Als der Müll zum Wertstoff wurde
Unsere Wohlstandsgesellschaft produziert jedes Jahr mehr Müll. Was früher achtlos weggeworfen wurde, gilt heute als Wertstoff. Aus Mülltrennung und -verwertung hat sich eine lukrative Industrie entwickelt. Wie sah dieser Weg aus?
Wir produzieren so viel Müll wie nie. 2019 stieg das Pro-Kopf-Aufkommen an Haushaltsabfällen - Restmüll, Bioabfälle, Wertstoffe, Sperrmüll und sonstige Abfälle wie Batterien und Farben - laut Statistischem Bundesamt auf 457 Kilogramm pro Jahr. Dieser Müll ist nicht mehr nur ein Abfallprodukt - in ihm stecken wertvolle Rohstoffe. Um die Entsorgung und Wiederverwertung dieser Wertstoffe kümmern sich heute diverse Unternehmen.
60er-Jahre: Mehr Konsum - mehr Müll
Doch bis vor wenigen Jahrzehnten spielten Mülltrennung und Recycling kaum einen Rolle. "Das kann weg." Ein Satz, der vor allem mit wachsendem Wohlstand ab den 1960er-Jahren oft zu hören war. Mit dem Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik Deutschland änderte sich das Konsumverhalten der Menschen. Anstatt unverpackter Artikel aus dem Tante-Emma-Laden kaufte man aufwendig verpackte Waren im Supermarkt. Die Produkte wurden verbraucht und benutzt - die Verpackung landete im Müll. Und zunehmend wurde mehr gekauft, als tatsächlich benötigt wurde. Ein weiterer Grund für steigende Müllmengen: Mehr und mehr Haushalte bekamen eine Zentralheizung. Das Verbrennen von Abfällen im Kohleofen fiel somit weg. Die Menschen produzierten mehr Müll als zuvor - und der musste irgendwo bleiben.
Auf dem Land "halfen" die Schweine
Auf dem Land wurden Abfälle bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meist wiederverwertet - und insbesondere Küchenabfälle landeten als Schweinefutter im Stall: "Wenn wir über Müll reden, dann muss ich aus der Zeit meiner Jugend sagen, dass kaum Müll anfiel. Das wurde alles an die Schweine verfüttert. Selbst das Zeitungspapier fand noch wieder eine Verwendung. Es wurde in Stücke geschnitten und für 'hinterlistige' Zwecke verwendet. Für die Toilette, als Klopapier", erinnert sich Heyo Onken aus Westgroßefehn bei Aurich in der NDR Dokumentation "Als der Müll zum Wertstoff wurde". "Mit dem gewissen Wohlstand, der dann aufkam, war es so, dass mehr Material ins Haus kam. Es kam auch der erste Mülleimer, ein Blecheimer, wo alles hinein kam."
Vom Pferdefuhrwerk zum Müllwagen
Dieser Abfall wurde abgeholt - zunächst von Pferdefuhrwerken. Ab den 1960er-Jahren kamen nach und nach motorisierte Fahrzeuge zum Einsatz. Bis heute wird ein Großteil des anfallenden Mülls aus Privathaushalten - wie Restmüll, Biomüll, Altpapier und die Gelben Säcke - in Norddeutschland eingesammelt. Die Technik der Müllfahrzeuge entwickelte sich immer weiter. Heute gibt es verschiedene Fahrzeuge für unterschiedliche Abfallsorten. Trotz mehr Investitionen in Sicherheit und Komfort bleibt die Arbeit bei der Müllabfuhr anstrengend und dem Wetter ausgesetzt.
Abfälle vergiften Grundwasser und Luft
Seit es Menschen gibt, entsteht auch Abfall. Doch wohin damit? Im Mittelalter wurden die Abfälle einfach auf die Straße oder auf den Misthaufen hinter dem Haus gekippt. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, begann um 1900 eine systematische Müllentsorgung in den großen deutschen Städten. Der Abfall wurde entweder auf Deponien gebracht oder verbrannt. Mehr als 65.000 Deponien gab es bis in die 1970er-Jahrehinein in ganz Deutschland.
Die meisten waren wild und ungeplant entstanden, irgendwo am Rande von Ortschaften, in Kiesgruben, Steinbrüchen oder Mooren. Hier türmten sich die Müllberge - vom Hausmüll über den Kühlschrank bis zum Auto. Der gesamte Müll wurde mitsamt der darin enthaltenen Flüssigkeiten, Öle oder Gase gepresst - und darüber neuer Müll aufgetürmt. "Wir hatten im Monat zwischen 40 und 60 Autos. Der Tank war voll, Motoröl war drauf, Getriebeöl, Bremskühlflüssigkeit", berichtet Ernst Hildebrandt, einst Platzwart auf Hannovers Zentraldeponie, über die Müllentsorgung auf den wilden Deponien. Heute noch sichtbare, von Gras bewachsene Müllberge wie der "Monte Müllo" in Hannover entstanden. Es stank - und nicht nur das: Gase traten aus und giftige Stoffe wurden über den Regen ins Erdreich und weiter ins Grundwasser gespült.
1896 erste Müllverbrennungsanlage in Hamburg
Etwas anders lief es in Hamburg, wo ein Teil des Mülls bereits seit 1896 verbrannt wurde. Der ersten Müllverbrennungsanlage (MVA) auf europäischem Festland folgte um 1900 eine Müllverbrennunganlage in München. 20 Jahre darauf nahm die erste MVA in Berlin ihren Betrieb auf. Aus den Schornsteinen stieg dunkler Rauch auf, Ascheregen auf die Umgebung und oft beißender Gestank waren besonders für die Anwohner äußerst unangenehm. Bei der Verbrennung entstanden oft schädliche Substanzen, die über die Schornsteine der Verbrennungsanlagen lange ungefiltert in die Luft gelangten. Experten warnten vor den Folgen für Mensch und Umwelt.
Langsames Umdenken durch die Umweltbewegung
Die Auswirkungen dieses Umgangs mit der Umwelt bereitete immer mehr Menschen Sorge - um ihre Gesundheit und um die Natur. Die in den 60er- und vor allem 70er-Jahren erstarkende Umweltbewegung rückte den Müll als Ursache der Umweltverschmutzung in den Fokus. Die Ölkrise von 1973 und der Bericht des Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" von 1972 gaben deutliche Hinweise auf die Endlichkeit der Ressourcen auf der Erde.
Erste, wenn auch zaghafte Vorschriften zur Müllentsorgung in der Bundesrepublik Deutschland kamen ab 1972 mit dem Abfallbeseitigungsgesetz, das Vorschriften zum Schutz von Grundwasser und Luft beinhaltete. Müll musste von nun an auf zentralen, umzäunten Müllkippen gelagert werden. "Dort wurden die Abfälle allerdings zunächst nicht anders behandelt als auf den wilden Deponien zuvor", erinnert sich der ehemalige Deponie-Platzwart Ernst Hildebrandt. Heute wird der Restmüll überwiegend verbrannt. Aus den einstigen Müllverbrennungsanlagen sind vielerorts wie in Hamburg Kraftwerke geworden, die die entstehende Energie in das städtische Fernwärmenetz speisen.
Mülltrennung: Hannover macht mit Altglas den Anfang
Ende der 70er-Jahre nahm die Mülltrennung in Deutschland ihren Anfang - mit Altglas-Containern. Hannover übernahm eine Vorreiterrolle und stellte 1974 als erste deutsche Stadt Behälter für Altglas auf. Ab 1984 folgten Altpapier-Container. Papier und Glas als wertvolle Rohstoffe konnte man nun aufbereiten und wiederverwenden. Technisch war das bereits möglich, sodass zunächst Altglas und und zehn Jahre später Altpapier die Ära des Recyclings einläuteten.
Durch den wachsenden Wohlstand konnten sich die Menschen in den 70ern und 80ern auch öfter neue Möbel leisten. Die alten Sofas und Schränke landeten auf dem Sperrmüll. Der wurde zwar gesondert abgeholt, aber zunächst noch zusammen mit dem Restmüll deponiert - und vernichtet.
Zahl der Wertstoffhöfe wächst auf über 3.000
Der Trend zur Trennung und Aufbereitung von Abfällen, der mit Glas und Altpapier begann, setzte sich fort. Auf den mehr als 3.000 Wertstoffhöfen in Deutschland können heute 15 oder mehr Sorten Abfall abgegeben werden. Was in den 80er-Jahren mit einem wilden Durcheinander begann, ist heute straff organisiert. Metall, Gartenabfälle, Plastik, Restmüll, Batterien, Textilien, Schadstoffe, Holzreste, Elektroschrott - vieles lässt sich weiter verwerten oder zur Energiegewinnung nutzen, nicht wiederverwertbare Teile werden fachgerecht entsorgt.
Duales System: Mit dem Grünen Punkt in den Gelben Sack
Plastik in unterschiedlichen Farben, Formen und Zusammensetzungen ist überall - erst als Verpackung, dann im Müll. Das sollte sich nach dem Willen der Politik Anfang der 1990er-Jahre ändern. Die Einführung des Grünen Punkts war verbunden mit der Einführung der deutschen Verpackungsordnung 1991. Sie verpflichtete die Unternehmen, ihre Verpackungen zurückzunehmen und bei deren Entsorgung mitzuwirken - es entstand das Duale System, bei dem sich teilnehmende Unternehmen fortan lizensieren lassen konnten. Als erster privatwirtschaftlicher Anbieter kennzeichnete die Duales System Deutschland GmbH Verpackungen mit einem Symbol - dem Grünen Punkt, einem Symbol mit zwei entgegengesetzt ineinander greifenden Pfeilen und der Aufschrift "Der Grüne Punkt". Was so gekennzeichnet ist, sollte beim Verbraucher nun im Gelben Sack landen.
Wie gut das Recycling und die Wiederverwertung der unterschiedlichen Müllsorten funktioniert, hängt auch davon ab, wie konsequent Verbraucherinnen und Verbraucher trennen. Sogenannte Fehlwürfe, wie falsch sortierte Gegenstände genannt werden, behindern und verteuern den Recycling-Prozess, denn sie machen eine aufwendige nachträgliche Sortierung nötig. Insgesamt gelingt die Mülltrennung heute allerdings wesentlich besser als noch zu Beginn. Jedes neue System benötigt etwas Zeit, um angenommen zu werden. Was vielen anfangs kompliziert erscheint, ist wenig später selbstverständlich.
Aus Biomüll wird Kompost und Biogas
Seit einigen Jahren sieht der Gesetzgeber vor, dass auch der Abtransport von Biomüll aus Privathaushalten organisiert wird. Denn in Gemüseresten steckt jede Menge Energie. Die biologisch abbaubaren Abfälle werden meist mittels Gärung für die Biogas-Gewinnung oder als Kompost genutzt. Doch es ginge noch besser: Bis zu 70 Prozent des Biomülls landen immer noch in der Restmülltonne und damit zumeist in der Verbrennung.
Mülltrennung und der Kampf um die Recycling-Quote
Ziel neuer Vorschriften ist es, immer mehr Abfälle zu trennen und zu recyceln. Das gelingt nicht überall gleich gut. Während die Recycling-Quote bei Papier und Bioabfall bei fast 100 Prozent liegt (gemessen an den in Privathaushalten getrennt entsorgten Abfällen, Umweltbundesamt), hat Plastik eine deutlich schlechtere Bilanz. Seit der Einführung des Grünen Punktes sorgt die tatsächliche - niedrige - Recycling-Quote immer wieder für Frust: 2015 wurde noch fast die Hälfte, nämlich 45 Prozent des Verpackungsmülls, verbrannt. 2019 lag die Recycling-Quote für Kunststoff-Verpackungen in Deutschland laut NABU bei gut 55 Prozent (gemessen an der Gesamtmenge der in Deutschland verbrauchten Kunststoff-Verpackungen aus Privathaushalten und Gewerbe). Der Rest wird deponiert, exportiert - oder verbrannt.
Ziel der Zukunft: Weniger Müll produzieren
Heute produziert jede Person im Durchschnitt mehr als ein Kilogramm Müll - pro Tag. Immer neue Gesetze schreiben zwar vor, wie der Müll entsorgt beziehungsweise verwertet werden soll. Umweltverbände und Initiativen fordern die Menschen aber dringend auf, weniger Müll zu produzieren - vor allem weniger Plastikmüll. Ein Weg, den einerseits viele bereits beschreiten. Doch auf der anderen Seite befeuern veränderte Konsumgewohnheiten wie Online-Shopping, Fertiggerichte und To-go-Produkte den weiteren Anstieg von Verpackungsmüll-Mengen. Alleine davon waren es im Jahr 2019 rund 72 Kilogramm pro Kopf in Deutschland - die Tendenz dürfte steigend sein.
Vieles hat sich seit den 1960ern geändert. Die Müllmenge ist rasant gewachsen. Parallel dazu sind aus reinen Wegwerf-Produkten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte Wertstoff-Quellen geworden. Was bleibt ist, dass das Überleben unserer Ökosysteme eng damit verbunden ist, wie die Menschheit das Kapitel ihrer Müll-Geschichte weiter schreibt.