.

Wattenmeer wird 2009 Weltnaturerbe

2009 wird zu einem wichtigen Jahr für die Schutzstation Wattenmeer: Auf Antrag von Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Deutschland und den Niederlanden wird das Wattenmeer zum Weltnaturerbe erklärt. Um finanziell abgesicherter und unabhängiger zu sein, wird zudem die Stiftung Schutzstation Wattenmeer gegründet.

Oetken übergibt Vorsitz an Waller

Gert Oetken ist Gründungsmitglied der Schutzstation Wattenmeer © Schutzstation Wattenmeer
Gert Oetken führt die Schutzstation Wattenmeer über Jahrzehnte. Das Gründungsmitglied des Vereins stirbt 2016.

Außerdem geht 2009 eine Ära zu Ende: Nach 47 Jahren übergibt Gert Oetken den Vereinsvorsitz an Johann Waller. Als Ehrenvorsitzender erhält Oetken im gleichen Jahr den Deutschen Bürgerpreis für sein Lebenswerk, nachdem er bereits 1999 das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten hat. Man könne den Einsatz von Gert Oetken und seiner Frau Ursula, ebenfalls ein überaus aktives Vereinsmitglied, gar nicht hoch genug schätzen, sagt Henning Bunte. "Was die beiden nebenbei gemacht haben, kann man sich gar nicht vorstellen", erinnert sich Bunte, der 30 Jahre lang Schatzmeister des Vereins war. "Gert hat die Schutzstation zu seinem Hauptberuf gemacht. Jede Vorstandssitzung fand in der Wohnung der Oetkens statt; die endeten kaum vor zwei Uhr nachts."

Heute 17 Stationen entlang der Küste

Heute ist die Schutzstation Wattenmeer mit rund 30 festen Mitarbeitern einer der größten und aktivsten Umweltschutzverbände im Weltnaturerbe Wattenmeer. Seit 2010 befindet sich die Geschäftsstelle in Husum - unter einem Dach mit dem WWF und der Nationalparkverwaltung. 17 Stationen zwischen List auf Sylt im Norden und Friedrichskoog in Dithmarschen informieren, bieten Aktionen und sammeln Daten.

Ohne den unermüdlichen Einsatz der ersten Mitglieder wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Henning Bunte beschreibt den Geist der Anfangsjahre so: "Wir waren Freunde, haben auch zusammen gefeiert. Unsere Familien haben uns den Rücken freigehalten und waren mit dabei. Das hat uns zusammengeschweißt."

Weitere Informationen
Luftbild vom Schleswig-Holsteinischen Nationalpark Wattenmeer © picture alliance | Knut Niehus

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Moin! Die Reportage | 03.10.2022 | 07:34 Uhr

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